Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Buch vom Ursprung

Das Wunder

Freiheit und Glaube

Wie ein Wort für ganz anderes stehen kann, als es nach dem Lexikon bedeutet, so kann ein Mensch anderen und historisch anderes bedeuten, als er selber darstellen will; so vertritt ein geistbestimmter Mensch nach irgendeiner Richtung real alle anderen. (Hiervon sind die behördlichen und politischen Repräsentationen ein schwacher Abglanz und zugleich eine Karikatur.) Im Geisteskosmos hängen offenbar alle geistbestimmten Menschen zusammen, so wie alle Sinnbilder zusammenhängen, die einander spiegeln können. Jeder von Einem erlebte Sinn findet in anderen Erlebenden ein persönliches Echo. Darum ist der Gedanke Eines allemal für alle gedacht, darum ist, was Einer tut, stellvertretend für alle getan. Hier handelt es sich um weit Wesentlicheres, als das sogenannte gute oder schlechte Beispiel, auch um viel mehr als um Verantwortlichkeit: es handelt sich um unauflöslichen Zusammenhang. Wie eine einmal gemachte Erfahrung, eine einmal gefällte Entscheidung, ein einmal durchgekämpfter Kampf oder ein einmal tiefdurchlittenes Leid die Betreffenden oder Betroffenen für immer verwandelt, so wirkt das gleiche Einmalige auch im Menschheitskörper. Daher das Einmal und niemals wieder, welches das Grundprinzip aller Geschichte ist. Hier wurzelt die Wahrheit und vor allem das Einleuchtende der dem Verstand unfassbaren Idee von Christi stellvertretendem Tod. Hier ist denn auch der Punkt, wo persönliches, menschheitliches und kosmisches Schicksal zusammenhängen und ineinander übergehen, und gleichzeitig freies Wollen und Notwendigkeit. Hätte Jesus nicht als Sühnopfer sterben wollen, sein Tod wäre bedeutungslos geblieben.

So setzt, in Fichtes Sprache, das kosmische Schicksal recht eigentlich die Letztinstanzlichkeit der Freiheit. Ohne Freiheit gäbe es das nicht, was wir Menschen unter Schicksal verstehen. Aber der Zusammenhang lässt sich auch umgekehrt betrachten, und vollständig übersieht man ihn nur, wenn man beide Aspekte gleichsam stereoskopisch in eins zusammenschaut. Hier setzt denn das Wunder wieder ein. Alle wirklich bedeutenden Menschen haben immer wieder dank im rechten Augenblicke sich ereignender Wunder ihr streng persönliches Schicksal erfüllt: einerseits beschworen sie diese, denn ohne rechte persönliche Initiative im rechten Augenblick wäre keines wirksam geworden; andererseits wurden sie sozusagen gelebt, denn ohne dass sich Gelegenheiten dazu boten, hätten sie nicht im Sinn ihres Schicksals persönlich eingreifen können. Und ebenso bedeuten die Eingebungen, welche schöpferischen Geistern zuteil wurden, alle Male Wunder. Fast jeder wurde durch diese genau so überrascht, wie durch unvoraussehbare Zufälle. Hier gibt es kein Jenseits der Paradoxie. Aber eben diese regiert das Innere des in seinem Ursprung verwurzelten Menschen. Ursprünglich hat er an ihr teil, und darum kann er das sinngemäß leben und wirken, realisieren und im Bewusstsein spiegeln, was er nicht mehr begreifen kann.

Auf diese letzte Paradoxie ist der im echten Sinne Wundergläubige letztlich eingestellt. Und darum kann sich die ganze Tiefe der Wirklichkeit bis zum Ursprung hinan oder hinab in ihm und durch ihn offenbaren und zugleich ihre Spiegelung in seinem Bewusstsein finden. Hier wurzelt alles Sein und Können der großen Offenbarer. Heilige Männer haben ohne Zweifel durch ihr Gebet geheilt; und nicht zwar Gläubige allein — auch gänzlich Ungläubige und Ferne, welche nichts von ihrem Beten wussten. In unseren Tagen nimmt Therese von Konnersreuth erwiesenermaßen die Leiden Anderer auf sich und leidet sie durch für sie, während die Anderen genesen. Wo ein Geist nach innen zu vollkommen geöffnet ist, da braucht er nicht mehr zu reden, um zu wirken; seine verschwiegendsten Gedanken verändern unmerklich die Seelen und mit ihnen und durch sie die Zustände der Welt. Oft ist bemerkt worden, dass einem bestimmten Geist die Zeitumstände entgegenkommen: das war allemal dann, wenn er sich seinerseits innerlich denselben zu bewegte. So kann ein bis zu seinem Ursprung vertiefter Geist, ohne etwas zu tun, alles Geschehen in eine neue Richtung lenken. Ja, besteht die entsprechende Bereitschaft — die freilich selten genug bestanden hat — dann wird sogar das Erstaunlichere wahr, was Konfuzius also formulierte:

Ein vornehmer Mensch kann, indem er ein Leben der schlichten Einfalt führt, der Welt Frieden bringen.

Hier gibt es alle nur denkbaren Stufen der Vereinigung des Menschen mit seinem Ursprung, dank welcher jener unter Umständen Macht über unermeßliche Räume und Zeiten gewinnen kann.

Doch da es sich hier dann allemal um Wunder handelt, so kann man nur sinnbildlich darüber reden, wenn man nicht lügen will. So ist es sinnbildlich wahr, so unrichtig es im übrigen sei, was die altchinesische Weisheit behauptete: wenn der Kaiser seine Person in Ordnung gebracht hat, dann wird es auch allemal rechtzeitig regnen. Oder wenn Paulus nach seiner Erleuchtung erklärte:

Nicht ich lebe, sondern Christus lebt in mir.

Von einem ähnlichen Grade der Vereinigung mit dem Übermenschlichen schrieb der große Mystiker des orthodoxen Ostens, der Heilige Symeon der neuere Theologe:

Es kam ganz — urplötzlich, vereinigte sich unfassbar, verband sich unsagbar und vermischte sich ohne Vermischung mit mir, wie Feuer in das Eisen und Licht in das Glas hinein.

Doch es ist nicht notwendig, dass ich mit Zitaten aus den Kundgebungen großer Offenbarer Seiten fülle. Wen ihre Offenbarungen angehen, der wird sie auch ohne mich entdecken. Was uns hier angeht, ist die Ur-Paradoxie, dass der letzte Schritt dem Ursprung zu nur auf dem Wege des Wunders möglich, und dass das Wunder in seinem Eingreifen von der Einstellung auf dasselbe abhängig ist. Tatsächlich ist nun jedermanns Existenz der Wunder voll. Und noch habe ich keinen gesehen, der, was immer er in Worten behaupten mochte und was der in seinem Bewusstsein vorherrschende Verstand auch ehrlich behaupten durfte, inbezug auf sich selber und sein Schicksal nicht letztlich ans Wunder geglaubt hätte. Das Experimentum Crucis ist auch in diesem Falle an der Liebe anzustellen, der einen psychischen Macht, welche, jedermann zugänglich, aus dem Ursprung stammt und mit dem Ursprung vereinigt. Hier glaubt jeder, was immer er sich und anderen vorrede, dass es eine oder einen richtigen für ihn gibt, oder doch dass alle wesentlichen Begegnungen nicht zufällig, sondern schicksalsmäßig erfolgen. Und hier wird auch jeder, welcher den Glauben erstickend seinem Verstande folgte, hart dafür gestraft. Das einzige nicht irreführende Sinnbild aus dem Bereich des Rationalen oder Rationalisierbaren bietet die Ouspensky’sche Vorstellung einer vierten Dimension, in welcher alles das zusammenhinge, was im Rahmen der drei übrigen getrennt scheint, auf welche Vorstellung wir weiter vorne hinwiesen. Aber auch diese Vorstellung ist, soweit sie wahr ist, nur als Sinnbild aufgefasst wahr; man hüte sich, sie zu zerdenken. Man hüte sich vor jeder Rationalisierung des Schicksals, denn jede rächt sich bitter dadurch, dass sie es dem Menschen unmöglich macht, sein Schicksal zu erfüllen. Man kann nur vom Wunder in sich her und damit für die Wunder außer sich bereit die Schöpfung richtig erleben und damit die Tiefenkräfte des Geists ins empirische Leben hineinbeschwören. Hier setzt denn das Letztentscheidende am Problem des Wunders ein. Der Glaube, wo mächtig vorhanden, ist wirklich die ausschlaggebende Macht. Der Sinn, tief erfasst, schafft wirklich allen Tatbestand. Die freie Entscheidung bedeutet wirklich das kosmisch letzte Wort. Darum ist wirklich wahr, was Chinas Weisheit also formulierte:

Wie die Menschen sind, so erscheint die Welt.

Eine das Wunder verleugnende Welt wird öde und leer. Eine den Geist verachtende Welt wird real geistlos. Eine nur an Mechanik glaubende Welt wird zur Maschine. Der Mensch, der seinen Ursprung verleugnet, schnürt sich tatsächlich ab von ihm. Damit nun erweist sich die Freiheit als des Menschen erstes sowohl als letztes Wort. Das aber ist das größte aller überhaupt denkbaren Wunder.

Hermann Keyserling
Das Buch vom Ursprung · 1944
Das Wunder
© 1998- Schule des Rades
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