Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Buch vom Ursprung

Ursprünglichkeit und Primitivität

Archaischer Ausdruck

Was geschieht nun, wenn nach erfolgter Entwurzelung des Mannes dem Geiste zu Geistbewusstsein neu in ihm erwacht und zwar im Verstande tiefsten religiösen oder metaphysischen Geistes? Wie tritt dieser dann in Erscheinung? Er äußert sich in archaischer Form. Versuchen wir zunächst bisher als primitiv Beschriebenes entsprechend dem Begriff des Archaismus umzudeuten. Da finden wir, dass dieses nicht gelingt. Inbezug auf das Natürliche hat der Begriff des Archaischen keinen Sinn, weil dieser das Vorhandensein einer Entwicklung von skizzenhaften Anfängen zu differenzierter Endgestalt voraussetzt und Keime und Larven und Embryonen keine Skizzen späterer vollendeter Gestalten sind, sondern bestimmte Lebensformen so verschiedener Art, dass ihr Zusammenhang nur durch kumulierte Beobachtung festgestellt und vom Geist überhaupt nicht verstanden werden kann. Und gleichsinnig ist das Ur-Natürliche nicht archaisch, es ist natürlich schlechthin. Echt Archaisches gibt es nur auf dem Gebiet des Geistentsprossenen und darum ist für den Menschen das Prototyp des Archaischen die archaische Kunst. Was kennzeichnet diese nun? Um zunächst durch das Einwirken unterschiedlichen vertrauten Wortlauts Verständnis vorzubereiten: nicht Primitivität, sondern Primordialität. Primordialität bedeutet nicht Unreife im Sinn von Vorläufigkeit, sondern Ursprungsnähe. Diese nun äußert sich in der Beschränkung der Ausgestaltung eines Sinnes auf dessen geistige Urform. Vom Wege geistiger Schöpfung her leuchtet am leichtesten ein, um was es sich hier handelt. Die Urform einer Philosophie fällt dem, welchem sie echter Ausdruck ist, meist schon in frühen Jahren ein. Doch nicht als von Grenze zu Grenze durch entsprechende Übergänge zusammengehaltene differenzierte Gestalt, sondern ähnlich wie eine japanische Tuschezeichnung entsteht: ein Pinseldruck hier, weit ab davon eine Linie, ganz anderswo wiederum Pinseldrucke verschiedener Art und Stärke und Linien verschiedener Ausgesprochenheit, alles scheinbar zusammenhanglos — und doch wird das Ganze von einer unsichtbaren inneren Einheit gehalten, die nach einigen weiteren scheinbar willkürlich hingeworfenen Strichen und Punkten plötzlich sichtbar und in ihrer Art überzeugend dasteht.

So sind bei der Urform einer Philosophie zuerst Einzeleinfälle, Einzelbilder und -begriffe da, es überspannen Bogen ohne wahrnehmbare Tragpfeiler weiteste Räume, es fehlt die logische Vermittelung, alle Begründung, die verschiedenen Thesen widersprechen sich, der Kontrapunkt ist da vor aller Harmonie. Erst viel später schließt sich das präformierte Ganze zu ausgestalteter zusammenhängender Einheit zusammen. Darum ist der Wert des Skizzen- und Keimhaften oft erst vom Werk der höchsten Reife her nicht nur zu würdigen, sondern überhaupt einzusehen. Dann allerdings erscheint jener leicht größer, als der alles Vollendeten, weil er sich im Ursprünglichen am reinsten äußert. So haben überreife Zeiten einen ausgesprochenen Sinn für archaische Kunst, bewundern die tiefsinnigsten Kenner hellenischer Philosophie die Vorsokratiker heute mehr als Plato. Darum haben sich die größten Meister der Konzentration auch später Zeiten oft eines Stils befleißigt, welcher das Keimhafte als solches festhält1. Man gedenke des indischen Sutra-Stils, desjenigen Lao Tses und der Meisterwerke chinesischer Malerei. Leuchtet nun ein später erst auszugestaltender Sinn in einem Geist zuerst in archaischer Fassung auf, so muss er anderen, die in ähnlicher physischer Lage, nur von sich aus nicht ausdrucksfähig sind, in der gleichen Form ebenfalls am leichtesten einleuchten. Daher die schnelle und ungeheure historische Wirkung gerade solcher Geistesgestalten, die dem Differenzierten besonders schwer verständlich scheinen, weil alle Rücksicht auf das Vermittelungsbedürfnis des reifen Geistes fehlt. Alle früheste Religion, Philosophie und Kunst, ja alle primordiale Schrift ist insofern eigentlich esoterisch. Aber gerade dieses Esoterische leuchtet eben entsprechender Bewusstseinslage am mächtigsten und schnellsten ein. Hier ist nun das Weitere zu bedenken, dass erfahrungsgemäß die tiefsten Wahrheiten, in einfacher und bildhafter Form ausgesprochen, von der größten Zahl von Menschen verstanden werden; es sind nicht die niederen, es sind gerade die höchsten Religionen, zu denen sich schlichte Seelen am leichtesten bekehren. Woran liegt das? Es liegt daran, dass gerade die tiefsten Wahrheiten die tiefste Wirklichkeit in jedem Einzelnen spiegeln, welcher er sich durch das rechte Wort hindurch als seines Eigensten bewusst wird. Hier handelt es sich nicht um Verstiegenes, sondern um Grundlegendes: je weniger Zwischenreichs­gestaltungen den Ur-Sinn überschichten, desto heller leuchtet dieser auf und ein. Aus dem gleichen Grunde sind einfache Seelen für das Tiefste empfänglicher, als Intellektuelle. So erklärt es sich, dass der Einbruch des Geistes auf Erden überall in dem Differenzierten schwerverständlicher Gestalt erfolgt ist. Diese war immer implizierenden, nicht explizierenden Charakters. Sie war ein vereinigendes Symbol, wie das Kreuz, oder eine phantastische Gestalt, gleich derjenigen indischer oder mexikanischer Götter, oder gar eine abstrakte mathematische Figur oder eine Zahl — die aber denen, welchen sie einleuchtete, ganz anderes bedeutete als uns; man gedenke der Pythagoreer.

Was uranfänglich war, erlebt nun bei jedem Neuanfang eine Wiederholung oder Wiedergeburt. Leuchtet nach langer geistiger Nacht das Licht des Geistes Menschen wieder auf, dann erweist sich archaischer Ausdruck als der einleuchtendste. Man gedenke nur der schlichten Gleichnissprache der Evangelien im Vergleich zur spätantiken Philosophie, der starren und ungeschlachten Bildwerke, welche das Frühchristentum als sich entsprechend herausstellte und verehrte, im Vergleich mit der damals noch in keiner Weise entarteten antiken Kunst. Fällt einem bei den Worten Jesu das Absehen von aller Intellektualität auf, so bei der frühchristlichen Kunst das Absehen von aller Schönheitsforderung. Bei letiterer liegt der Vergleich zu den von Kindern selbst verfertigten rudimentären Puppen nah, welche sie viel mehr lieben und die ihnen vor allem viel mehr bedeuten als alle gekaufte komplizierte Herrlichkeit. Jene bedeuten ihnen mehr, weil ihnen in rudimentärer Gestalt der Sinn dessen, was die Puppe soll, am unmittelbarsten einleuchtet. Ein anderes Beispiel des gleichen Grundverhältnisses bieten die strengen und einfachen, dem Differenzierten leicht simplistisch vorkommenden Formen, in denen sich politisches Verjüngtsein in seinem frühesten Stadium äußert. Und nun können wir weiter sagen: gibt es geistige Wirklichkeit, dann kann es garnicht anders sein. Gibt es sie im Sinn substantieller und konkreter Realität, dann kommt es in erster Linie nicht auf die Angemessenheit des Ausdrucks vom Standpunkt des Verstandes oder der Vernunft oder der Meisterschaftsforderung an, sondern auf das unmittelbare Einleuchten. Das Einleuchtende des Archaischen als solchen ist insofern der beste Beweis für das Dasein geistiger Wirklichkeit. Im Archaischen wird sich sowohl der sich des Geistes zum ersten Mal bewusst werdende, als der dem Geist zurückgewonnene Mensch seiner eigenen Arché, seines eigenen geistigen Ursprungs am leichtesten bewusst. Was soll alle komplizierte Theologie, alle wissenschaftliche Kritik, alles Klügeln, wo der Ursprung in Frage steht, wo sich der Mensch nach diesem zurücksehnt und nun zu seinem Staunen entdeckt, dass er sich seiner in undifferenzierter, ja vom Verstandesstandpunkt indiskutabler Form ohne weiteres bewusst wird? Aber ganz offenbar haben in einer sehr künstlich gewordenen Welt, in Jesu Worten, die geistlich Armen gegenüber den Reichen die Vorzugstellung. Und genau entsprechend den Seligpreisungen Jesu lehrt der Höchstausdruck ostasiatischer Religiosität, die Theorie und Praxis des Zen ihre Jünger, alle zwischenreichlichen Überbauten abzutragen, alle intellektualistischen und moralistischen Schleier zu zerreißen, um unmittelbar des Ursprungs bewusst zu werden; der sich auch im Falle des Zen im Einfachsten und Alltäglichsten offenbart.

Die weiße Menschheit erlebt in dieser Wende ähnliches, wie zu Beginn der christlichen Ära. Immer mehr Menschen wird offenbar: keine Weiterentwicklung auf der bisherigen Bahn führt dem Ursprung näher; im Gegenteil: mit jedem Schritte voran entfernt sich der Mensch weiter von ihm, immer mehr entfremdet er sich ihm. Daher die neue Werbekraft urtümlicher Religiosität. Hier wäre an erster Stelle das erstaunlich weit verbreitete Verständnis für die abgrundtiefen Lehren des Zen zu nennen, an zweiter der neuerwachende Sinn für das Urchristentum. Aber auch auf Grund des Korrelationsgesetzes von Sinn und Ausdruck geringer einzuschätzende Formen neuerwachender Ursprünglichkeit gehören in diesen Zusammenhang hinein. Die eigentümliche neue amerikanische Religiosität, die in kontrapunktischem Gegensatz zur extrem erdhaften Einstellung sonstigen amerikanischen Lebens nur den Geist als wirklich bejaht und welche die selbstverständliche Existenz des Ungeistigen, zu welchem sie auch das Übel und das Böse rechnet, leugnet, ist nicht nur primordial, sie ist primitiv. Die Grundthese dieser Religion, dass wer Gottes inne wird, unvermeidlicherweise auch reich, gesund und glücklich werden muss, wird durch die furchtbaren Ereignisse des zweiten Weltkrieges, in welchen sich auch Amerika hat hineinzerren lassen, früher oder später auch in Amerikaneraugen ad absurdum geführt dastehen. Trotzdem hat dieses Primitive Unzähligen auch unter Europäern ähnlicher Seelenstruktur ihren geistigen Ursprung zum ersten Male oder neu bewusst gemacht. Und darauf allein kommt es an. Es ist sehr gleichgültig, wie weit diese oder jene metaphysische Behauptung der Kritik standhält, verglichen mit der Tatsache, dass einem Menschen unter Umständen durch intellektuell Unhaltbares hindurch die eigene geistige Wirklichkeit bewusst wird. Nur auf diesen Vorgang realen Innewerdens des Ursprungs kommt es an. Hier liegt der einzige Sinn von religiösen Bekenntnissen überhaupt. An diesem Punkte erweist sich andererseits deren Notwendigkeit. Denn ist der Mensch nichts als Zwischenreichsbewohner, verliert er den Zusammenhang mit seinem geistigen Ursprung, dann — genau so, wie wenn er seine Verwurzelung in der Natur verliert — steht er wurzellos da und muss verdorrend und verödend verenden.

Nachdem wir im ersten Kapitel die Welt der Künstlichkeit geschildert hatten, innerhalb welcher sich der reife Abendländer heutiger Wachheitsstufe normalerweise betätigt; nachdem wir sodann das äußerst komplizierte Zwischenreich untersucht hatten, innerhalb dessen sich das Leben aller nicht tiefen Menschen erschöpft, machten wir einen ersten Vorstoß dem Ursprünglichen zu. Zu dem Zwecke begaben wir uns vom Geschäfts- und Wohnzimmer des 20. Jahrhunderts in die Kinderstube aller Räume und Zeiten. Und damit entdeckten wir eine seltsame Korrespondenz: die zwischen dem Primitiven und dem Archaischen. Es handelt sich, wohlgemerkt, um eine Entsprechung, nicht um Wesensgleichheit. Die Erkenntnis des Daseins dieser Entsprechung weckt nun die erste Annäherung an echte Einsicht in die wahre Beziehung zwischen Natur und Geist. Den physischen Ursprung verkörpert der selber undifferenzierte, aber aller Differenzierung fähige Keim, ein reiner Anfang, ein nichts-als-Anfang. Der geistige Ursprung ist eine Arché im griechischen Verstand, welcher Begriff unter uns noch als Bestandteil der Worte Archetypus und Erzengel fortlebt. Er ist nicht wesentlich der Ausgangspunkt von Differenziertem, sondern Integral, einer anderen Dimension zugehörig als das sich Entfaltende, in seinem zeitlosen Gelten ein hierarchisch Höherstehendes, in der Zeit betrachtet der Zusammenhang von Eingang in das Leben und Ausgang aus demselben in die Ewigkeit. Projizieren wir nun dieses Vieldimensionale auf eine Fläche, dann erlaubt uns der Augenschein zu sagen: das Jüngste ist hier das Allerälteste, der Anfang der Ursprung, der Ursprung aber zugleich das Ende, die Explikation Vorstufe sowohl als letzte Folge der Implikation. Die Dimension des reinen Geistes ist die der reinen Intensität. Aber wie sollen wir Menschen Intensität anders verstehen, denn als Vorbedingung und Ursache extensiver Wirkung? Hier halten wir vor Ur-Paradoxien. Deren sinngerechte Auffassung ermöglicht von allen Vorstellungen am besten die altchinesische, gemäß welcher alles Weltgeschehen, das geistige sowohl als das materielle, auf die zwei Grundprinzipien des Schöpferischen und des Empfangenden zurückzuführen ist, welche Prinzipien aber nicht als in sich abgeschlossene Einheiten ein für alle Male feststehen, sondern beliebige Kombinationen eingehen, ja sich eins ins andere verwandeln können. Unter diesen Umständen stellt Primitivität freilich den Ur-Ausdruck alles Ursprünglichen dar, sofern es aus dem Ur-Weiblichen geboren ist. Handelt es sich hingegen um Ursprung im Verstande des Ur-Schöpferischen, dann ist Ur-Ausdruck des Ursprünglichen das Keimhafte, und somit, wo es sich um geistigen Ursprung handelt, der keimhafte Geist, der Logos spermatikós. Betrachten wir von hier aus alle Geschichte, dann wird uns offenbar, dass der reine Geist in die Natur nur zeugen kann. Darum hat es so wenige geistige Uranfänge gegeben, darum stellten diese jedesmal unvermittelte selbständige Akte dar. Darum waren alle großen Urheber Anreger, Beweger und Zielseher, nicht Erfüller. Die Entfaltung erfolgt vom Ur-Empfangenden her, und geboren wird das Geisteskind allemal ins Zwischenreich hinein. Zeugung nun gelingt auf allen Ebenen nur dann, wenn die Natur empfängnisbereit nach dem Befruchter ruft. Darum kann der mächtigste geistige Impuls nur wirken, wenn er zur rechten Stunde einsetzt. Aus den gleichen Umständen aber folgt etwas wunderbar Tröstliches. Gerade die dunkelsten Perioden der Geschichte sind die erleuchtbarsten. Nur wenn die Urgründe des Erd-Innern sich auftun, nur wenn die Lava die starre Kruste einschmilzt; nur wenn die Gebäude der Zwischenreiche und Künstlichkeiten, erschüttert, zerbersten, zerfallen und zerstäuben, kann die Saat des Geistes tief eindringen in die Materie. Dann vermählt sich die ewige Arché primitiver Jugend. Dann beginnt neues geistiges Leben aus dem Ursprung, unbeirrt und unbeirrbar, ganz von vorn, so wie jeder Mensch sein Leben ganz von vorn anfängt. Insofern sind die furchtbarsten Zeiten die gesegnetsten.

1 Inwiefern alle große Philosophie und Religion wesentlich keimhaft ist, steht auf S. 74 ff. der Betrachtungen der Stille ausgeführt.
Hermann Keyserling
Das Buch vom Ursprung · 1944
Ursprünglichkeit und Primitivität
© 1998- Schule des Rades
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