Schule des Rades

Hermann Keyserling

Zur Wiedergeburt der Seele

Das religiöse Problem

Metaphysische Wirklichkeit

Hiermit wären wir so weit, das gesamte religiöse Problem vom Sinn her richtig einstellen zu können. Vom Naturzusammenhang her beurteilt ist das Ethos des Menschen letzte Instanz. Jede Akzentlegung auf das Pathos würdigt ihn zu einem Untermenschlichen herab. Gewiss hat jeder seine pathische Natur-Seite, also die Minus-Seite im Sinn von Oscar A. H. Schmitz mit auszuleben, die als Gebundenheit an das physisch und psychisch Kollektive nun einmal besteht. Die richtige Lösung dieses Problems ist sogar praktisch äußerst wichtig, denn alle Harmonie der empirischen Persönlichkeit beruht darauf, weshalb Erzieher und Ärzte es so wichtig als nur möglich nehmen sollen. Doch geistig und metaphysisch ist es ohne jeden Belang; tatsächlich ohne jeden, weil ja nur irdisch Unzulängliches geistig produktiv erscheint. Hier kommt einzig Pathos gegenüber dem in Frage, was in der Region des Transsubjektiven oberhalb des einzigen freien Individuums west.

Damit sind wir denn zum Schlussglied der die religiösen Ansprüche der Klages- und Analytiker-Gefolgschaft erledigenden Gedankenkette gelangt. Wie dieses Buch von den verschiedensten Gesichtspunkten her bewiesen hat, ist die Dimension des Metaphysischen die der Einzigkeit. Nur bei diesem Einzigen setzt religiöse Problemstellung deshalb sinnvoll an. Der letzte Sinn der Klages- und Analytiker-Philosophie liegt demgegenüber darin, dass des Menschen Einzigkeit nicht seine letzte Instanz ist. Nun, ist dem so, dann gibt es auch ganz gewiss keine metaphysische Wirklichkeit. Dann gibt es auch kein religiöses Problem. Entweder – oder. Was immer allgemein oder kollektiv ist, bedarf zu seiner Deutung keiner metaphysischen Voraussetzungen. Es gibt aber keinen tiefen und sich selbst tief verstehenden Menschen, noch gab es ihn je, seitdem der entsprechende Entwicklungsgrad der Psyche erreicht ist, der nicht ganz selbstverständlich davon ausginge, dass es gerade auf sein Einziges in allen Hinsichten letztlich ankommt. Es gibt kein einziges Wesens-Problem, dem nicht eben diese Voraussetzung seinen ganzen Sinn gäbe. Es gibt weiter keins, das nicht unter dieser Voraussetzung der Lösung fähig erschiene. Selbstverständlich gibt es kluge und echte Menschen, die das nicht einsehen: vom Blinden ist keine Schau zu verlangen. Dass jedoch Blindheit Blindheit ist und bleibt, erweist sich bald genug an der historischen Wirkung: über alle Antimetaphysiker aller Zeiten schritt das aufsteigende Leben wieder und wieder hinweg. Und ebenso geschah es mit allen Leugnern religiöser Wirklichkeit. Die Geschichte hat erwiesen, was immer Einzelne einwenden mögen, dass das religiöse Problem das letzt-Wirkliche vom Standpunkt des Menschen ist.

Hermann Keyserling
Zur Wiedergeburt der Seele · 1927
Das religiöse Problem
© 1998- Schule des Rades
HOMEPALME