Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Buch vom Ursprung

Gleichgültigkeit und Liebe

Geträumt-Werden

Hiermit wären wir beim für die besondere Bedeutsamkeit der Liebe letztentscheidenden Punkte angelangt: In der Liebe erleben beide Ursprünglichkeiten, an welchen der Mensch teil hat, eine Vereinigung: die von der Erde und die vom Geiste her. In ihr erleben darum alle Zwischenreichs­gestaltungen und alle Künstlichkeiten ihre Aufhebung. Das Wunder der Zeugung und Geburt aus dem Fleisch und damit aus der Erde und das Wunder der Zeugung und Geburt aus dem Geiste spiegeln einander. Ja sie weisen auf einen gemeinsamen Urgrund zurück, zu dessen Annahme uns schon unsere Betrachtungen über Ursprünglichkeit und Primitivität hinführten — den wir aber jetzt ebenso wenig wie damals als existent erweisen können. Daher die Sexualsymbolik, welcher sich alle primitive Religiosität bedient, die sich bildhaft äußert. Daher in späteren Zuständen das Überzeugende aller Gleichnisse aus dem Familienleben. Geistliche Vaterschaft, Geisteskindschaft, Heimkehr in den Schoß der Kirche usf. sind Bilder, die dem ursprünglichen Tatbestand genau entsprechen, obgleich sie niemals auf Gleichheit des Ursprungs hinweisen; der Geist vererbt sich überhaupt nicht durch Blut, sondern nur durch Überlieferung. Daher die tiefe Verwandtschaft zwischen Göttlicher Liebe und Mutterliebe. Liebe allein unter allen normalerweise dem Erdgeschehen eingebildeten psychischen Kräften stammt direkt aus dem Ursprung. Es ist tief symbolisch, dass der, welcher liebt und geliebt wird, selbstverständlich alle Hüllen fallen lässt, körperlich wie seelisch und geistig, dass er selbstverständlich seinem Partner gegenüber aus einem Jenseits des Zwischenreichs und einem Jenseits aller Künstlichkeit heraus lebt, dass er alles hierher Gehörige beim Anderen durchschaut und in sich selber gern durchschauen lässt. Als körperlich Liebender lebt der Mensch aus dem irdischen Ursprung des Lebens heraus und setzt damit das Wunder der Weltschöpfung fort. Geistige Liebe stammt unmittelbar aus dem geistigen Ursprung. Aus ihm heraus wirkt sie Wunder. Sie erleuchtet, erhebt, beschwingt, macht schöpferisch, heiligt, transfiguriert, schafft geistig-seelischen Zusammenhang dort, wo von Natur aus keiner besteht. Und in noch so geringem Maße und Grade kann jeder Mensch, wer er auch sei, an diesem Wunder teilhaben. Darum führt der schnellste und übersichtlichste Weg des Menschen zu seinem Ursprung über die Liebe.

Von hier aus ist zu verstehen, wieso hohe Religionen und tiefe Philosophien haben lehren können, dass Gott die Liebe und dass sie der Ursprung der Schöpfung sei, trotzdem die Welt, in welcher alle Lebewesen existieren, seitdem es solche gibt, wahrhaftig nicht danach aussieht. Hält man sich an die Naturtatsachen, dann klingt von allen christlichen Lehren, im Gegenteil, diejenige am wahrscheinlichsten, gemäß welcher der Teufel der Fürst dieser Welt sei. Aber wer vom Ursprung redet, meint, was er auch sage, in Wahrheit nie Manifestiertes oder auch nur Manifestierbares. Alle Religionen legen der Gottheit unvorstellbare und kontradiktorische Attribute bei, und von der Weltvernunft als Urgrund der Schöpfung hat kein tiefer Geist, welcher an sie glaubte, je behauptet, dass sie in der Erscheinung zu erweisen oder dem Verstande in ihrem Wirken übersehbar sei. Gottes Wege gelten als wunderbar. Eine der tiefsten christlichen Theologien lehrt überdies, dass es zum Wesen Gottes gehört, auf ewig unerkennbar zu sein. Dem Ursprünglichen aber entspricht auf der Ebene der Erscheinung überhaupt nicht der Weg, sondern das Ziel. Alle tiefe Religion lässt ihre Gottheit so oder anders sagen:

ich bin das Α und das Ω, der Anfang und das Ende;

man gedenke der Schlussseiten von Ursprünglichkeit und Primitivität. Darum ist alle tiefe Religion, auch wo sie kein derartiges Dogma verkündet, eschatologisch. Daraus ergibt sich für den Weg vom Anfang zum Ende das Gebot, das Himmelreich allen Widerständen der Materie zum Trotz auf Erden zu verwirklichen. Hier nun manifestiert die Liebe eine Wundereigenschaft mehr: der Weg der Liebe ist auch in diesem historischen Verstand der gangbarste. Gewalt fordert Gewalt heraus, Druck erzeugt Gegendruck, Einsicht überzeugt nur Einsichtsfähige, Glaube überträgt sich außer in der oberflächlichen Form der Ansteckung nur auf einen beschränkten Kreis.

Liebe hingegen fordert überhaupt keine Widerstände heraus, denn ihrem Wesen nach ist sie unfähig zu Gewaltforderung und -Ausübung irgendwelcher Art; der Liebe ist das freie Wollen letzte Instanz. Darum wirbt sie wohl, sie zwingt nie. Ihr Wesen ist und fordert Freiheit. Darum leuchtet ihr Wert jedermann ein, tut es jedermann wohl, sie zu spüren, schafft sie selbstverständlich Eintracht und Frieden. Der echte Heilige, welcher nichts für sich will, weckt spontane Verehrung. Hat Liebe auf Erden bisher so entsetzlich wenig erreicht, so liegt das nicht an der Liebe, sondern daran, dass es vom Uranfang an bis heute über alle Begriffe wenig große und echte Liebende gegeben hat, welche ihr Wesen und ihre Gefühle in Vollmacht und machtvollkommen ausstrahlten. Das Normale beim Menschen ist heute noch jene Herzenshärtigkeit, welche Jesus brandmarkte, und gar die Phantasie des Herzens, die höchste aller Phantasien, gehört heute noch, ja heute mehr denn je, zu den seltensten aller Seltenheiten. Was seit Jesu Tagen vielleicht ein wenig zugenommen hat, ist die objektiv nachweisbare Güte. Doch den wahren Charakter des Guten durchschaute Plato tiefer als alle christlichen Philosophen, da er Das Gute vom Nützlichen nur undeutlich unterschied. Güte kann der rationalisierbare Aspekt echter Liebe sein, aber sie kann sehr wohl auch ohne diese bestehen, als Kreuzungsprodukt und Zwittergebilde von Wohlbefinden, Wohlwollen, Zusammengehörigkeitsgefühl, Vater- und Mutterinstinkt, Freude an bewiesener Überlegenheit und an angenehmen Eindrücken überhaupt, von Mitleid, Gerechtigkeit, Billigkeit, Zweckmäßigkeits- und Nützlichkeitserwägungen. Darum fühlt sich beinahe jeder etwas unbehaglich, so oft er eines anderen Güte rühmen hört. Aber da das Ideal der Liebe nun einmal in jedermanns Herzen lebt, so bedeutet die Unzulänglichkeit aller bisherigen geschichtlichen Erscheinungen letztlich wenig. Und völlig unabhängig ist die Wahrheit dessen, was wir über die Liebe aussagten, von irgendeinem religiösen oder metaphysischen Dogma. Nichts Haltbares spricht dafür, dass die Liebe der manifestierten Welt unmittelbar zugrunde liege und sie zusammenhalte. Will man durchaus das, was mit Gewissheit nur ein Grenzbegriff ist, hypostasieren, dann ist die wahrscheinlichste aller Theorien die Hegelsche, dass Gott wesentlich Resultat sei.

Von den Feststellungen vorliegenden Kapitels her ist — der besinnliche Leser wird schon von selber darauf gekommen sein — der Weg frei zu einer dogmenfreien Auffassung des Sinns des Bösen. Doch ihn wollen wir erst im übernächsten Kapitel betreten. Zum Abschlusse dieses nur die folgenden kurzen Sonderbetrachtungen. Zum ersten. Wer die Liebe als kosmische Macht religiös verehrt, kann sich in zwei entgegengesetzten Richtungen festlegen. Erstens dem Fleische zu: überall auf Erden gab es in entsprechenden Zuständen orgiastische Religion. Solche konnte sich aber bei wachsender Aufhellung des Bewusstseins nirgends halten, außer als Ausnahmeerscheinung in der Art der Ausgelassenheit unseres Karnevals; so blieb von ihr bald nur die Bejahung zeitweiliger Ekstase des Fleisches übrig. Dann hat es religiöse Verehrung der Liebe als kosmischer Macht auch im Sinn einer Apotheose der emotionalen Ordnung gegeben: hier wurzelt der Ahnenkult, wie ihn unter modernen Völkern vor allem noch das japanische kennt. Die häufigste einseitige Festlegung ist aber überall auf Erden dem abgelösten Geiste zu erfolgt. Daher das Paradoxon, dass gerade die Religionen, die in der Liebe den Grundwert sehen, Enthaltsamkeit und Entsagen am Höchsten preisen und den Weltverleugner über den Weltverbesserer stellen. Und in der Tat — gerade die Religionen der Liebe mussten dies mehr tun als alle, welchen Wahrheit der Grundwert ist, weil Erkenntnis an aller Erfahrung, besonders auch an derjenigen des Bösen und Niedrigen wächst, während die Liebe dank der elementaren Naturgewalt, welche sie auch verkörpert, und welche besonders starke Verstricktheit in die Materie ermöglicht und bedingt, gar leicht ihren geistigen Charakter einbüßt. Man denke nur daran, wie viele geistig angeregte Männer und auch Frauen, von denen, solange sie im Stande der Sehnsucht standen, das Höchste zu erwarten schien, bei erreichtem Dauerglücke alle Geistigkeit verloren. Ferner: geistige Liebe ist reines Schenken, reines Geben ohne Wiedernehmenwollen, und darum bei aller Bejahung des Wohls des Nächsten wesentlich detachiert. Insofern entspricht Entsagung und Opfer ihrem Wesen wirklich besser als Glück. Demgegenüber fesselt nichts mehr als irdische Liebe; kein Gefühl ist inniger mit dem unterweltlichen Besitz-Triebe verknüpft, keins kann leichter in Härte, Lieblosigkeit und Hass umschlagen. Dies erklärt, warum sich die Menschenarten, die sich zur Religion der Liebe bekannten, als die härtesten und ausrottungsfreudigsten aller bisher geschichtlich bedeutsam gewordenen erwiesen haben. Weil sie sich zur Liebe als Grundwert bekannten, konnten sie nirgends gleichgültig und darum auch nicht selbstverständlich tolerant sein. Wo sie nicht wirklich liebten und damit bejahten, zeitigte ihr Bekenntnis zwangsläufig Krieg, Bedrückung, Versklavung und Ausrottung.

Zum Zweiten. Es tut zur Konsolidierung der bisher gewonnenen Einsichten wahrscheinlich gut, wenn wir zum Abschluss das Ursprüngliche im Menschen dem Geiste zu in einem vereinigenden Symbol zu fassen versuchen um mehr als ein solches kann es sich nicht handeln, denn metaphysische Wahrheit entrinnt aller Begriffsfassung. Da dürfen wir denn sagen: es sieht so aus, als sei dem äußerlich ausgebreiteten Kosmos in der Dimension der reinen Innerlichkeit, also gewissermaßen senkrecht zu ihr, ein Geisteskosmos eingebaut, welchem gegenüber jener nur ein Ausdrucksmittel bedeutet. Er ist Ausdrucksmittel im gleichen Sinne wie die Sprache. Nicht auf deren Wortlaut und Normen kommt es dem persönlichen Geiste an, sondern darauf, was er mittels ihrer sagen kann. Grundsätzlich lässt sich in jeder Sprache alles sagen, wenn nur der Redende stark genug ist als Geist, um durch die Materie hindurchzuleuchten. Doch die Sprache der Natur, die nicht ursprünglich als Ausdrucksmittel des Menschen geschaffen ist, bietet ganz andere Schwierigkeiten, sich verständlich zu machen, als irgendeine menschliche. Ihre Normen laufen denen des Geistes vielfach so sehr zuwider, dass es ausgeschlossen scheint, sich eigentlich in ihr auszudrücken, und manche ihrer Laute sind nichts als Naturlaute und können nie mehr werden. Darum gelingt es auf der Ebene der Natur nie, das Korrelationsgesetz von Sinn und Ausdruck wirklich zu befolgen. Das gelingt nur auf der Ebene der Kunst. Daher deren Erlösendes. Strebt man vom Geiste her direkt zur Natur oder umgekehrt, dann bleibt unerfüllbare Sehnsucht hienieden das letzte Wort. Aber ist nicht Sehnsucht wiederum der eigentliche Weg der Liebe? Hier erkennen wir in einem neuen Zusammenhang, wie sehr und auch warum sie dem Menschen den kürzesten Weg zu seinem Ursprung bedeutet. Sie ist ein allezeit Schwebendes, und gerade ihr Schwebendes, nicht ihr Bindendes und Erfüllendes beglückt zutiefst. Das zeigt sich sogar auf solchen Gebieten, wo persönliche Liebe kaum in Frage kommt. Ein Heiler oder Krankenpfleger, welcher es aushält, die Schmerzen des Leidenden in innerer Freudigkeit mitzutragen, gerade wo er nicht helfen kann, hilft dem Kranken in seiner Seele millionenmal mehr, als jeder, welchem auf äußere Linderung alles ankommt.

Das Dritte, wofür wir zum Abschluss dieses Kapitels ein vereinigendes Symbol suchen wollen, betrifft den Zusammenhang zwischen allen Menschen und darüber hinaus mit allen Geschöpfen, welchen echte Liebe setzt und schafft. In den Betrachtungen der Stille verwandte ich zu anderem Zweck bereits das tiefsinnige Bild von Wilhelm von Scholz, gemäß welchem das Leben des Menschen, welches allemal ein Gemenge von Schicksal und Zufall ist, dergestalt verläuft, als ob der Mensch geträumt werde: er ist nicht selbst der Träumer, sondern nur eine bestimmte Traumgestalt, zugleich mit allen anderen gesetzt, und so präexistiert ein Zusammenhang von freiem Entscheiden und dem, was einem geschieht. Das eigentliche Subjekt des ganzen polyphon in die Erscheinung Tretenden ist aber doch der Träumer, wie: denn jeder Träumer in einer gleichsam solipsistischen Welt lebt. Im Sinn dieses Bildes ist der einzelne Mensch gleichzeitig mit seinem Nächsten gesetzt und zwar ist ihm jeder, zu dem er in Beziehung steht, der Nächste. Zutiefst ist ihm jeder im gleichen Sinn ein Du, wie der zutiefst Geliebte. Dies wird eben dadurch ermöglicht, dass das Ich sich selbst garnicht letzte Instanz ist: letzte Instanz ist, wie schon gesagt, der Träumer, von dem er samt allen anderen Traumgestalten, geträumt wird. Da nun die Gestalten garnicht für sich existieren, sondern nur als integrierende Bestandteile des Gesamttraums, welcher seinerseits unmittelbarer Ausdruck des einen Träumers ist, so ergibt sich daraus, dass Egoismus ein grobes Missverständnis ist. Was man anderen antut, tut man buchstäblich sich selber an und umgekehrt. Das eigentliche Subjekt liegt oberhalb des Ich. Aber es liegt genauso oberhalb des Du. Ich kann die anderen nicht mehr lieben als mich selbst, aber andererseits kann ich, sofern ich mich genügend verinnerlicht habe, nicht umhin, sie ebenso zu lieben, denn auf der Ebene des Träumers bin ich mit ihnen eins. Die hiermit beschriebene Ebene ist eine ganz andere als die der Natur, und nur in sehr unvollkommener Weise vermag sich ihr Geist auf dieser auszuwirken. Trotzdem ist sie des Menschen eigentlichste Daseinsebene, und sein ganzes Streben samt allen Idealen und umgekehrt Gewissensbissen, allem Minderwertigkeitsgefühl, Sündbewusstsein usf. betrifft den Drang, diese Geistes-Welt der materiellen einzubilden. Man hat nun von jeher versucht, diese Geisteswelt samt ihrem Grunde näher zu bestimmen. Aber solcher Versuch ist, vom Standpunkt möglicher irdischer Erkenntnis her geurteilt, aussichtslos. Ist man Bekenner des Christenglaubens, dann mag man die unbezweifelbare Wirklichkeit, die ich hier meine, Corpus Christianum oder gar enger Corpus Catholicum heißen, und von diesem geistlichen Körper kann gefordert werden, dass er sich auf die Dauer alle anderen Körper einbilde. Ebenso mag man den Träumer als inwendigen Christus oder gar als Gott bestimmen. Erkenntnismäßig ist es grundsätzlich überflüssig, sich durch solche Bestimmungen festzulegen, und je weiter die Menschheit gerade geistlich kommt, desto mehr wird sie es verlernen, Forderungen des Verstandes als Werkmeisters des Reichs der Künstlichkeit oder der Forderungen des Zwischenreichs auf das metaphysisch Wirkliche zu übertragen.

Hermann Keyserling
Das Buch vom Ursprung · 1944
Gleichgültigkeit und Liebe
© 1998- Schule des Rades
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