Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Buch vom Ursprung

Der Zwiespalt der Seele

Sündenfall

Wir gewinnen sofortigen Eingang zum Kerne dieses Problems, wenn wir den Weg über das der Unschuld wählen. Wer noch garnichts entschieden hat oder aber nicht persönlich entscheiden kann, der kann garnicht schuldig sein und sündig nur unter Voraussetzung der Erbsünde, deren Annahme aber nur unter der weiteren Voraussetzung haltbar ist, dass Menschsein an sich sündig-Sein bedeutet, eine Voraussetzung, welche, ohne direkt falsch zu sein, nur dank schiefer Akzentlegung zustandekommt. Darum bedarf es zum sündig-Sein eines richtigen Sünden-Falls; wieder staunen wir über den Tiefsinn unseres Schöpfungsmythos. Was bedeutet nun der Sündenfall? Dass Adam (und seither jeder Mensch in gleicher Lage von Augenblick zu Augenblick) sich von zwei Möglichkeiten des Handelns für diejenige entschied, welche ihn nicht aufwärts sondern abwärts führen musste. Jede Entscheidung schafft ein ihr entsprechendes neues Seinsniveau. Legt einer sich auf einem niederern als dem fest, auf welchem er bisher stand, dann kann er ohne allergrößte Mühe, da es hierzu der Überwindung alles neuen ins Rollen gebrachten Karmas bedarf, nicht auf sein früheres zurück. Dagegen kann er ohne jede Anstrengung, nur indem er sich dem natürlichen Gefälle des Gewohnten überlässt, von Stufe zu Stufe immer tiefer fallen. Und je tiefer er fällt, desto mehr droht der organische Zusammenhang zwischen dem germinalen Reich des Unentschiedenen und schöpferisch Indifferenten in ihm und dem erstarrten Entschiedenen zu zerreißen, bis dass er schließlich ganz brüchige Erstarrtheit ist. Dann ist der Mensch an der Grenze im selben Sinne geistig-geistlich tot, weil gar keiner Wandlung mehr fähig, wie der physische Organismus, der sich nicht mehr verjüngen kann, an seiner Festgelegtheit erstickt. Bis einer ganz erstarrt ist, ist jedoch nichts für immer entschieden. Im Gegensatz zu dem nun, was dem immer tiefer fallenden Menschen widerfährt, wird der Mensch immer freier, weil immer geistteilhaftiger und dank diesem unsterblichen Kraftquell immer lebendiger, je gerader er aufwärts strebt.

Auch dieses Streben verläuft nie schuldlos, nie ohne die Unvermeidlichkeit, nicht wieder gutzumachende Schuld auf sich zu nehmen, und dies bis zum höchsten Vollendungszustande hinan; seiner Familie gegenüber blieb Buddha bis zu seinem Tode schuldig. Aber der noch so schuldig Strebende fühlt sich nie letztinstanzlich sündig. Deswegen hören wir kaum mehr von Selbstvorwürfen Vollendeter, heißen diese Gautama oder Franz von Assisi oder Jesus oder gar Milarepa1, welch letzterer eine direkt bösartige Laufbahn hinter sich hatte. Was bedeutet nun unter diesen Umständen Sünde? Verrat gegenüber der eigenen höchsten Möglichkeit. Auf den Verrat und nicht auf bloßes Versagen, wie dies z. B. Theodore Bovet meint, kommt es an, weil erst beim Verrat der freie Kern der Persönlichkeit beteiligt ist, so dass dann erst eine Entscheidung seitens der letzten Instanz gefallen ist. Nun mag man die Frage aufwerfen: woher kennt einer denn seine eigene höchste Möglichkeit? Die Antwort lautet: er erlebt sie unmittelbar als innere, seinem Selbste eingeborene Möglichkeit und seines Wesens Kern genau so selbstverständlich gewiss, wie wenn er gesunden Auges die Sonne leuchten sieht. Es ist der Geist mitsamt dessen positiven, im vorigen Kapitel in ihren großen Umrissen bestimmten Attributen, den er in sich wachsen wollen spürt. Hindert er dieses Wachstum durch falsche Entscheidung, dann und dann allein sündigt er. Auf die einzelne Verfehlung, und bedinge sie noch so große Schuld, kommt es hier überhaupt nicht an, — deren Wiedergutmachung ohne Sühne betrifft viel oberflächlichere Schichten der Persönlichkeit, — sondern die Gesinnung, welche den letztentscheidenden Sinn gibt. So überantwortet der Mensch sich im Grenzfall erst dann und dann allein, wenn entsprechende Gesinnung vorliegt, dem absolut Bösen. Primär entsprechen Gut und Böse als Ja und Nein dem aufbauenden und dem zerstörerischen Pol des Lebens, die einander wechselseitig bedingen. Von einem Natur-Bösen kann vernünftigerweise nicht die Rede sein: für den Tiger ist es einfach natürlich, dass er Leben vernichtet, und diese Existenzform wird durch korrelative andere ergänzt und kompensiert. Auch der unschuldige Mensch kann nichts absolut Böses tun, und Unschuld schafft hier auch besondere ehrlich geglaubte geistige Voraussetzung; darum sind nicht nur Krieger, sondern auch Richter und Henker keine Mörder. Auch Fall ins rein-Fleischliche, rein-Irdische kann nicht als böse verurteilt werden, so sündhaft es sei als Verrat an der eigenen höchsten Möglichkeit: hier sinkt ein Mensch einfach, unter Verzicht aufs Menschliche, in seinen animalischen Ursprung zurück; sein Fall ist ähnlich dem des Verblödeten, der seit Verlust seiner Geistigkeit desto gesünder und robuster geworden ist. Das Reich des geistig-Bösen beginnt mit der Perversion, und nicht zwar allein der Perversion des Guten, sondern gerade des Bösen. Nicht wer im offenen Kampfe tötet beeindruckt das unmittelbare Gefühl als schlecht, sondern der Meuchelmörder, nicht der Diplomat, sondern der kleinlich-eigennützige Betrüger. Gleichsinnig ist das nächstliegende Bild des Teufels nicht die düster-hehre Gestalt des Luzifer, sondern die des

schäbigen Intellektuellen mit einer Lakaienseele,

als welchen Dostojewsky den Teufel schildert; eben diese Qualität versinnbildlicht die Karikatur des Menschen-, Bocks- und Schweinemischlings mit dem Pferdefuß. Entscheidet der Mensch sich nun für das absolute Zerstörerische, den Geist der sinnlosen Vernichtung, der Negation aller Werte und für deren Umkehr ins Gegenteil, dann ist damit absolut und radikal Böses in die Welt hineinbeschworen und ein Zustand absoluter Sündigkeit erreicht.

Doch gerade hier sieht man, wie schwer es ist, so tief zu fallen und warum alle höheren Religionen, welche das Böse hypostasierten, die Hilfskonstruktion der Gnade erfanden, um absolutes Verdammtsein praktisch bis zum Grenzfall auszuschließen. Von allen Luzifer-Legenden finde ich die tiefste die, gemäß welcher der Teufel selber sich zu Gott zurückbekehren kann; nur dessen Kreaturen d. h. die, denen das Teuflische oberste Seinsinstanz ist, die sich in dieser Seinsform festgefahren haben und in ihr erstarrt sind, seien unwiderruflich verdammt. Der letztere Mythos spiegelt jedenfalls unbestreitbare irdische Wirklichkeit. Im Fall im Bösen Festgefahrener gibt es wirklich keine andere Möglichkeit, ihren fortwirkenden rein negativen Einfluss aufzuheben, als sie zu vernichten. Vom Standpunkt der jeweiligen Gemeinschaft kann ihr Dasein nur in dem einen Verstande Positives bedeuten, dass in und mit ihnen ein längst vorhandener Abszeß auf- und ausbricht und damit aus dem Körper ausgeschieden wird. Der Wiederverkörperungs-Gläubige Ouspensky hat aus dieser Einsicht heraus einen neuen Mythos geschaffen, welchen ich tiefsinnig finde: da im betrachteten Falle Besserung aus dem letzt-gegebenen Zustande heraus unmöglich ist, so können seiner Meinung nach solche bis in die untersten Abgründe gefallenen Seelengruppen nur dann einen neuen Aufstieg beginnen, wenn sie sich nicht in der Zukunft, sondern in der Vergangenheit wiederverkörpern, in welcher das später Festgelegte noch wandlungsfähiger Keim war. Solche Umkehrung sei aber denkbar, weil die Zeit mit dem irdischen Leben zusammenfällt, mit dessen Ende darum zu sein aufhört, weswegen die Vorstellung eines Lebens nach dem Tode im Verstande unseres Zukunftsbegriffes sinnwidrig sei.

Je mehr wir uns nun der Grenze der Entscheidung nach unten zu nähern, desto mehr treten die seelischen Realitäten, für welche die Worte Sünde und Unschuld stehen, auseinander. Blicken wir aber aus den untersten Regionen aufwärts, dann erkennen wir, dass der Unterschied, umgekehrt, von höherer zu höherer Stufe verschwimmt und schließlich beide sich gegenüber einem ebenso absolut positiven Zustand, wie Das Böse einen absolut negativen darstellt, verflüchtigen. Das ist das Erlebnis, welches das Christentum Sündenvergebung durch Gott, was das Indertum Befreiung heißt. Die christliche Vorstellung wird der Überpersönlichkeit des Geistes am besten gerecht: Vergebung kann, vom Ich her geurteilt, immer nur seitens eines Anderen, eines Dus, erfolgen; das Erlösende des Vergebens liegt gerade darin, dass der, welcher Verzeihung annimmt, damit eine Sprengung des ihn einkapselnden und damit vom Universellen Geiste abscheidenden Ich-Komplexes erlebt. Das Indertum aber hat den gleichen höheren Zustand exakter als das Christentum beschrieben, insofern es ihn nicht als absolut gut, sondern als jenseits von Gut und Böse belegen kennzeichnet. Er bedeutet das Ergebnis so vieler positiver Entscheidungen, an so viele negative diese auch gebunden waren, dass zuletzt die reine schöpferische Möglichkeit bestehen bleibt und Festlegungen überhaupt unmöglich werden. Diese Möglichkeit aber ist der geistige Ursprung des Menschen.

So erweist sich denn der Zwiespalt der Seele als die vorherbestehende Apparatur, die es dem geistbewussten Menschen möglich macht, über das Zwischenreich hinauszugelangen. Steigt er auf aus ihm, dann vereinigt er sich mit seinem geistigen Ursprung. Fällt er abwärts, so gewinnt das Irdisch-Ursprüngliche Macht über ihn. Aber da der Mensch als solcher letztlich Geist ist, so bedingt der Fall meist nicht Vertierung, sondern wachsende Teilhabe am absolut Bösen. Immerhin: solange der Mensch innerlich lebendig und das will sagen: nicht ein für alle Male festgelegt ist, ermöglicht ihm gerade der Widerstreit der zwei Seelen in ihm, immer erneut zu streben, immer wieder aufzusteigen, so tief er gefallen sei. Damit erweist sich denn der Zwiespalt der Seele, dies sei hier unser letztes Wort, als Voraussetzung möglicher Einbildung des Geistes in die Natur und damit der Sinnesverwirklichung. Darum zog Christus den Sünder dem Gerechten vor. Darum ist der allein je heilig geworden, welcher sich schuldig fühlte und seine Schuld tapfer auf sich nahm. Darum wurde Sokrates, der als einziger Grieche behauptete, nichts zu wissen, zum Vater der Wissenschaft. Darum lebt die Liebe von der Sehnsucht, aller Wille zum Besserwerden und zum Gut-Handeln von der Demut. Darum liegt in der Armut der Ursprung aller Besserung irdischer Umstände. Darum lebt der Glaube vom Zweifel, wächst der Mut an der stündlich besiegten natürlichen Angst. Darum ist, auf welcher Ebene auch immer, in Goethes Worten, nur das Unzulängliche produktiv.

1 Man vergleiche die ausführliche Darlegung des letzteren Falles in den Betrachtungen der Stille S. 94 ff.
Hermann Keyserling
Das Buch vom Ursprung · 1944
Der Zwiespalt der Seele
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