Schule des Rades

Hermann Keyserling

Wiedergeburt aus dem Geist

I. Werden und Vergehen

Dimension der Solidarität

Musik ist nur, insofern sie vergeht. Das Verklingen der Töne ist genau so wesentlich wie ihr Anklingen. Ein Ton muss sterben, auf dass der andere lebe, der eine abnehmen, auf dass der andere zunehme. Klingt ein verklungener Ton anscheinend wieder an, so ist es wohl der gleiche, aber nie derselbe — der einmal verklungene ist für immer hin. Denn da alle musikalische Wirklichkeit in konkretem Erlebtwerden besteht, so kann von Identität nicht die Rede sein, wo der Bewusstseinsträger sich gewandelt hat. — Was gilt vom Leben anderes? Es ist durchweg Prozess, fortschreitende Wandlung in der Zeit, ein Geborenwerden und Sterben und Wiedergeborenwerden, in Buddhas Gleichnissprache ein Wachstums- oder Ernährungs- oder Verbrennungsvorgang, oder Bewegung auf einem Weg, der eben durch sie entsteht. Hier gibt es kein anderes Sein als eben den Vorgang, der in der endlosen Ablösung von Toden und Geburten besteht. Jedes Heute lebt nur, insofern ein Gestern verstarb. Dies gilt von den Zuständen im Einzelbewusstsein nicht minder wie von der Folge der Geschlechter, Nationen, Kulturen und Epochen. Kehrt ein Gewesenes wieder, so ist dies allemal nur scheinbar so, denn da Leben nur als Ausdruck eines Subjektes wirklich ist, so entscheidet der Zustand des jeweiligen Augenblicks, welcher immer ein Neugeborenes ist, gleich dem Wellenkamme, der, als dauernde Einheit erscheinend, jeden Moment aus anderem Material besteht. Die sich häufende Erinnerung verändert die Bewusstseinsbasis; das eigene Tun und Lassen modifiziert das Sein.

Mit jedem Kinde tritt eine neue Seele in die Welt. Nie ward eine falschere Behauptung aufgestellt als die, dass es nichts Neues unter der Sonne gäbe: im Reich des Lebendigen gibt es vielmehr ausschließlich Neues. Dies erweist sich besonders deutlich am Kontrast mit der ewigen Wiederholung, als welcher sich der Lebensfluss, äußerlich betrachtet, darstellt: gleiche chemische Reaktionen, gleiche Typen, gleiche Formen, gleiche Schicksale kehren immer wieder. Das sich Gleichbleibende betrifft überall nur das Material. Das Wesentliche ist das Einmalige, das Einzige. Jede Liebe als Erlebnis ist schlechterdings originell, jeder Zustand nie dagewesen, nie wiederkehrend. Gerade diese Einmaligkeit alles wirklich gelebten Lebens nun lässt das Sinnbild der Musik, soweit als überhaupt möglich, verstehen. Deren Materie — die Skala der Töne im Rahmen ihrer Verknüpfungsgesetze — bleibt sich überall gleich. Aber jeder Komponist schafft ein völlig Neues aus ihr. Und nicht nur er: jeder Virtuos gestaltet aus gleicher Schöpfung Neues; die Auffassung verändert den ganzen Tatbestand. Und dies geht weiter über den Spieler bis zum Hörer. Beim Leben kann man eben vom Erleben niemals absehen. Das Subjektive ist dessen eigenste Dimension. Musik und Leben bieten sonach das gleiche Bild. Beide sind aus dem Zeitstrom nicht herauszuheben. Und schon Heraklit lehrte: man kann nicht zwei Male in den gleichen Strom steigen.

Die Musik besteht aus individuellen Tönen, Motiven, Themen, Melodien, Akkorden, Harmonien und deren Zusammenfassungen zu höheren Einheiten. Sie hat nicht eine Dimension, sondern zwei — die der Folge und die der Gleichzeitigkeit, entsprechend den Grundkategorien der Melodie und Harmonie. Vom Leben gilt gleiches. Auch dieses besteht auf allen seinen Ebenen aus Einheiten verschiedener Ordnung, die hierarchisch zusammenhängen. Auch beim Leben sind diese auf zwei Dimensionen bezogen, von denen die eine darin besteht, dass ein Wesen auf Kosten der anderen, die andere darin, das eines für das andere lebt. Alles Leben bewegt sich in beiden Dimensionen zugleich. Es ist unmöglich, selber zu leben, ohne anderem dadurch irgend etwas zu nehmen. Vom gegenseitigen Sich-Fressen der Tiere aus ist eine bessere allgemeine Bestimmung des lebendigen Urphänomenes zu gewinnen als von dem nobelklingenden Begriff des Kampfs ums Dasein. Schon der Stoffwechsel wäre fühlenden Atomen ein Grausiges. Die Abhängigkeit der Vollendung jeder jungen Generation vom Ende der älteren ist es jedenfalls. Und was den Daseinskampf betrifft, so ist dieser auf allen Ebenen grundsätzlich einer auf Leben und Tod, ob es sich um Firmen, Völker, Götter, Glauben, Werte handelt. In seiner einen Dimension lebt eben ein Leben notwendig auf Kosten anderer. Aber ebenso notwendig lebt jedes für das andere.

Jeder Zelle Eigenleben spielt eine notwendige Rolle im Gesamtkörper. Bei niederen Tieren verschwimmt die Grenze zwischen Individuum und Organ. Die Korrelation der Tiere untereinander — die von Klee und Bienen bietet das klassische Beispiel — ist Urphänomen nicht minder wie die der Organe im Einzelleib. Indem sie leben und sterben, opfern die Eltern sich recht eigentlich für ihre Kinder auf. Entsprechendes gilt vom Helden für sein Volk. Und in dieser Dimension betrachtet, die allem Leben nicht minder eigentümlich ist, erscheint schließlich alles Leben, im Nehmen und Geben, in Freude und Leid, in Schuld und Sühne recht eigentlich stellvertretend. Es verantwortet der Einzelne für alle genau im gleichen Sinn, wie ein krankes Organ den ganzen Körper krank macht. Daher die Bedeutung richtiger Vorbilder und Führer, das Verhängnis falscher. Ins Musikalische zurückgedeutet: die Dominante gibt jedem Akkorde seinen Sinn; eine einzige falsche Note, welche fortklingt, verdirbt eine ganze Melodie. So besteht innerhalb alles Lebens, auf allen seinen Ebenen, tatsächlich unbedingte Solidarität. Die Funktion eines Welterlösers gehört, von hier aus betrachtet, dem gleichen Zusammenhange an und darf als grundsätzlich für ebenso möglich gelten, wie die der Zelle, welche stellvertretend in der verstümmelten Seeigellarve eine Aufgabe der Wiederherstellung leistet, die nicht in der Richtung ihres ursprünglich persönlichen Schicksals lag und ihr nun überpersönliche Bedeutung verleiht.

Ob das Leben aber in der Dimension der Solidarität oder der des Daseinskampfes betrachtet wird — überall hängen Werden und Vergehen notwendig zusammen. Sie sind eben dasselbe, bezeichnen letztlich nur verschiedene Aspekte des Gleichen. Überall ist Destruktion die Voraussetzung und der Weg zugleich der Neukonstruktion. Jeder Neuerer ist der ursprünglichen Anlage nach Zerstörer. Ebenso verhilft, wer vernichtet, damit zwangsläufig Neuem zum Entstehen. Hier nun stellt sich die Frage: auch beim Unbelebten, wo es überhaupt wird, fallen Werden und Vergehen zusammen, handelte es sich um das Aufgehen der Elektronen im Atom, der Atome im Molekül oder anderes — worin unterscheidet sich dann lebendiges Werden vom Toten? Der Unterschied ist der gleiche, wie der zwischen Musik und Geräusch. Hier wie dort verläuft das Werden und Vergehen durch gleiche akustische Elemente hindurch. Aber in jenem Falle hat es einen bestimmten Sinn. Dort erscheint die kosmische Urbewegtheit einem besonderen Zusammenhange eingeordnet. So hebt sich das lebendige Werden und Vergehen aus dem schwingenden Urstoff als ein besonders Geordnetes heraus, als melodisch harmonisches Ganzes gegenüber dem rauschenden Chaos. Hier wären wir denn von einer neuen Seite her zum Grundbegriff des Lebens gelangt: dieses stellt einen Sinneszusammenhang dar. Aber der neue Weg zeigt die Grundwahrheit eben von einer neuen Seite und gestattet dadurch Bestimmungen, die von früheren her unmöglich waren.

Es erscheint jetzt zum ersten Male deutlich, inwiefern der Sinn ein jenseits von Rational und Irrational bedeutet: jede Musik schließt beiderlei zu höherer Einheit zusammen. So ist alles Leben, nicht nur das übernatürliche, eine Synthesis von Eros und Logos, und der Sinnbegriff betrifft eben deren Gesetz; mit ihm fasst der verstehende Geist eine Ebene der Wirklichkeit, welche oberhalb aller überkommenen Antinomien liegt. Zweitens ist vom heutigen Aussichtspunkte aus am besten, wie mir scheint, die Art des Sinneszusammenhangs, die alles Leben kennzeichnet, anschaulich zu bestimmen. Sie entspricht dem von Harmonie und Melodie. Harmonie: das Zusammenhängende hängt notwendig zusammen, dessen gleichzeitiges Dasein besteht fort durch die zeitliche Entwicklung hindurch. Dies gilt von der Zellengemeinschaft über die Korrelation der Organe im Einzelleib und die der Tiere und Pflanzen untereinander, über die gegenseitige Ergänzung der Begabungen und Berufe, bis hinauf zu den höchsten geistig-seelischen Gemeinschaftsformen der Menschen. Es gibt, wir wissen es von der vorjährigen Tagung her, einen realen Menschheitskosmos. Nur deshalb ist jeder große Mann in erster Linie repräsentativ; nur deshalb gibt es eine Symbolik der Geschichte. Melodie: das sich Folgende erfüllt eine festumrissene Gestalt, eine Einheit, welche sich, wie die Musikschöpfung, in der Zeit verwirklicht. Hieraus ergibt sich, dass Leben und Schicksal Wechselbegriffe sind, denn des letzteren Begriff hat keinen anderen Inhalt als das, was wir in diesem Zusammenhang die Melodiehaftigkeit des Lebens heißen. Jede Zelle schon hat ihr bestimmtes Schicksal; die Entwicklung niederer Tiere, wie des Malariaerregers, des Bandwurms durch so verschiedene und seltsame Formen und Zustände hindurch, von denen nur Zufall die nötigen äußeren Bedingungen schaffen kann, übertrifft an Schicksalhaftigkeit die Irrfahrten des Odysseus.

Mit dem Aufstieg auf höhere Ebenen wird die Melodiehaftigkeit alles lebendigen Daseins, die schon für die untersten gilt, nur deutlicher. Denn je mehr Geist bestimmt, desto sinnvoller vom menschlichen Standpunkt muss das Geschehen erscheinen. Das bloß organische Schicksal — die Prädestiniertheit aller typischen Zustände zwischen Geburt und Tod — empfinden wir schwer als Fatum, denn das Bewusstsein sieht alle Aufgaben von dessen Grundlage aus. Aber wenn sich an einer überwältigenden Zahl von Fällen nachweisen lässt, dass dem Menschen nur ihm Gemäßes widerfährt, weil sein eigenes Unbewusstes die ihn treffenden Zufälle beschwört, und dies zwar desto mehr, je tiefer im Geist er wurzelt, so dass sich beim höheren Menschen zwischen dem, was er tut, und dem, was er erleidet, überhaupt nicht scheiden lässt, so bleibt kaum anderes übrig, als zu schließen, dass der Prädestinationsgedanke nur insofern falsch ist, als persönlicher Wille und Schicksal zutiefst irgendwie zusammenfallen. Auch beim Menschen lässt sich zwischen Innen- und Außenwelt nicht scharf scheiden, auch bei ihm, wie beim Seestern, gehört sie mit zu ihm, wie denn jedes Organismus Umwelt seine Merkwelt ist. Und so wie jeder Mensch ein Schicksal hat, das er erfüllen muss, weil jedes Leben wesentlich Melodie ist, so haben auch Zeitalter, Kulturen, Religionen ein notwendiges Fatum. Auch deren Entwicklung ist unumkehrbar, immer Neues hervorbringend, begrenzt, und als Ganzes sinnerfüllend. Gerade als Sinnerfüllung ist ja Geschichte ein Wirkliches sowohl, als ein vom biologischen Prozess Verschiedenes. Und bringt man alles Angeführte nunmehr auf einen streng begrifflichen Generalnenner, so muss man sagen: überall im Leben ist das Ganze vor den Teilen da, so wie die ganze Sonate vor ihren einzelnen Takten da ist.

Von hier aus wird denn vollkommen verständlich, was so oft schon dargelegt ward, dass auf dem Gebiet des Lebens die Bedeutung den Tatbestand schafft: die Ganzheit ist die strenglogische Kategorie, in die der vieldeutigere und reichere Begriff eines Sinneszusammenhangs hineingehört. Wenn nun das Ganze, begrifflich gesprochen, vor den Teilen da ist, dann muss freilich jede Einzelhandlung, wie Psychoanalyse lehrt, als Symptom einer tieferen Wirklichkeit verstanden werden, dann muss es eine reale Symbolik der Geschichte geben, dann beweist es Oberflächlichkeit, in irgendeiner Tatsache je eine letzte Instanz zu sehen: ein präexistierender Sinneszusammenhang trägt sie in jedem Fall. Eben deshalb kann eine Tatsache manchmal bedeuten, wie jener eine Kranke, dessen Anblick den jungen Prinzen Siddharta innerlich wandelte, was zu ihrem Eigenwert in gar keinem Verhältnis steht: sie löst einen vorherbestehenden Sinneszusammenhang zur Wirkung aus. Darum ist es dem der Sinnesschau Fähigen allerdings gegeben, das Schicksal in seinen großen Umrissen vorauszuwissen. Bei bestimmter Anlage sind genau im selben Sinn nur bestimmte Entwicklungen denkbar, wie bei gegebener musikalischer Grundkonzeption, sei diese in noch so wenigen Takten inkarniert, nur bestimmte Ausgestaltungen musikalisch überhaupt möglich erscheinen.

Hermann Keyserling
Wiedergeburt aus dem Geist · 1927
I. Werden und Vergehen
© 1998- Schule des Rades
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