Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Buch vom Ursprung

Der Zwiespalt der Seele

Segen des Verzeihens

Doch mit allen bisherigen Ausführungen sind nur die schwersten Hindernisse auf dem Wege zum Verständnis des Sinns des Zwiespalts der Seele fortgeräumt; dessen eigentlich geistige Bedeutung ist noch nicht gefasst. Nun können wir uns dieser letzten Aufgabe zuwenden. Vorher aber ist noch dieses zu bedenken. Nicht alle tief erlebende Einzelnen und Völker kennen das christliche Sündbewusstsein, nicht alle erleben den Zwiespalt der Seele so peinigend wie wir. Dies nun hat seinen Grund durchaus nicht darin, dass jenen die einzig wahre Offenbarung nicht zu teil geworden wäre, dass sie nicht tief genug erlebt oder falsch erklärt hätten; auch nicht darin, dass, umgekehrt, unsere abendländische Überlieferung irreführte: es hat seinen Grund darin, dass jene den Akzent auf den einheitlichen Zusammenhang des nach-innen- und nach-außen-zu-Lebens anders legten als wir. Und dazu waren und sind die nicht-Christen, auch vom absoluten Geist und dessen positiver Qualifiziertheit her geurteilt, berechtigt, denn der Geist kann eben frei wählen, frei entscheiden und es gibt, je nach der Grundstruktur eines Geists und einer Seele und je nach der besonderen Einstellung eines Typus im Kosmos mehrere Arten gleich positiver Entscheidung. Aber nicht nur deswegen waren und sind die nicht-Christen zu andersartiger als unserer überlieferten Akzentlegung berechtigt, sondern vor allem darum, weil die beiden Ansichten, welche wir vorhin zwei Seelen hießen, organisch zusammenhängen, in Korrelationsverhältnis stehen und ein gleicher Zusammenhang ohne Irrtum auf verschiedene Weise zentriert werden kann.

Wer hiergegen die Autorität des Wortes oder der Schrift anführt, mit dem ist freilich nicht zu rechten. Dem gebe ich hier wieder einmal — ich tat es schon oft — zu bedenken, dass, wenn auch Gottes Wort authentisch sein mag, dieses unter gar keinen Umständen Gottes Sinn seinem Eigen-Sinn gemäß überliefert: den Sinn der Worte schaffen vielmehr die jeweils Verstehenden oder Missverstehenden. Als besonders eindrucksvolles Beispiel dessen weise ich auf Karl Barths entsetzliche Lehre vom Zorne Gottes hin, die aber nicht einmal auf Worte Jesu zurückgeht, sondern solche des Paulus, der erwiesenerweise seinen Sinn in das Überlieferte hineinlegte und vor allem sehr viel dazuerfand. Doch das nur nebenbei.

Die alten Chinesen kannten unsere Sünde einfach deshalb nicht, und konnten sie nicht kennen, weil sie sich an erster Stelle des polaren Charakters und des unzerreißbaren Zusammenhangs der verschiedenen Aspekte des Wirklichen bewusst waren — eben darum schieden sie nie deutlich zwischen Notwendigkeit, Schicksal und Freiheit, Natur und Geist, persönlicher und kosmisch bedingter Fügung. Weil sie im rechten Erleben und Auswirken dieses Zusammenhangs den größten Wert sahen, darum legten sie den Hauptnachdruck auf das Geschmeidigsein und nicht auf ein für alle Male festlegende Entscheidung. Letzteres und nicht das Weibliche an sich meinte zumal Lao Tse mit seiner Höherstellung des Weichen gegenüber dem Harten. Vom chinesischen Standpunkt nun ist das christliche Sündgefühl ein Ausdruck von Verkrampfung, von willkürlicher Festgelegtheit auf einen Aspekt, welcher in Wahrheit garnicht festzulegen ist, und damit von Vergewaltigung. Die ganze christliche Geschichte beweist, dass die Chinesen mit diesem Urteil mehr Recht als Unrecht haben. Aus dem gleichen Grunde, aus welchem christliches Sündgefühl organisch Krampf bedeutet, ist vielen unter uns das Leben nichts als Kampf — und es ist unzweifelhaft auch anderes. Ebenso einseitig ist und gleiche Verkrampfung bedeutet die Auffassung des Lebens als nichts-als-Entscheidung und nichts-als-Verantwortung. Es besteht überhaupt kein Zweifel, dass Allerwesentlichstes uns geschieht, wofür wir ganz bestimmt nichts können, und zwar gilt dies nicht bloß von der unverdienten göttlichen Gnade; dieses uns-Geschehen ist ein Sonderausdruck der Tatsache, dass die Ganzheit des Lebens von sich aus dessen Teilausdrücke bestimmt.

An der Einseitigkeit der letztgenannten Akzentuierung wird nun die Verfehltheit aller Einseitigkeit am leichtesten und vollständigsten deutlich. Wenn der Mensch als Mensch nur der von Augenblick zu Augenblick Verantwortende ist, wie jene extremen protestantischen Theologien lehren, denen wir oben eine Sonderbetrachtung widmeten, dann ist der Mensch wirklich notwendig der nichts-als-Sünder, dann ist sein Sündertum das Zentrum seines Menschseins, dann bedeutet es Verruchtheit, selber aus der Sünde herauszutreten; dann kommt alles Gute wirklich von Gott allein, und der Mensch kann nur hoffen, dass er zu den willkürlich Auserwählten zählt. Dann bedeutet Zittern vor Gottes Zorn die einzig richtige Einstellung dem Göttlichen gegenüber, dann muss der Mensch als Mensch hoffnungslos heillos sein, und gibt es Heil, dann kann es nur unverdienterweise von einem unbekannten Gotte kommen. Dann kann es natürlich keine Heiligkeit auf Erden geben und das spirituelle Streben aller derer, denen Religion anderes bedeutet, als jenen Theologien, ist abwegig und sinnwidrig. Das extreme Sündbewusstsein von Barth und seinesgleichen beruht nun aber ganz und gar auf jener falschen Deutung der Welt des Erinnerten, deren wahren Sinn wir aufdeckten. Und insofern bedeutet alle jüdisch-christliche Sündenlehre letztlich ein Missverständnis. Nach jener Lehre ist der Zwiespalt der Seele ewig, denn es sollte alles ein für alle Mal im vorausgesetzten guten Sinn entschieden sein, und das ist es nie. In Wahrheit ist nie etwas für immer entschieden, solange Leben lebendig währt, denn so lange das der Fall ist, kann ein neu angeschlagener Ton oder eine weitere Ausgestaltung des Themas die Lebens-Melodie auf einen neuen Grundton zurückbeziehen; Stillstand und Ruhe gibt es nur als Ausdruck von Übermüdung oder animalischer Sattheit. Darum ist Trägheit die wahre Sünde wider den Heiligen Geist, denn wo immer diese nicht herrscht, ist nichts für immer festgelegt. Schließlich bedeutet die ganze christliche Gnadenlehre nur einen freilich bedenklichen Umweg zur Erreichung eben dieser Einsicht, unter Transponierung der letzten Strecke des Heilswegs in ein Jenseits. Bei der hier näher betrachteten, Gottlob nur-protestantischen Zuspitzung des Problems auf nur-Sünde oder nur-Schuld hin handelt es sich ganz sicher um eine böse Vergewaltigung des seelischen Tatbestandes, welche diesen ihren Charakter dadurch nicht verliert, dass sie auf bestimmte Deutung von Apostelworten gegründet wird. Will man überhaupt die Autorität eines überlieferten Wortes Gottes gelten lassen, dann kommt innerhalb der Christenheit nur diejenige Jesu selbst in Frage — und in den Evangelien steht kein Wort, welches die Ausdeutung des Calvinismus rechtfertigte. Schließlich gilt hier, wenn irgendwo, das Wort:

an ihren Früchten sollt ihr sie erkennen.

Die Geschichte beweist mit seltener Eindeutigkeit den Verkrampftheits- und Gewaltsamkeits­charakter dieser Form von Christentum, und im übrigen beweist es die persönliche Psychologie jeder seiner bedeutsam gewordenen Vertreter. Es waren alle, so weit sie lebten, was sie lehrten, und soweit sie nicht direkt pathologisch waren, ursprünglich und wesentlich böse Menschen.

In Wahrheit nun befinden sich in der Seele germinale Unentschiedenheit und Entscheidung in jenem labilen Gleichgewicht, welches zum Wesen jedes lebendigen Augenblicks gehört. Aus dem Zusammenhang beider ergibt sich alle Dynamik, aus der Auseinandersetzung zwischen beiden alle frei disponible seelische Energie. Nun möchte man zugunsten des traditionellen jüdisch-christlichen Sündbewusstseins anführen, dass eben dessen Extremismus den extremen Aktivismus des Abendlandes ermöglicht hat. Aber eben diesen Aktivismus beurteilen wir heute, durch alle Tatsachen belehrt, ganz anders, als dies vor dem ersten Weltkriege gang und gäbe war. Die fortschrittliche Menschheit hat sich als die spirituell blindeste aller bisherigen an Begabung Vergleichbaren erwiesen. Das Streben aller derer, die für eine bessere Zukunft arbeiten, geht auf die Herbeiführung eines normaleren Spannungsverhältnisses zwischen Ethos und Pathos. Damit stellt sich denn das ganze Problem des Zwiespalts der Seele anders, als die christliche Überlieferung es gestellt hat.

Nun können wir alle weitere vorbereitende Betrachtung lassen und zum Kern des Problems vorstoßen. Da erscheint denn auf Grund alles früher Ausgeführten klar, dass sich die Welten der inneren Schau und der Entscheidung nach außen zu günstigsten Falles so zueinander verhalten müssen, dass jede neue Entscheidung ein neues höheres Gesamtniveau und damit einen neuen höher gelegenen Ausgangspunkt für das Werden aus schöpferischer Indifferenz heraus schafft. Im Schlusskapitel Divina Commedia der Südamerikanische Meditationen steht ausführlich dargelegt, was der metaphysische Sinn des Werkes ist: mit jeder Herausstellung erledigt sich frühere Unentschiedenheit, es findet eine Stillstandsgebärde im Werden statt und nun kann der Schöpfer, Früheres endgültig hinter sich lassend, von seinem letzten Erreichnis her in neuer germinaler Freiheit voranschreiten. Darum kommt der allein wirklich vorwärts, welcher das Risiko möglicherweise falscher oder unzulänglicher Entscheidung auf sich nimmt, sei es, dass er ein schlechtes Buch nicht allein schreibt, sondern auch veröffentlicht, sei es, dass er seine bösen Neigungen durch entsprechende reale Verfehlungen festlegt. Eben hier liegt der Segen des Verzeihens: wer einem anderen verzeiht, befreit unter allen Umständen, was immer vom andern gälte, sich selber von der Verhaftung an Vergangenes. Eben hier liegt auch der Sinn der Beichte: indem offen vor anderen bekannt wird, was man an als verfehlt Empfundenem getan hat, erledigt sich die Unentschiedenheit, die sich aus dem Für-sich-Behalten und Vortäuschen falscher Tatsachen ergibt; mächtige, bis dahin gebundene Energien werden frei und auf einmal ist es, als sei man von einer Last befreit. Die positive Wirkung der Beichte ist desto stärker, vor je Mächtigeren sie erfolgt und je schwerer sie einem fällt — darum ist die beste Beichte die, welche gleichzeitig vor Gott und Menschen abgelegt wird. Dies gilt unabhängig von irgendeinem dogmatisch begründeten Glauben an Sündenvergebung, auch unabhängig von aller Erwartung, dank der Beichte nicht oder milder bestraft zu werden, oder dank der Aufsichnahme der Strafe seelische Erleichterung zu erleben: bei dem allen kann es sich um Zwischenreichgeborene an sich falsche, wegen der in der Seele lebendigen Vorurteile jedoch wohltuende Deutungen handeln. In erster Linie handelt es sich bei allen diesen Entscheidungen um die Gewinnung eines neuen Ausgangspunkts. Dann allerdings gilt es, eine bestimmte neue Entscheidung zu treffen oder diese vorzubereiten. Diese nun kann unterbleiben: dann gibt es keine innere Veränderung mehr. Es ist nicht wahr, was Jesus gelehrt haben soll,

wer ein Weib nur ansähe, ihrer zu begehren,
der habe die Ehe schon gebrochen
, —

sofern man den Akzent auf diesen Punkt legt, und nicht auf die drei von mir ausgelassenen Worte: in seinem Herzen. Was nur im Herzen geschieht, bleibt nämlich unentschieden; der nicht Fleisch gewordene Geist bleibt inbezug auf die Seele, die zu ihm in Beziehung steht, schwebend. Und die Entscheidung kann sehr wohl auch falsch fallen: dann verdirbt sie den Menschen, anstatt ihn vorwärts zu bringen. An dieser Stelle und zwar an dieser allein setzt denn die Problematik des real und absolut Bösen und der realen Sünde ein.

Hermann Keyserling
Das Buch vom Ursprung · 1944
Der Zwiespalt der Seele
© 1998- Schule des Rades
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