Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Buch vom Ursprung

Das Wunder

Geistige Sicherheit

Freilich lehrt ausschließlich unsere christliche Überlieferung, dass man letztinstanzlich glauben soll. Metaphysisch und religiös begabtere Völker, als es die Europäer sind, stellten das Realisieren über den Glauben. In Indien gilt keine von Christen aufgestellte Norm mehr für den, der über Name und Form hinaus ist. Dem wissenden Inder ist sein gesamtes alltägliches Leben sakral, zum ehrfürchtigen Staunen und zum Opfer geworden. Ihm ist die höchste Ehrfurcht, diejenige vor sich selbst, zum Mittel geworden, das Transzendente zu realisieren, und von dort her verehrt er alles, auch das geringste, wie sich selbst. Tatsächlich aber stand es mit den größten Gestalten der Christenheit nicht anders. Wie Ramakrishna in jeder Kurtisane die Göttliche Mutter verehrte, so ehrte Jesus Zöllner, Sünder und Ehebrecherinnen, so schuf er das herrliche Sinnbild der Fußwaschung: so fühlte sich der Starez Sossima an jedem Verbrechen, welches irgendwer irgendwann beging, mitschuldig. So sah Franz von Assisi in allen Geschöpfen seine Brüder und Schwestern. Vor allem aber wird die Tatsache der Sakralität gerade des Alltäglichen für höchste Geister dadurch bewiesen, dass sie sich am liebsten in Gleichnissen ausdrückten, deren Tatsächliches dem banalen Leben von Jedermann entnommen war. Und im gleichen Sinn bedeutet gerade das äußerlich ereignislose Leben der Größten für alle Empfänglichen das einleuchtendste Sinnbild für das Außerordentliche. Dies gilt schon vom transzendent Bedeutsamen des Mutter-Kind-Verhältnisses in der Beziehung Mariä zum Jesuskind. Die ganz Großen hatten keinerlei außerordentliche Tatbestände nötig, um Göttliches in diese Welt hineinleuchten zu sehen und zu lassen.

Besonders bedeutsam bei diesen größten Erleuchteten aber war, dass keiner von ihnen urteilte, keiner erklärte, keiner sich je bei einem Zustand beruhigte, keiner je nachließ in seinem Streben, und ob er ein vom Standpunkt anderer vollkommener Heiliger geworden war. Zeitlebens, täglich, stündlich, lebte und handelte jeder von ihnen aus dem einen Entschluss heraus, das Gefühl des Wunders in sich lebendig zu erhalten, so wie das Heilige Feuer vor der Ikone nie verlöschen darf. Damit nun machten diese Begnadeten Abschnürung ihres Ich vom großen Ganzen radikal unmöglich. Damit beugten sie von vornherein und absolut dem Schicksal Luzifers vor, welcher abstürzte, weil er den Zusammenhang mit seinem eigenen Ursprung verlor. Und damit entgingen sie der Grundgefahr jedes sehr hoch entwickelten Menschen, sich selber zuzuschreiben, sich’s dessen anzunehmen, wie Meister Eckhart zu sagen pflegte, was nicht ihr eigen Wesen und Werk war. Es ist viel Schauerliches und Grausames über die Sünde der Abwendung von Gott gesagt worden: in Wahrheit liegt dem Menschen, in welchem die Fähigkeiten des Selbst-Forschens, Selbst-Wissens, Selbst-Urteilens und Selbst-Entscheiden-Könnens erwacht sind, nichts näher, und nichts kann er ehrlicher bekennen vor Gott und Menschen, als Selbstverantwortlichkeit. Darum begann die Menschwerdung gerade im positiven Sinne mit der Sünde. Erst nach Erkenntnis der Grenzen möglichen Wissens ist Wunderglaube im höchsten Sinne möglich; aller vorläufige Wunderglaube ist mit Recht durch Wissenschaft überwunden worden. Erst nach voller Entwicklung des Ich ist seine Überwindung wertvoll, erst nach Erreichung eines sehr hohen Zustandes ist Versuchung tatsächlich Versuchung. Jesus und Buddha wurden wirklich vom Bösen Geist als Ballung des radikal Bösen, welches als Möglichkeit in jedem Menschen lebt, versucht: hätten sie die Ausstrahlung ihres höheren Seins und ihre Wundermacht zu irdischem Vorteil missbraucht, dann wären sie gleich Luzifer abgestürzt, welcher ja selber ein sehr hoher Engel, ja deren schönster gewesen sein soll. Es ist jedoch lächerlich anmaßend seitens eines gewöhnlichen Menschen, und ein reines Missverständnis obendrein, wenn er seinen Ehrgeiz und sein Selbstvertrauen, seinen Wunsch, persönliche Verantwortung zu tragen, ebenso beurteilt. Bei einem solchen bedeutet es gerade Versuchung, und zwar Versuchung seitens der trägen unterweltlichen Gana, nicht aus eigener Kraft alles ihm Erreichbare erreichen zu wollen.

Nunmehr können wir die tiefstgegründete Tugend des Wunderglaubens ganz verstehen: beinahe mathematisch genau an dem Punkte, wo Verstand und Eigenwille ihr Höchstes erreichen, folgt als nächste Etappe, durch ein dem Verstande unbegreifliches Unstetigkeitsmoment hindurch, nicht eine abschließende Erklärung und Beruhigung bei dieser, kein Gefühl erreichter Machtvollkommenheit: es folgt das Staunen und die Ehrfurcht vor dem Wunder und das Gefühl, letztlich für nichts zu können; und früh oder spät erkennt der zunächst Überraschte auch, warum dem also ist: dank dem allein ist perpetuelle Aufwärtsbewegung gewährleistet. Das perpetuum mobile, welches im Zwiespalt der Seele organisch vorgebildet liegt, gelangt so erst in vollen Schwung und wird so erst zum Motor des ganzen integralen Lebens. Glauben kann nie zu Wissen werden, die Folgen keiner Entscheidung sind je gewiss, Mut begegnet immer wieder der Gefahr des Untergangs: gerade in der Bejahung des nie-Gewissen, des ewig-Gefährlichen, des unüberwindlichen Risikos in letzter Instanz betätigt sich die Elementarkraft des ursprünglichen Geistes, welcher aus eigenem Rechte lebt. Und nur so kann sie ins sichtbare Leben hineinbeschworen werden. Alle Großen fühlten auch, dass dem so ist. So lehrte Luther zu arbeiten, als ob das Beten nichts nütze, und zu beten, als ob das Arbeiten nichts nütze; Calvin die nie gewisse Gnadenwahl, die sich aber doch irgendwie am Erfolg bewähre und gleichzeitig nie durch diesen erwiesen sei; gleichsinnig legt der Katholizismus allen Nachdruck auf den übermächtigen Primat der im Sakralen und Sakramentellen manifestierten, doch nie zu begreifenden und hienieden nie zu verwirklichenden Überwelt. Die indische Weisheit kennt überhaupt kein Ziel; sie lehrt, im Gegenteil, dass Sehnsucht nach dem Himmelreich Sünde ist. Die chinesische lehrt nur Gleichgewicht im Sinn von Maß und Mitte anstreben inmitten allseitiger, nie zu erschöpfender Unendlichkeit. Für den heutigen Europäer jedoch, welcher viel zu lange nach Sekurität gestrebt hat, und sei es die im Schoß durchschauter, aber von Mehrheiten als Wahrheit anerkannter Lüge, liegt der erste und vornehmste Sinn aller Religion darin, dass sie ihm die hohe Schule sei der Bejahung der Unsicherheit.

Damit erweist sich denn das Reich der höchsten Geistigkeit, welches der Mensch für sich erobern kann, als Reich der reinen Freiheit. Wille zur Freiheit und Wille zur Sicherheit schließen einander aus. Und für den geistigen Menschen zählt an erster Stelle die geistige Sicherheit. Diese schafft subjektiv — und nur das Subjektive zählt auf dieser Ebene — das als endgültig angenommene Wissen. In diesem Aber-Wissen liegt heute die größte Gefahr, viel mehr so als im Aber-Glauben, der ja von Fall zu Fall leicht als falsch zu erweisen ist. Von hier aus verstehen wir denn ganz den letzten Sinn des Freiheitsstrebens überhaupt: gemeint ist in allen Fällen die hier von mir in großen Strichen umrissene reine Freiheit des Geistes. Aber der Mensch pflegt sich selbst weit mehr und vor allem viel tiefer misszuverstehen, als die Außenwelt, denn sich selber sieht er ja nicht. So ist Freiheit der Unterwelt zu aus aller Geistesordnung hinaus des Freiheitsstrebens häufigstes Ziel. Man höre Dostojewsky:

Ich würde mich durchaus nicht wundern, sagt der Held der Aufzeichnungen aus dem Unterreich, wenn plötzlich so mir nichts dir nichts, inmitten der allgemeinen zukünftigen Vernünftigkeit, irgendein Gentleman mit einem unvornehmen oder besser gesagt mit einem reaktionären und höhnischen Gesicht auftaucht, die Hände in die Seiten stemmt und uns allen erklärt: Nun, meine Herrschaften, ob wir nicht diese ganze Vernünftigkeit über den Haufen werfen, mit einem Fußtritt, in den Staub, einzig zu dem Zweck, all diese Logarithmen zum Teufel zu schicken und wieder einmal unserem freien Willen leben zu können… Und als das aus dem lächerlichsten Grunde, nämlich darum, weil es dem Menschen immer und überall, wer er auch sei, so zu handeln beliebt, wie er wollte, und durchaus nicht so, wie Vernunft und Vorteil es ihm geboten. Das eigene freiwillige und freie Wollen, die eigene selbst tollste Laune, das eigene Phantasiegebilde, vielleicht bis zum Wahnsinn gesteigert — das ist ja gerade jener filtrierte vorteilhafteste Vorteil, der sich keiner Klassifizierung fügt und an dem zerschellend alle Systeme und Theorien zum Teufel fliegen. Der Mensch braucht allein nur ein selbständiges Wollen, was das auch kosten, wohin das auch führen mag. Es kann unter anderem vorteilhafter als alle Vorteile sein, selbst dann, wenn es uns offensichtlichen Schaden bringt, da es uns auf jeden Fall das Allerwichtigste, das Allerwertvollste erhält — unsere Persönlichkeit und unsere Individualität.

Hier äußert sich jener Wille zur sozusagen negativen Freiheit, welcher die Haupttriebfeder aller Massenaufstände war. Aber zuletzt wollen auch die Chaotiker anderes: sie wollen die positive Freiheit, die Freiheit im Geist. Eine gleich absolute Freiheit, ja — man verzeihe mir den Komparativ eine noch absolutere, nämlich eine Freiheit, von welcher her der Begriff der Gebundenheit keinen Sinn mehr hat. Es ist die Freiheit des nie zu bindenden Geistes, der sich nur selber freiwillig binden kann, bei dem die Freiwilligkeit also wirklich das letzte Wort bedeutet. Es ist die Freiheit aus dem Ursprung und im Ursprung, von welcher die Freiheit des geistigen Schöpfers die erste verständliche Instanz darstellt. Diese echte Freiheit scheut überhaupt keine Bindung, weil sie an sich garnicht zu binden ist: andererseits fügt sie sich frei-willig den bestehenden Normen des empirischen Geschehens ein, wo keine neuen Normen erforderlich sind, um dem Korrelationsgesetz von Sinn und Ausdruck Genüge zu leisten: in letzterem Falle ist eine Ein-Bildung des Geists in die Natur ohne Zerreißen alter Bindungen nicht möglich. Und diese Einfügung erfolgt sogar als normaler Weg der Geistesverwirklichung unwillkürlich: so ordnet sich die Inspiration des Dichters unwillkürlich den Regeln des Sonettes ein, so befolgt der Musiker unwillkürlich diejenigen von Harmonie und Kontrapunkt. Was der Freiheit hingegen unbedingt widerspricht, ist die Akzentlegung auf die Bindung und Gebundenheit. Darum war Christus Todfeind der Gesetzesgerechten, obgleich er andererseits das Gesetz nicht aufheben, sondern erfüllen wollte. Darum ist jeder ursprüngliche Geist unversöhnlicher Gegner des Zwischenreichs, welches sich darüber, was er anstreben, lehren und tun darf, zu entscheiden anmaßt. Darum ist er vor allem Todfeind jedes Abschließen-sollenden Wissens. Geist lebt nur in der Freiheit und von der Freiheit und aus ihr heraus. Er ist nur, solang er sich für sich im Grenzenlosen bewegt. Darin besteht — natürlich auch nur in entfernter Annäherung gefasst, aber doch in weniger entfernter, als von den üblichen Fassungen gilt — jene Unendlichkeit und Ewigkeit und Absolutheit, nach welcher jeder sich als nach seinem Ursprung sehnt. Der Versklavung durch das Wissen — für den heutigen Menschen der gefährlichsten aller Versklavungen — nun entrinnt der allein, welcher immerdar ein Staunender bleibt. In welchem immerdar die innere Bereitschaft lebt, alles Gesetz irgend einmal, ganz plötzlich, unversehens, durch ein Wunder durchbrochen zu sehen.

Stellt einer sich nun dergestalt ein, dann tritt das Wunder wirklich in sein Leben ein. Dann untersteht er nicht mehr dem Kausalgesetz, sondern dem, was man auf frühen Erkenntnisstufen Führung heißt. In Wahrheit ist es garnicht Führung im Sinn von Geführtwerden, denn in diesem Prozesse spielt gerade der freie Wille des Einzigen die entscheidende Rolle. Was tatsächlich erfolgt, ist dies: es bildet sich und wirkt fortan eine direkte Verbindung des inneren Menschen mit den kosmischen Kräften in deren ganzer grandioser Unübersichtlichkeit, so dass die Vereinzelung des durch eben diese Verbindung vollkommen freigewordenen Menschen nunmehr zu bestehen aufhört und man von ihm überhaupt nicht mehr sagen kann: jenes tut er und dies geschieht mit ihm. Er tut gerade das, was ihm allem äußeren Anschein nach geschieht, und es geschieht ihm gerade das, was er tut. Auf dieser Stufe gilt keinerlei allgemeingültige Norm mehr. Ihre Gültigkeit verliert auch die sonst unüberbrückbare Scheidung zwischen Ich und Nicht-Ich, zwischen Ich und Du. Aller Geistesausdruck ist in erster und letzter Instanz Sinnbild. Darum stellt er, so genau das Gesetz der Korrelation von Sinn und Ausdruck befolgt sei, nie eine letzte Instanz dar. Jeder bestimmte gemeinte Sinn spiegelt zugleich tiefergelegene, die ihn von innen her bedingen und bis zu denen durchschauend vorzudringen möglich ist. Damit bedeutet jeder Ausdruck mehr, als er sagt. Nun erlebt der Mensch auch nur in Sinnbildern: darum kann das, was ein anderer darstellt, für ihn Persönlichstes bedeuten, Persönlicheres, als er selber darzustellen vermöchte. Hiermit aber erweist sich, dass Sinnbildlichkeit zugleich Stellvertretung bedingt.

Hermann Keyserling
Das Buch vom Ursprung · 1944
Das Wunder
© 1998- Schule des Rades
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