Schule des Rades

Hermann Keyserling

Wiedergeburt aus dem Geist

II. Geschichte als Tragödie

Leidensweg der Geschichte

Wenn etwas am Geschichtsprozess gewiss erscheint, so ist es dies, dass er bisher in jedem Fall schlecht ausging. Soll ich überhaupt Beispiele anführen? Äußerlich zerstörten Barbaren die herrliche antike Welt; die meisten ihrer inneren Werte gingen im Christentum verloren. In dessen Namen wurde später die Kultur der Mauren, dann die der Inkas und Azteken vernichtet. Das humanistische Zeitalter, als dessen Ausdruck die Reformation begann, führte nicht zur Befreiung, sondern zur Erstarrung. Die tiefe Menschlichkeit des 18. Jahrhunderts klang unmittelbar in Terror aus und jenseits der Wirren in der Herrschaft des toten Kapitals. Der Weltkrieg, welcher dem Krieg an sich ein Ende bereiten sollte, hat eine Drachensaat gesät wie noch kein Krieg vorher. Und grundsätzlich besser wird kein geschichtlicher Prozess auf Erden jemals ausgehen. Jeder muss ein Ende nehmen, jedes Ende wird die Werte, die er schuf, der Vernichtung preisgeben, und in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle wird das Gemeinere siegen. Der Fürst dieser Welt ist hienieden dem Engel überlegen. Die Vornehmsten reiben sich gegenseitig auf im Kampf.

Wenn die Hellenen glaubten, Hauptabsicht der Götter auf Erden sei, das Edle auszurotten, so lehrt moderne Statistik, dass sich die Rassen zusehends verschlechtern. Und mag es einstweilen oder zeitweilig wieder aufwärtsgehen: der Erduntergang setzt der Geschichte jedenfalls ein Ziel, das alles je Vollbrachte sinnlos, weil umsonst geschehen, erscheinen lässt. Wer trotz dieser unwiderleglichen Erwägungen absolutem Optimismus zu huldigen vermag, beweist damit nur jenen engsten Egoismus dessen, der alles schön und gut findet, weil ihm selbst nichts fehlt. Tatsächlich ist zweifelhaft, ob überhaupt irgendein Geschichtsprozess, innerhalb noch so kurzer Zeitspanne zusammengeschaut, gut ausging. Alle geltende Historie ist von Siegern oder in bezug auf sie geschrieben worden — warum soll das Recht in weitestem Verstand allemal auf deren Seite gewesen sein? Und was den allgemeinen Fortschritt betrifft, um dessentwillen sich der Einzelne opfern soll — wer fasst sein Leben ehrlich als solches Opfer auf? Wer meint nicht letztlich sein Glück, möge er die Wahrheit noch so sehr verdrängen? Was hilft es uns Lebenden, den einzig Wirklichen, wenn das Leben der meisten Menschen nach tausend Jahren vielleicht ein klein wenig müheloser dahinfließen wird? Sind Inquisition und Terror wirklich dadurch gerechtfertigt, dass heute alle Welt telephoniert? Erscheint der wahre Sachverhalt den Meisten unklar, so liegt dies, von der Vogelstraußpolitik, welche jedem seine angeborene Feigheit eingibt, abgesehen, an der ungeheuren Fälschungsarbeit der Historiker und Dichter, ja letztlich jedes Menschen, der sich überhaupt mit Vergangenem abgibt. Gemäß einem Gesetz, das als erster Theodor Lessing aufwies, muss der Verstand alles Geschehene rechtfertigen, denn nur durch solche Rationalisierung vermag sich der geistbewusste Mensch den Umständen innerlich anzupassen. Deshalb ist es so überaus praktisch, Erfolg zu haben, deshalb allein bedeuten Siege etwas; deswegen wird ein einmal gefälltes Urteil der öffentlichen Meinung so selten revidiert. Insofern hat derselbe Lessing nicht unrecht, wenn er Geschichte eine Sinngebung des Sinnlosen heißt. Insofern hat keiner je mehr Wirklichkeitssinn bewiesen als der Buddha. Was dieser gegen das Leben vorbrachte, ist buchstäblich wahr. Wer dies nicht sieht, ist eben noch nicht erwacht; oder aber er ist blind.

Doch mit der rechten Schau der Tatsachen, deren große Umrisse wir hinzeichneten, ist das Problem der Geschichte nicht erschöpft; und Lessings Deutung bleibt an der Oberfläche haften. Mag die Sinngebung, auf Grund derer Geschichte dem Menschen sinnvoll dünkt, in noch so vielen Fällen Willkürakten entsprechen: erwiesen ist damit nicht, dass sie an sich keinen Sinn hätte. Schon seine Erfindungsarmut spricht gegen letztere Folgerung, nicht minder der Erfahrungssatz, dass er ihm Ungemäßes nie erfindet: er stellt allemal in ihm und folglich überhaupt Wirkliches heraus. Was ist nun Geschichte anderes als die lebendige Wirklichkeit, die des Menschen Geist seinen Normen gemäß gestaltete? Der historische Prozess bedeutet die eine Erscheinungsreihe, die allein durch Menschenwollen und -können bedingt wird. Schon aus diesem einen Grunde muss Geschichte an sich sinnvoll sein. Und prüfen wir von hier aus unser innerstes Verhältnis zu dem Leidensweg, den das historische Geschehen zweifelsohne darstellt, so entdecken wir, dass wir ihn im tiefsten Herzen gar nicht anders wünschen. Was das eigene Erleben betrifft, so lehrt analytische Introspektion, dass wir im Unbewussten unser Schicksal jedesmal mitgewollt, ja dieses, wo es uns allein betraf, persönlich, so oder anders, beschworen haben. Nur deshalb führt Amor fati immer zur Erfüllung, finden in politischen Wendezeiten die, welche ihren Sinn verstehen und deshalb anerkennen, an das Neue jedesmal den Anschluss, während Catonen verderben. Keinen Tieferen gibt es in der Tat, der nicht in späteren Jahren, auf Grund intimer Erfahrung, zum Schluss gekommen wäre, dass jene Absichtlichkeit im Schicksal des Einzelnen, von welcher Schopenhauer kündet, wirklich besteht, dass also der Vorsehungsbegriff, wie immer man ihn deute, einen realen Inhalt hat.

Und von der Erfahrung abgesehen: Wie wäre es wohl möglich, dass die Idee einer Geschichte, welche gleichzeitig das Weltgericht wäre, einer Vorsehung, welche die Menschheit wieder und wieder verdirbt, dass die Vorstellung eines vernichtenden Gottes, ob in Gestalt des richtenden Jahveh oder des weltzertanzenden Shiva, und die eines Endes der Geschichte überhaupt, das deren Sinn insofern aufhübe, dem Menschen einleuchtete, wie sie’s tatsächlich tut, wenn sie ihm nicht entspräche? — Dass der Leidensweg der Geschichte, auch objektiv betrachtet, Sinn hat, ist im großen und ganzen ebensowenig zu bestreiten. Allerdings erscheint nicht alles Geschehen vernünftig, wie Hegel wähnte. Dies aber eher, weil die Vernunft die ganze Sinnfülle des Wirklichen nicht fassen kann, als dass dieses hinter den Forderungen jener zurückbliebe. Das Schicksal waltet großzügig wie die Natur, die Milliarden von Keimen ausstreut, auf dass einige Hunderttausend überleben, und verfährt eher amerikanisch als europäisch, insofern es Schadhaftes selten ausbessert, viel mehr am liebsten auf einmal abreißt. Aber beurteilt man des Schicksals Walten entsprechend großzügig, dann erscheint es gerade deshalb sinnvoll oder doch niemals sinnlos. Ein Attila fand immer nur dann eine Aufgabe, wenn eine Welt verfault war. Kasten und Völker gehen nie zugrunde ohne intime Mitschuld1. Und gar oft keimt das Ewig-Wertvolle erst vom Sterben aus. Hier bieten die Griechen das eindruckvollste aller Beispiele. Erstens war ihre Kultur als Ganzes nicht mehr fortschrittsfähig, als sie verdarb; zweitens wurde ihr Höhepunkt, die sokratisch-platonische Philosophie, erst als Begleiterscheinung ihres Sterbens möglich; endlich hat das Fortlebensfähige der Antike als integrierender Bestandteil des Christentums fortgelebt. So ist die Geschichte offenbar doch sinnvoll, trotz aller schlechter Ausgänge. — Nun, wie dies grundsätzlich zu verstehen sei, in welchem Verstand Geschichte überhaupt als sinnvoll bezeichenbar ist, hat schon der Eingangsvortrag gezeigt. Das Leben ist ein wesentlich Zeitliches, immer erneut Begrenztes, ohne Sterben undenkbar; es ist auf allen seinen Ebenen Vergehen und Werden zugleich. Dies aber bedeutet, dass jeder bestimmte Sinneszusammenhang des Lebens den Tod mit einschließt. So dass das Ende als Ende nie widersinnig ist.

1 Vgl. das Kapitel Die Symbolik der Geschichte meiner Schöpferischen Erkenntnis.
Hermann Keyserling
Wiedergeburt aus dem Geist · 1927
II. Geschichte als Tragödie
© 1998- Schule des Rades
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