Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Buch vom Ursprung

Gleichgültigkeit und Liebe

Gottesfurcht

Das Geschilderte erklärt, warum Geistbewusstsein im tiefsten Verstande nicht auf der geraden Linie der Höherentwicklung des Ichs im Menschen zustandegekommen ist, sondern auf dem Umwege einer Regression in die emotionale Ordnung. (Ich sage Regression, weil diese bei vielen Tieren, z. B. Affen, insonderheit Nasenaffen, sogar einigen Vögeln so hoch entwickelt ist, dass solche an seelischem Schmerze leichter sterben als Menschen. Was in diesem Zusammenhang den Unterschied zwischen dem seelisch begabten Tiere und dem Menschen macht, ist des letzteren Fähigkeit, sich von seinen Gefühlen zu distanzieren, was dem Tier unmöglich ist.) Dass dieser Umweg erforderlich scheint, liegt daran, dass die emotionale Ordnung als solche zum Ursprünglichen gehört und nicht zum Zwischenreich. Der kürzeste Weg von Ursprünglichen der Natur zum Ursprünglichen des Geistes führt schon deshalb von der emotionalen Ordnung her, weil das Gefühl unmittelbar ist, weil es sich in seinem Dasein erschöpft, nicht in Herausstellungen lebt; Gefühle sind unter allen Umständen ein Ursprüngliches, auch wo sie unauflöslich an Zwischenreichs- oder Künstlichkeitsvorstellungen gebunden scheinen, denn als rein innerliche Wirklichkeiten können sie auf beliebiges Äußerliches projiziert werden; Liebe zur Scholle, zur Erde ist, wenn man nur das Vorurteil des geistigen Ursprungs des Erdhaften fallen lässt, ein gegenständlicher Begriff, sogar, so absurd dies klinge, Liebe zur Sache. Doch es hat einen noch tieferen Grund, wenn die Begeistung des Menschen nicht vom Erkenntnis- sondern vom Gefühlsvermögen her ernstlich begonnen hat. Kein Mensch versteht unter Geist ursprünglich ein nur-Individuelles und nur-Subjektives. Das Urbild alles Geistes ist für den Menschen Gott, welcher das Weltall objektiv zusammenhält. Vom abgeschnürten Ich her gibt es keinen direkten Zugang zu Ihm, denn jeder Zusammenhang, welchen das Ich schafft, bezieht sich auf dieses als oberste Voraussetzung zurück. Als Glied der emotionalen Ordnung nun erlebt der Mensch unmittelbar seine Bezogenheit auf andere; dort existiert er nur auf andere Menschen hin und von diesen her. Hier ist die Ich-Du-Beziehung, obschon noch nicht in ihrem geistigen Ausdruck, das Primäre. Hier steht keine Welt der Gegenstände einem einsamen Ich gegenüber, allem anderen geht die reale Beziehung zwischen dem Ich und gleichberechtigten Dus voran; das Ganze — so eng es sei — ist erlebnismäßig vor den Teilen da. Bildet sich Geist nun diesem vorherbestehenden Zusammenhange ein, dann wird jener ursprünglich und unmittelbar als überindividuell erlebt; wobei das Ich das bloße Element darstellt, welches es tatsächlich ist. Und so kann der Geist sich aus dem Gefängnisse befreien, in welchem er sich zu Anfang fing.

Von hier aus können wir denn dem Problem jener höchsten und idealsten Liebe nahetreten, welche der Mensch vorstellen kann, jener Liebe, welche jeder Geistteilhaftige Mensch unwillkürlich meint, wenn er von Liebe redet. Und wir wollen uns ohne Übergang dem Höchstausdruck ihrer zuwenden, weil wir uns das Spezifische der Liebe überhaupt auf diesem Wege am leichtesten verdeutlichen können. Geht man vom Denken und nicht vom Erleben aus, dann ist die Liebe am leichtesten von der Vorstellung her zu verstehen, dass Gott die Liebe sei. Gemäß Dostojewsky, der aber hier nur in besonderer Abwandlung die Lehre der griechisch-orthodoxen Kirche vertritt, gibt es wahre Liebe unter Menschen dort allein, wo diese teilhaben an Gottes Liebe, und dies zwar so, dass das Geliebt-Werden von Gott dem Selbstlieben vorangeht, so dass die Liebe des Menschen eine Reaktion im Sinne einer Antwort auf einen Anruf bedeutet. Als Antwort wird nun auch die niederste Liebe geboren, denn sie entsteht aus Angezogensein; aber im Höchstfall antwortet ein ganz bestimmtes geisthaftes Ich einem ganz bestimmten geisthaften Du. Darauf nun kommt es an. Wer in der Liebe und durch die Liebe mit seinem Ursprung Kontakt findet, der erlebt diesen als ein Überindividuelles. In den Worten Emil Brunners, der über diese Zusammenhänge Tieferes gesagt hat, als die meisten mir bekannten Theologen:

Gott hat den Menschen so geschaffen, dass der Einzelne immer nur durch den Anderen, das Ich nur durch das Du Ich werden kann. Der Mann kann nur durch das Weib wirklich Mann werden, das Kind gibt dem Vater die Väterlichkeit. Im Füreinander entfalten sich erst die Werte der individuellen Verschiedenheiten, so wie die eigenartige Beschaffenheit der einzigen Glieder bestimmt ist durch ihre Funktion für den Gesamt­organismus. Als ein Austausch im Geben und Nehmen, als ein Geben im Nehmen und ein Nehmen im Geben ist das menschliche Leben gemeint; so vollzieht es sich, wo es aus dem Ursprung gelebt wird, so vollzieht es sich darum in der Gemeinde der Gläubigen. Das ist die communio sanctorum, die zugleich eine participatio omnium bonorum ist. Erst in solcher Gemeinschaft kann sich die wahre Selbständigkeit entfalten.

Bei aller wahren Liebe nun wird das unerreichbar Höchste als Ursprung sowohl wie als Norm unmittelbar erlebt; kein geringeres leuchtet Jüngling wie Jungfrau, Guten wie Bösen so selbstverständlich ein als höchster Wert. Darum wird eigenes wie fremdes weniger-als-göttlich-Lieben unmittelbar als Versagen empfunden.

Geht man nun von dieser höchsten Liebe aus, dann erscheint dieselbe Gleichgültigkeit, welche die Urform alles Nebeneinander-Seins in der Natur ist, als Böses schlechthin, und ausschließliches Lieben eines Personenkreises bei Kälte anderen gegenüber als sündhaft. Hier widerspricht also die Natur, wie sie auf der Ebene der emotionalen Ordnung ursprünglich ist, der Geistforderung, welche ebenso ursprünglich in der Seele des Menschen lebt. Und hiermit ist die Wirklichkeit einer Existenz-Ebene erwiesen, welche ihren Grund in der Natur weder hat, noch von ihr her zu verstehen ist. Hierüber besteht kein Zweifel: es gibt für den Menschen nichts Wirklicheres als die Stimme seines tiefsten Inneren, so sehr er sie durch psychische Gebilde anderen Ursprungs zu betäuben trachte. Mit der Liebe, so wie jeder Begeistete das Wort ursprünglich versteht, bildet sich etwas in das Naturleben ein, was ursprünglich nicht in ihr liegt. Eben so wird das Aufleuchten echter Liebe seitens jedes von ihr Erleuchteten empfunden. Dieses Aufleuchten aber verändert den ganzen geistig-seelischen Gesichtskreis. Moralische Werte werden gegenüber den Naturtatsachen zu Dominanten. Das Gute bedeutet mehr als das Nützliche, Geben erscheint seliger als Nehmen, Selbst-Aufopferung beglückt. Der Mensch fühlt sich überhaupt nicht mehr isoliert, sondern mit allem vereint: nicht jedoch im Verstande der Naturgebundenheit, sondern in dem freiwillig übernommener Verantwortung, des Wohltun- und Schenken-Wollens. Mit der für die emotionale Ordnung wie die Gana charakteristischen Ausschließlichkeit ist es vorbei. Es erwacht die Phantasie des Herzens und damit die Fähigkeit der Sym-Pathie mit denen, die einen direkt nichts angehen. Nächstenliebe wird zur Fernsten-, ja zur Feindesliebe. Damit nun aber dringen auch andere Kräfte des reinen Geistes in die Seele ein und werden bestimmend in ihr. Das vormals Blinde wird sehend, das vormals Dunkle hell und übersichtlich, das vormals Zusammenhanglose erscheint verbunden. Jenes Verstehen überhaupt, welches zwischen emotional aufeinander Bezogenen die Gleichung schafft, wird zum geistigen Verstehen der Einzigkeit und deren Wert. Daher der Satz, man verstehe nur was man liebt: wenn natürliche Liebe blind macht, so macht Geistteilhaftige intuitiv. Wenn der Geist Zusammenhänge belichtet und gar zum Selbstleuchten gebracht hat, verwandelt sich emotionales Bezogensein zu der Art von Polarisation, die über Einsicht und Innewerden zu selbstverständlich-ursprünglichem Wissen führt.

Damit führt die Allbezogenheit geistiger Liebe zur Ganzheitsschau. Nun verwandelt sich dank dem Einbruch des Geistes der Ur-Zusammenhang der Welt zu einem qualitativ anderen — zu eben der Hingeordnetheit auf den Geist, welchen die meisten Systeme der Erkenntnis als vorherbestehend und der Natur zu Grunde liegend missverstanden haben. An diesem Punkte wird, scheint mir, vollkommen deutlich, warum Religiosität als re-ligio, als Rückbeziehung auf den allerletzt-geistigen Ursprung, sich als erstes nicht in rationaler, sondern in emotionaler Bezogenheit äußert. In der Welt der Gefühle und nicht in der des Denkens oder Handelns erscheint der Sinn für geistigen Zusammenhang vorgebildet. Gleichzeitig wird deutlich, dass, da die Welt der Gefühle eine des Ambivalenten ist, der früheste Ausdruck emotionaler Bezogenheit ein, äußerlich beurteilt, negativ qualifizierter sein kann. Man denke an das tremendum als Korrelat des numinosum und fascinosum Rudolf Ottos. Die Furcht kann so gut wie die Liebe der Ur-Ausdruck religiöser Beziehung sein. Der Schöpfer braucht durchaus nicht gut vorgestellt zu werden: die meisten frühesten Götter waren, im Gegenteil, schrecklich. Aber aus der Furcht erwuchs die Ehrfurcht und aus dieser die Liebe. Solches Umschlagen ins Gegenteil, solche kontrapunktische Entwicklung gehört zur Norm der emotionalen Ordnung. Hass kann sich ohne weiteres in Liebe umwandeln und umgekehrt, nicht jedoch in Gleichgültigkeit. Auch schreckliche aber große Menschen, die zunächst nur gefürchtet wurden, sind zuletzt ehrlich geliebt worden. Man denke nur an Iwan den Schrecklichen und Peter den Großen. Furcht setzt eben auf alle Fälle Zusammenhangsgefühl, und wird dieses vom Geiste erleuchtet, dann erlebt es eine Transfiguration. Eben darum fordert unsere religiöse Überlieferung in erster Linie Gottesfurcht und dann erst Liebe zu Gott. Sogar im 20. Jahrhundert leuchtet eine bestimmte protestantische Theologie, welche den ganzen Nachdruck auf Gottes Zorn und Gericht legt, Zehntausenden mehr als jede andere ein.

Hermann Keyserling
Das Buch vom Ursprung · 1944
Gleichgültigkeit und Liebe
© 1998- Schule des Rades
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