Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Buch vom Ursprung

Der Zwiespalt der Seele

Sünder und Gerechte

Wenden wir uns nunmehr zur Vorstellung der zwei Seelen in des Menschen Brust zurück. Es ist wirklich so, und nicht nur dies: es soll so sein, dass sich der Mensch für sich ganz anders fühlt und schaut, als er sich als Handelnder anderen gegenüber aufrichtig gibt. Intimes Selbstgefühl und Wirkung auf andere können nicht allein nicht, sie dürfen gar nicht zusammenfallen. Wo letzteres der Fall scheint, handelt es sich um Lüge oder Selbstbelügung oder aber absichtliche Schauspielerei; hier liegt der eine Rechtsgrund des Übelnehmens geäußerten Selbstgefühls. Das Für-sich-Sein jedes Menschen ist für jeden anderen ursprüngliches Geheimnis. Umgekehrt kann keiner ursprünglich und unmittelbar wissen, wie er anderen erscheint; das ist zunächst der anderen Geheimnis. Hier gilt von jedem ursprünglich das Gleiche, wie von Jesus, der nach einer vollzogenen Heilung gerade nur merkte, dass eine Kraft von ihm ausgegangen war. — Aus diesen allgemeinen Einsichten folgt noch etwas für den Alltag Praktisches: wer das Vorhergehende ganz verstanden hat, wird nicht mehr den Anspruch erheben, dass ihn andere wirklich verstehen sollen, auch an Geliebte und Liebende nicht. Dieser Anspruch ist nämlich einer der häufigsten Stifter von Herzeleid.

Überschauen wir nun mit unserem inneren Auge alles das, was wir in unseren Sonderbetrachtungen anlässlich der zwei Seelen in des selben Menschen Brust feststellten oder zur Kenntnis nahmen, und prüfen es auf dem Hintergrund dessen, was diesen Betrachtungen vom Anfang dieses Kapitels an voranging, dann dämmert uns, dass die üblichen Auffassungen und Deutungen des Zwiespalts in des Menschen Seele nicht allein nicht richtig sind, sondern gar nicht richtig sein können. Und gleichzeitig geht uns ein erstes Licht auf über die Bedeutung dessen, dass Christus dem Sünder vor dem Gerechten den Vortritt gab. Bei dem sich logisch oder dialektisch Widerstreitenden handelt es sich um Gegenpole eines nicht zwar de facto alle Male einheitlichen, wohl aber einheitlich sein sollenden Geschehens. Die unvereinbaren Pole können nimmer in einer Front zusammenwirken. Und die schlimmste Verirrung ist nicht die Sünde an sich, sondern das Zerreißen des lebendigen Zusammenhangs. So bedeutet denn auch die Antinomie, die das Zusammenbestehen eines gemäß dem Gesetze einmal und niemals wieder! von Entscheidung zu Entscheidung fortschreitenden, nach außen zu ausstrahlenden Lebens mit einer Erinnerungswelt, in welcher nichts untergeht, keine ein für allemalige Entscheidung jemals fällt, dem Verstande als unlösbares Problem aufgibt, an sich kein Verhängnis und kein Greuel, sondern den Motor, aus welchem alle Kraft stammt, welche dem Menschen zur freien Verfügung steht. Ohne Zwiespalt der Seele gäbe es keinen möglichen Auftrieb und Aufstieg. Es handelt sich um eine Abwandlung mehr der von Goethe also formulierten Wahrheit: Nur das Unzulängliche ist produktiv.

Hermann Keyserling
Das Buch vom Ursprung · 1944
Der Zwiespalt der Seele
© 1998- Schule des Rades
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