Schule des Rades

Hermann Keyserling

Wiedergeburt aus dem Geist

I. Werden und Vergehen

Sinnbild der Musik

Seitdem es Menschen gibt, ist der Musik eine Vorzugsstellung unter den Künsten zugestanden worden. Bewusster- oder Unbewusstermaßen hat sie von jeher als Ausdruck und Vermittlerin von Kosmischem gegolten, von einem Jenseits des Menschen, wo die anderen Künste in ihm ihren Ursprung hätten. Und seitdem es Weltanschauung gibt, hat die Sonderstellung der Musik, so oder anders, metaphysische Ausdeutung erfahren. Esoterische Lehren berichten allerorts, dass die Erscheinung gewisser Ebenen höherer Geisteswirklichkeit in Tönen bestehe. Gesang und Harfenspiel gilt als die Sprache der Engel. Die Pythagoräer kündeten von der Harmonie der Sphären; ihnen war die Ordnung der Sterne nicht nur symbolisch, sondern tatsächlich ein Problem von Harmonie und Melodie. Die erste philosophische Theorie nun, die dem Sondercharakter der Musik gerecht zu werden versucht, stammt von Schopenhauer: Musik sei ein wesentlich anderes als die übrigen Künste, weil sie den Willen an sich (für Schopenhauer das Wesen der Welt) unmittelbar ausdrücke, während die übrigen Schöpfungen nur Ideen, d. h. Objektivationen des Willens zur Darstellung brächten. — Wie beschaffen das Wesen der Welt sei, können wir nicht sagen. So viel ist aber gewiss: Musik kündet wirklich von Tieferem als alle anderen Künste insofern, als sie den Gefühls- und Triebgrund des Lebens unmittelbar zum Ausdruck bringt. Dieser ist wirklich, nach innen zu betrachtet, ein Jenseits der sonstigen Lebenserscheinungen, denn er liegt jenseits aller Differenzierungen, als deren aller Mutterschoß. Und da alle übertriebhaften Lebenskräfte nur Teilausdrücke des Lebens sind, die sich überdies — wie im Fall der Gedanken und Bilder besonders deutlich — gesondert herausstellen lassen, während das Leben selbst, als schöpferische Entwicklung, ein Unauflösliches ist, so betrifft das ursprüngliche Bewusstsein und Identitätsgefühl eben jenen Mutterschoß. Schon deshalb muss Musik den Menschen tiefer ergreifen als jede andere Kunst, muss sie sogar den Unmusikalischen bewegen, denn einen Menschen, der keine Gefühle und Triebe hätte, gibt es nicht.

Auf den Primitiven, welcher nur Trieb ist, wirkt sie geradezu magisch. Dem Differenzierten hinwiederum bedeutet sie deswegen so viel, weil sie nur Allgemeinstes, nichts Bestimmtes sagt (daher das grundsätzliche Missverständnis jeder Programm-Musik) und ihn dadurch, dass hier auf seiner Ebene Differenziertes zugleich zum Sprachrohr von Ursprünglichem wird, den verlorenen Müttern wieder nahebringt. Diese Wirkung der Musik steigern nun weiter zwei äußerliche Umstände. Bei ihr allein von allen Künsten sind Form und Inhalt, Sinn und Ausdruck nicht nur in der Idee oder als Ideal, sondern auch technisch untrennbar; genau wie beim Leben selbst, vermag keine Beobachtung noch Reflexion in ihrem Fall die gegebene Synthese aufzulösen. Endlich stellt sich unter den Künsten Musik allein, auch hier wie das Leben selbst, nur in Form unmittelbar-subjektiven Erlebens als Erscheinung dar. Was ist uns Leben, sofern es nicht erlebt wird? Man verweile hier nicht bei den Schwierigkeiten des Bewusstseinsproblems: es gibt kein Leben ohne Subjekt, ein Prinzip, das von innen heraus, auf das äußere antwortend, also dieses erlebend, regiert, und beim Menschen ruht aller Nachdruck auf dem Subjektiven. So existiert Musik nur, insofern sie erklingt. Als bloß geschriebene Partitur ist sie nicht da. — Wir haben sonach an der Musik, was immer sonst der Fall sei, das vollkommene Gleichnis des konkret erlebten Lebens und damit wirklich ein anderes, als jede andere Kunst es bieten kann.

Immerhin ist das Gleichnis ein einfacheres als das Vorbild. Dank ihrem für den Verstand rein formalen Charakter ist Musik vieldeutig nur in ihrer eigenen Dimension; nie kann der geringste Zweifel darüber bestehen, worin sie sich von dem, was nicht Musik ist, unterscheidet. Darum könnte ich am Tagungseingang das allgemeine Problem des Lebens in seiner Eigenart nicht deutlicher bestimmen, als indem ich es am Sinnbild der Musik behandele. Sonderansichten seiner, Sonderausdrücke, Sonderrichtungen kann Verstand begreifen: das Letzte und Äußerste, die Voraussetzung aller möglichen Bestimmungen, die unauflösliche Einheit des strömenden Lebens selbst, lässt sich in Begriffen nicht fassen. Nur dadurch kann diese zu verstandenem Erlebnis werden, dass ein evidentes Sinnbild spontan von Fall zu Fall die entsprechende Sinngebung auslöst. In der Musik nun leuchtet unmittelbar ein, was am Leben am schwerstverständlichen scheint und zugleich seine einzigste Eigenart bezeichnet: ihre Wirklichkeit ist ein Verlaufen in der Zeit, ein unauflösbares Wechselverhältnis von Werden und Vergehen.

Hermann Keyserling
Wiedergeburt aus dem Geist · 1927
I. Werden und Vergehen
© 1998- Schule des Rades
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