Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Buch vom Ursprung

Der Zwiespalt der Seele

Das ewige Kind

Wieder führen uns unsere Betrachtungen zu einer erstinstanzlichen Bejahung des Übels dieser Welt. Und dies zwar unabhängig von jeglicher religiösen und metaphysischen Theorie. In erster Instanz ist es gleichgültig, ob die Widerwärtigkeit und das Böse Strafe, Prüfung, Gelegenheit zur Übung in Selbstzucht, der negative Aspekt des Guten oder was immer seien: ist man sich selbst gegenüber ganz wahrhaftig, dann ist es nicht möglich, das Böse rein negativ zu sehen. An dieser Stelle sei kurz daran erinnert, was im Kapitel Das ethische Problem von Wiedergeburt und im Abschnitt Moralismus von Amerika genau ausgeführt worden ist: das Gute entspricht letztendlich dem Leben, das Böse dem Tod, jenes dem Ja, dieses dem Nein — aber jedes Ja fordert Abgrenzung durch ein Nein, und so grenzt irgend ein Böses die Sondergestalt jedes bestimmten Guten gegen anderes Gutes ab. Von hier aus können wir denn schon übersehen, warum eine Einstellung auf die Sünde und Schuld als letzte Instanzen, wie sie für eine bestimmte Abart des Protestantenglaubens charakteristisch ist, zu einer moralisch geurteilt heillosen, intellektuell geurteilt absurden Position führen muss. Tatsächlich gibt es keine absolut bösen Zustände und Handlungen, denn jede Tat und jeder Zustand ist gut und böse auf einmal. Dann aber bedeutet jede Handlung einen Übergang, jeder Zustand ein Vorübergehendes; nur künstlich sind beide als statisches Sein festzuhalten und auch dies nur in der entscheidungslosen Welt der Erinnerung. Darum kann der Sündbegriff, der dem nicht Rechnung trägt, nicht wirklichkeitsgerecht sein. Psychologisch geurteilt irrt sich auch ein jeder, der zeitlebens an einer bestimmten begangenen Sünde trägt, der, wie man sagt, mit ihr nicht fertig wird: er meint den unvollkommenen Zustand, dessen Ausdruck und Sinnbild sie war und weiter ist, solange dieser nicht überwunden ward. Darum hört das Leiden an einer bestimmten Schuld automatisch auf, wenn der betreffende Zustand einem anderen Plan gemacht hat und damit eine neue Voraussetzung für das Gegenwartserleben geschaffen worden ist; das ist ein Aspekt der Sündenvergebung. Der Sünder, solange er sich als solcher fühlt, ist an erster und letzter Stelle unterwegs. Darum liebte ihn Jesus mehr als den festgelegten Gerechten, darum band er die Gnade an die Voraussetzung der Sünde. Womit er die Sünde an sich nicht positiv beurteilte, sondern nur den natürlichen Menschen so hinnahm, wie er eben ist, und ihm jede Chance des Mehr- und Besserwerdens vorgab. Vielleicht fasst man den Kern des Problems am besten so: die Sünde beurteilte Jesus von der möglichen Reue, das Böse von dessen Überwindung, die Schuld von der Gnade her.

Von hier aus finden wir nun den Ansatz, ohne Rücksicht auf irgendeine herrschende Anschauung oder Autorität das Ursprüngliche des Schuld-, Sünde- und Heilserlebnisses, wie es der geistlich Strebende aller Zeiten und aller Konfessionen kennt, unmittelbar zu fassen. Zu dem Ende brauchen wir nur an unsere Gedankengänge über die Sonderwelt der Erinnerung und die zwei Seelen in des Menschen Brust anzuknüpfen. Nach innen zu, so fanden wir, erlebt sich jeder Mensch ganz anders, als er nach außen zu wirkt. Was bedeutet nun dieses Anderssein, dessen allgemeines Schema die Welt der Erinnerung bietet? Es bedeutet das eigene Werden aus dem unbewussten Schoß oder Grund des geistbestimmten Lebens heraus, das eigene noch unentschieden-Sein, das eigene immer-neu-zur-Quelle-Gehen-, aus dieser heraus immer-wieder-Neuwerden-können. Es bedeutet, in seinem Konfliktaspekt, den Ansturm des Lebendigen in sich gegen das Festgelegte, den Willen zur Verjüngung gegenüber dem zum Altern und zum Sterben, das geistig-Ursprüngliche gegenüber dem in die Welt des Materialisierten Abgeleiteten. Man gedenke hier der jüngsten Ergebnisse der Altersforschung1. Vom biologischen Standpunkt bedeutet der Tod des Einzelwesens nicht Notwendigkeit: grundsätzlich könnte an seine Stelle überall Verjüngung treten. Das Individuum stirbt, weil es in seinen selbsterzeugten Festlegungen erstickt wird — das Keimplasma ist unsterblich, weil es garnicht festgelegt ist. In diesem Sinne bedeutet die Welt des rein Innerlichen, in das der Mensch sich psychisch versenkt, seinen Jungbrunnen und stehen die Paradoxien des Innenlebens in einem analogen Verhältnis zur tätig-wachen Gegenwart, wie der wandlungsreiche innere Umsatz der Embryonalentwicklung zur übersichtlichen Wirkungsart des Ausgestalteten.

Von hier aus nun offenbaren sich auf einmal die Bedeutungen von Meditation, Gewissenserforschung, Reue und Gebet. Indem wir das in uns mit unserer ganzen Aufmerksamkeit fixieren, was wesentlich nicht entschieden, wesentlich nicht festgelegt ist, dringen die tiefsten Bildekräfte des geistigen Ursprungs in die Seele ein und wirken sich in dieser dem vorgestellten Geist entsprechend aus. Denn es ist ein sicher festgestelltes Naturgesetz der seelischen Entwicklung, dass es genügt, ein inneres Bild mit größter Schärfe und Deutlichkeit, dabei aber ohne Willensanstrengung, in ständiger Wiederholung zu fixieren, damit dessen Einbildung in die materielle Wirklichkeit vom Unbewussten auf unbekannten Wegen ganz von selbst bewerkstelligt wird. Das ist aber nur die eine Seite des Prozesses. Indem das Germinale, wie ich’s im Weltfrömmigkeitskapitel des Buchs vom persönlichen Leben, oder das ewige Kind, wie ich’s in den Betrachtungen der Stille hieß, in die tagesbewusste, dem Ich zugängliche Seele Eingang findet, konstelliert es andererseits das Festgelegte, Verschuldete, für immer Entschiedene, Erneuerungsunfähige mit einer Kraft und Schärfe der Herausarbeitung, welche dem Grade der Versenkung proportional ist. So entsteht unvermeidlicherweise Schuldgefühl, und dieses kann bei durch starke Phantasie gespeistem inständigen Erneuerungswillen zur Obsession werden. Und dieses Schuldgefühl ist im Falle feiner Seelen fast immer sehr viel größer, als die reale Schuld. Hier gilt in erster Instanz überhaupt nicht das Schema: Ich bin schuldig, weil, sondern das umgekehrte: Ich fühle mich schuldig, darum drängt es mich, für dieses Gefühl einen Gegenstand zu finden. Viele, sehr viele Verbrechen sind aus äußerlich unmotiviertem Schuldgefühl begangen worden, und allemal bewirkte dieser Entschluss beim Schuldigen Befriedung. Hier spielt der gleiche Mechanismus, wie bei um ihre Kinder ewig besorgten, von Katastrophenangst zernagten Müttern: wie oft habe ich solche aufleuchten sehen, wenn wirklich einmal ein Unglück passierte, denn nun hatte das freischwebende Sorgegefühl einen Gegenstand gewonnen, womit das, was sie am tiefsten beunruhigte, erledigt war. Beim Begehen von Verbrechen zum Zweck der Schaffung eines Gegenstandes für vorherbestehendes Schuldgefühl handelt es sich um das genaue Gegenbild erlebter Sündenvergebung. Als je geistgeborener und geistig-geistlich bedeutsamer nun einer seine Schuld erlebt, desto tiefere Schichten der Persönlichkeit werden ergriffen; deren Selbstachtung wird bedroht und damit zuletzt deren moralische Existenz. Dies reizt denn den Kern der Persönlichkeit zur Abwehr. Kaum sind Schuld- und Sündbewusstsein da, da regen sich auch, solange der Mensch nicht besiegt die Waffen streckt, die Kräfte zu ihrer Überwindung, es setzt ein Prozess der Heilung, Regenerierung oder des Überwachsens ein, und so entsteht eine Dynamik, welche Energien freisetzt, die dem Menschen radikale Zustandsänderung ermöglichen. Letztere hätte er ohne Schuld- und Sündgefühl nicht erreicht, ohne sie wäre die dazu erforderliche Energie nicht frei geworden: das ist das entscheidende Moment. Nun braucht man freilich keine Verbrechen zu begehen, um später heilig zu werden, und Luthers urwüchsiger Rat peccare fortiter ist nur cum grano salis aufzunehmen.

Die geringste Schiebung kann hier das Positive urplötzlich in Negativstes umschlagen lassen, gleichwie, laut Ramakrishna, der flüchtigste selbstsüchtige Gedanke beim Selbstopfer dieses annulliert, so wie ein Windstoß eine Kerze ausbläst. Hier entscheiden so winzige Nuancen, dass man an die Welt des unendlich Kleinen der Physik denken möchte, welche von anderen Gesetzen beherrscht wird, als die makroskopische. Als schuldhaft empfundene Umwege muss jedoch jeder gehen und ist bisher auch jeder gegangen, denn nur der Mensch mit feinem Gewissen ist spirituellen Aufstiegs fähig, ohne dass das Schicksal ihn mit Keulenschlägen dazu zwingt. Jeder Feinfühlige nun findet jeden Augenblick der Ursachen übergenug für Schuldbewusstsein, denn im Bereich der Seele gibt es ja kein Recht; hier hat jeder Mensch gerade dort am meisten Unrecht, wo er am meisten, und dies zwar auch mit Recht, auf seinem Recht besteht.

An dieser Stelle fassen wir eine der völlig unaufhebbaren Paradoxien der menschlichen Existenz. Es ist nun einmal so, dass nur auf als schuldhaft empfundenen Umwegen die zu radikaler Zustandsänderung erforderliche Energie frei wird; ich erinnere hier an die in den Betrachtungen der Stille näher behandelte Insekt-Imago, deren später verfügbares Kräftekapital die Frucht der Anstrengungen ist, die sie persönlich machte, um ungeholfen aus der starren Puppe auszukriechen; ein Exemplar, dem diese Mühe abgenommen wurde, bleibt kraftlos und verkümmert schnell. Hier nun aber setzt ein durch alle Erfahrung gesichertes, aber gleichzeitig kaum verstehbares Gesetz ein. Wo einer bei ehrlicher Sehnsucht aus eigener Initiative die erforderlichen Umwege nicht zu machen weiß, da stellt sich ihm das Schicksal in den Weg und wirft ihn aus seiner bisherigen Bahn hinaus. Damit zwingt es ihn zur Überwindung seiner Trägheit. Und die erforderliche Umstellung unter Preisgabe des Bisherigen weckt die tiefsten Bildekräfte der Seele entweder direkt, oder es bewahrheitet sich der Satz Not lehrt beten. Denn jedes Ausbrechen aus einem vertrauten festgelegten Lebensrahmen führt zu fühlbarer Verschuldung, jeder neue Weg erscheint dem Innerlichen zunächst als neuer Umweg, vor allem aber ist das Ziel eines unbekannten Weges nie vorauszuwissen; darum ist alle beruhigende Sicherheit hin. Da stellt sich denn der strebensfähige Mensch unwillkürlich auf sein Germinales ein, und durch dieses hindurch auf das Überempirische und Schicksalsüberlegene und letztlich das ursprünglich Geistige in sich. Tiefenpsychologen erklären dieses Eingreifen des Schicksals gern durch ein Beschwören desselben seitens des Unbewussten des Betroffenen: das ist einerseits gewiss richtig, denn wer allein nicht voran kann, der sehnt sich nach Hilfe, schaut nach solcher aus und so entdeckt er Mittel und Wege, um die rechte zu finden. Aber es heißt den normalen Einzelnen doch gewaltig überschätzen, wenn man ihm zutraut, das Weltall sozusagen in seine persönlichen Dienste zu stellen. Die einzige gegenständliche und Verstehen-weckende Beschreibung — nicht Erklärung! — des Tatbestandes scheint mir auch hier das Bild vom Geträumt-Werden zu bieten, mit welchem unser Kapitel Gleichgültigkeit und Liebe abschloss. Liegen die Dinge so, dann leuchtet als selbstverständlich ein, dass keiner ohne die Mitarbeit des Weltalls viel vermag. Daher, noch einmal, die Notwendigkeit der Umwege. Meines Wissens hat es in der ganzen bekannten Geschichte nur wenige aus der Art des Menschentums überhaupt Geschlagene gegeben, die ohne weite Umwege letzte Selbstverwirklichung erreichten. Und sehr bedeutsamerweise wirkten diese, bis dass sie als Götter verehrt wurden, womit ihre menschliche Problematik sich erledigte und neue Spannungen in Kraft traten, un-überzeugend. Sie wirkten nie beispielgebend und konnten darum keine Erlöserrolle spielen. Was aber die sehr bald oder plötzlich Erleuchteten betrifft, so gilt wohl dies: sie waren von Geburt an ihrem letzten Stadium so nahe, dass nur ein klein wenig Übung, ja ein geringfügiger Anlass genügte, um sie den Weg zur Vollendung bis zu dessen irdischem Ziel durchmessen zu lassen. Man gedenke des einen Kranken, dessen Anblick dem Prinzen Siddharta seine Buddha-Sendung bewusst machte und der analogen Erlebnisse des Heiligen Franz. Gerade diese Erlebnisse nun bedeuten anderen Heilssuchern am meisten. Und so glaube ich nicht, dass Jesus über seine vielen Konkurrenten den historischen Sieg davongetragen hätte, wenn er nicht, obschon Gottes eingeborener Sohn, vom Teufel versucht worden und in Gethsemane der Verzweiflung nahe gewesen wäre. Der Mensch möchte mit- und nacherleben können. Das ist einer der vielen tiefen Sinne des Mythos, dass Gott in Jesus Christus Mensch wurde.

1 Vgl. hierzu Hans Drieschs wundervolle, als letzte vor seinem Tode verfasste Schrift Zur Problematik des Alterns in Zeitschrift für Altersforschung, Band III, Heft 1, 1941.
Hermann Keyserling
Das Buch vom Ursprung · 1944
Der Zwiespalt der Seele
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