Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Buch vom Ursprung

Das Wunder

Demut und Empfänglichkeit

So sehen wir denn abschließend, dass zum Erleben des Wunderbaren, des Lebens und der Schöpfung als Wunder, an erster und letzter Stelle Demut nottut, wodurch allein jene sich in ihrer ganzen Fülle offenbart. Nicht Demut im völlig missverständlichen Verstand der Selbsterniedrigung anderen Menschen gegenüber, eben weil sie andere sind — bei letzterer handelt es sich selten um Edleres als um eine getarnte (freilich meist von anderen getarnte und durch Suggestion auf den Betreffenden übertragene) Verbeugung vor dem Man, der öffentlichen Meinung — sondern im Verstande unbedingter Empfänglichkeit unter Überwindung der Schranken und Hemmungen, die das empirische Ich setzt. Das Ich ist ja, wie wir früher erkannten, nur ein beschränktes, nur für vitale Zwecke bestimmtes Organ des Selbstes, welches nur dann sinngerecht funktioniert, wenn es nicht mehr vorstellen will, als eben dieses Organ: weil es meist sehr viel mehr beansprucht —, darum ist es so oft zum Missverständnis gekommen, der persönliche Mensch als solcher solle vor anderen abdanken. Worauf es ankommt, ist Demut im Sinn der Empfänglichkeit für das Wunder, besonders gerade auch für das eigene Wunder: mit Recht hieß Goethe die Ehrfurcht vor sich selbst die höchste Ehrfurcht, weil gerade die hierzu erforderliche Einstellung die schwerstzuerlangende ist. Wer vor sich selber Ehrfurcht hat, der ist damit hinaus über Selbstüberhebung und Eitelkeit sowohl als über falsche Bescheidenheit: der bescheidet sich einfach bei dem, was er wirklich ist. Und damit ist er auch über das so schädliche Minderwertigkeitsgefühl hinaus, denn gerade wer dieses betont, beschäftigt sich am meisten im falschen Verstande mit seinem Ich; der verurteilt, anstatt in Ehrfurcht hinzunehmen. Nur aber wer auch sich selber also hinzunehmen fähig ist, kann vor der übrigen Schöpfung ehrlich demütig sein: darum findet man die Prototypen echter Demut unter stolzen Königen und nie unter selbstverachtenden Sklaven.

Wer sich im nun wohl genügend deutlich dargestellten Verstande staunend und in Ehrfurcht aller Schöpfung und deren Ursprung zuwendet, wer sich zumal zur Schöpfung und zum Schöpferischen in sich so verhält — denn jeder ist sich selbst wenn auch nicht notwendig im christlichen Verstand der Nächste, so doch die nächste Gegebenheit — der erlebt alles ganz anders, als wenn er bloß zu verstehen trachtet. Auf dem Wege unseres Vordringens vom Zwischenreich zum Ursprung entdeckten wir schon eine Einstellung, welche Erleben von Ganzheit zu Ganzheit möglich macht: es ist die des Intuitiven, welcher sich unbefangen, unter Abstellung aller Vorurteile und ohne zu urteilen, mit der gesamten Wirklichkeit polarisiert. Alles Intuieren ist nun eine Form von Erkennen; der größere Teil des Menschenwesens bleibt darum bei seinem Funktionieren außer Spiel, und so ermöglicht auch die höchste Form von Intuition nicht das totale und integrale Ganzheitserleben, welchem die ewige Sehnsucht der Identifizierung des Subjekts mit dem Objekte gilt. Diese Sehnsucht lebt nämlich primär auch im Egoisten; keiner ist seines Eingekerkertseins in seinem Iche froh, jeder fühlt, dass er ohne Aufgabe seiner Identität an einer reicheren und weiteren Wirklichkeit teilhaben könnte, wenn ihm nur die Sprengung jenes gelänge. Falsch ist an der Bestimmung dieser Sehnsucht nur die übliche Formulierung ihrer als Sehnsucht der Identifizierung des Subjektes mit dem Objekt: mit einem Objekt als Gegen-Stand kann man sich garnicht identifizieren, wohl aber mit einem Du; und freilich gelangt man allein über diese aus seiner Isolierung heraus. Daher das Beseligende der Liebe, welche die Ich-Kruste wie selbstverständlich sprengt. — Später erkannten wir, im Sinn der letzten Sätze, die aber erst jetzt dem Zusammenhang dieses Buches ausdrücklich eingegliedert werden konnten, in der Liebe die Macht, die den persönlichen Menschen am Überindividuellen und Universellen des Geistes sowohl als der Natur teilhaben lässt, und im Zwiespalt der Seele entdeckten wir das perpetuum mobile, welches den Menschen, wenn er nur ständig strebend sich bemüht, ein unausgesetztes Hinauswachsen über seine jeweilige Beschränktheit möglich macht.

Jetzt aber können wir weiter und damit mehr sagen: nur wer die Schöpfung als Wunder erlebt, nur wo Staunen und Ehrfurcht in der Seele als Dominanten wirken, womit das vorlaute alles-Erklären-Wollen seine Macht verliert, öffnet sich dem Menschen der Zugang zu den Verbindungswegen, welche ihn durch alle Künstlichkeiten und Zwischenreiche hindurch sein Ursprüngliches und zugleich dasjenige der Welt erleben lassen. Dieser ganze Zusammenhang ist deswegen nicht leicht zu überblicken, weil auf der hier gemeinten Ebene schöpferischer Indifferenz der Unterschied zwischen Handeln und Erleiden, Zeugen und Empfangen, Ethos und Pathos verschwimmt, und zwar real verschwimmt, nicht nur für Verstandesbegriffe. Im Rahmen letzterer lässt sich dieser Sachverhalt nur in Form von Paradoxien und Aporien ausdrücken, aber das ändert nichts an dessen realer Existenz. Der Mensch muss von innen heraus als Geist aktiv sein, um zu empfangen. Aber andererseits muss die Seele ihm freiwillig von innen heraus entgegenkommen, um befruchtet zu werden. Alles Sinn-Finden ist in Wahrheit ein Sinn-Geben, aber das höchste Geben gibt nicht den eigenen Sinn, sondern den des besinnten Anderen. Im gleichen Verstande ist alles Verstehen schöpferisches Tun, alles Nehmen ein Geben — daher die Schwierigkeit für die meisten, Geschenke anzunehmen — alles Sehen ein Zeichnen, alles Hören ein Reden oder Singen, alles Erleiden höchste Aktivität; denn nur der, welcher sich dem, was ihn leiden macht, freiwillig hingibt, erleidet es vollkommen. Und genau wie Liebe Liebe beschwört, wobei jeder Pol gleich aktiv beteiligt ist, und Vertrauen Vertrauen schafft, Mut die Gefahr real entwirklicht und umgekehrt Feigheit real die Seele des Gegners stärkt, so ist es das stumme Fragen des Staunenden, welches des Kosmos freiwillige Antwort evoziert, und das demütige entgegen-Gehen des Ehrfürchtigen, der alles Risiko todesmutig auf sich nimmt, welches das sonst Unnahbare dazu bewegt, sich freiwillig dem Menschen zuzuneigen.

Die altchinesische Weisheit lehrt, sicherer als durch Überwältigen-Wollen werde man Herr der Welt, wenn man sich werbend unter sie stellt. (Dieser eine Satz erledigt, nebenbei bemerkt, die Missdeutung, dass alles Warten und Nachgeben und Empfangen weiblichen Charakters sei; der Mann ist es doch gerade, der um das Weib wirbt, und geschieht das Umgekehrte, so erscheint die Weltordnung verkehrt.) In genau gleichem Sinne lehrt alle hohe Religion, der Mensch müsse alle Initiative ergreifen, auf dass Gott sich ihm offenbaren könne, obgleich Er sich viel mehr nach dem Menschen sehnt, als dieser nach Ihm. Hier ähnelt das Verhalten Gottes demjenigen der Frau. Und doch kann der Logos nur als Logos spermatikós (siehe weiter vorne) befruchten. Und nun überschaue man auf einmal alle Anweisungen zu religiösem Leben aller Räume und Zeiten: sie alle besagen letztlich eben das, was wir hier in anderen Worten, zugleich neutraleren und vielseitiger anwendbaren Gehaltes, ausgedrückt haben. Sie alle lehren Lob-Preisen, Danken, Opfern und Beten. Der Intellektualist, welcher vom Loben Gottes liest, lacht laut auf. Aber hier handelt es sich garnicht um Lob und Preis, die nur als primitiver Ausdruck für das Gemeinte richtig zu verstehen sind, sondern um grenzenlose Ehrfurcht und Ehrerbietung. Ebenso handelt es sich garnicht um Dank, denn wenn es schon ganz unmöglich ist, irdischen Eltern gegenüber die theoretisch geforderte Dankbarkeit zu fühlen, so gilt gleiches erst recht gegenüber dem unerforschlichen und unerkennbaren Weltenschöpfer, welcher, vom Weltall her waltend, auf den Einzelnen nie die von diesem erhoffte Rücksicht nimmt: es handelt sich um innigstes Verbunden-Bleiben, um Nicht-Abwendung im Zeichen der gleichen Ehrfurcht; es handelt sich um das Gegenteil des Verhaltens Luzifers. Was indessen das Opfern betrifft, so bedeutet es die Hingabe des Niederen zum Besten des Wachstums des als höher Erkannten, und dies zwar in sich; darum sind von jeher sinnbildliche Opfer üblich. Denn der Geist ist nur als Sinnbild zu materialisieren; darum widerspricht nichts mehr dem Sinn des Selbst-Opfers als Selbstmord zu Ehren Gottes und damit Menschenopfer überhaupt; die Darbringung von Blumen entspricht ihm sehr viel besser. Vor allem aber bedeutet Beten nicht Bitten: es bedeutet Behauptung der Kreatürlichkeit, ein Üben in der Anerkennung des Ich als nicht letzter Instanz; den Sinn aller nur möglichen echten und sinngerechten Gebete resümiert die Vaterunser-Bitte:

Dein Wille geschehe.

Aller Gottesdienst aber bedeutet ehrfürchtige Neigung vor dem Wunder, dem Erstaunlichen, dem Unbegreiflichen, nie zu Begreifenden. Es bedeutet damit ein vollkommenes sich-Öffnen mit dem Vorsatz, nie innerlich abgeschlossen, niemals fertig zu werden, nie ein-für-alle-malige Sicherheit anzustreben. Eben darum wird immer wieder um das gleiche, und zwar seitens der überwältigenden Mehrheit in immer gleicher Form gebetet. Eben daher das Mysterium, das jeden echten Kult umgibt: wäre das Geheimnis jemals ganz entschleiert, gäbe es je gewisses Wissen vom Unwissbaren, dann wäre alle Aufwärtsbewegung des Geistes für alle Zeit vereitelt.

Hermann Keyserling
Das Buch vom Ursprung · 1944
Das Wunder
© 1998- Schule des Rades
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