Schule des Rades

Hermann Keyserling

Wiedergeburt aus dem Geist

II. Geschichte als Tragödie

Mut der Lächerlichkeit

Über das Wesen des Tragischen ist viel gesagt worden — zuletzt von Scheler, Tidemann, Paul Ernst — und noch mehr zu sagen. Für uns kommen nur die folgenden Grundmerkmale in Betracht. Tragisch ist ein Schicksal nur, sofern es unentrinnbar ist; so wäre Christus zu aller Zeit und von uns allen gekreuzigt worden. Sofern der Konflikt, den es einschließt, schlechthin unlösbar ist, weil Wert gegen Wert und nicht gegen Unwert kämpft. Sofern die jeweilige Schuld gleichzeitig Unschuld ist, keine moralische Entscheidung zulässt und ihre Strafe sowohl gerecht ist als den Richter richtet. Sofern der Widerstreit zwischen der Notwendigkeit im Großen und deren Nichtigkeit vom Standpunkt des Einzelwerts als solcher empfunden wird. Sofern ein Einzelwille sich gegen einen Gesamtwillen — heiße dieser Gott, Kosmos, Schicksal, Notwendigkeit, Gesellschaft — neue Werte schaffend, aufbäumt. Und sofern dieses Aufbäumen bewusste Manifestation der Freiheit ist. Nun, im Rahmen obiger Bestimmungen ist alle Geschichte tatsächlich tragisch und der Darstellung als Tragödie fähig, sobald man den Rahmen in entsprechender Weite oder Enge spannt. Wo dies nicht zuzutreffen scheint, ist das Geschehen nicht Geschichte, sondern biologischer Prozess, wie denn alles bloß der Erhaltung oder Beglückung, nicht primär einem Kulturwillen dienende Volksleben ungeschichtlich ist.

Demgemäß genoß in der Antike, die, so wenig sie wusste, was Geschichte heißt, viel stilreiner als je eine moderne Zeit Geschichte lebte, allein der Pöbel das Privileg des anerkannten Glücksideals, während das Leben der Großen als nicht nur selbstverständlich, sondern gewollt tragisch vorausgesetzt wurde — wo Freiheit souverän schaltet, nicht mehr dem vorgegebenen Gesetze willig folgt, sind tragische Konflikte in der Tat nicht abzuwenden. Und mit der gleichen unbestechlichen Klarheit, die mit dem modernen historischen Bewusstsein so gänzlich fehlt, hat die antike Welt erkannt, dass alle Neuerung einem Frevel ihren Ursprung dankt. Sie muss ja bestehende wertvolle Ordnung sprengen, muss zerstören — und wo endet nur-menschliche, wo beginnt göttliche Norm? Nach dem Urmythos stürzt der junge Gott den alten und herrscht fortan nach neuem Gesetz: als wie schwer die Schuld des siegenden Gottes empfunden wurde, beweist die Umdeutung, die des Besiegten Wesen nach seinem Sturze jedesmal erfuhr. Aus Gewissensqual des Zeus ward Chronos zum bösen Prinzip, aus christlichem Schuldgefühl Dionysos zum Teufel. Gleiche Umstände erklären die moderne Verunglimpfung des Christentums. Erst ein innerlich sicher gewordener neuer Glaube lässt alte Götter als Heilige fortleben, wie dies die zur Ecclesia triumphans erwachsene katholische Kirche erlaubte. Zeus, Prometheus, Luzifer, Jesus — vom Standpunkt der bestehenden Ordnung waren sie Verbrecher. So war es jeder große irdische Neuerer. So war es auch jeder kleine, der, zu feige, sich zum Rechtsbruch zu bekennen, sich im Volkswillen oder in Menschenrechten oder einer abstrakten Lehre rückversicherte.

Treuloser Angriff, Vergewaltigung, Annullierung bestehender Rechte sind der normale Weg jedweder Neugründung gewesen, denn anders konnte solche nur unter abnormen Umständen gelingen. Es soll feststehen, dass der auf Erden vorhandene Besitz zu über siebzig Prozent auf ursprünglichen Raub zurückgeht: sicher gehörte ohne periodisch wiederkehrenden Bolschewismus die ganze Erde bald, entsprechend Wells Vorstellung in The sleeper awakes, einem oder wenigen Menschen, welcher Grenze die Spätzeit des Römerreichs schon nahe gekommen war. Zerstören zum Zweck der Erneuerung ist auf historischem Gebiet vollkommen unvermeidlich, weil es hier natürlichen Tod nicht gibt; hier regieren unpersönliche und insofern unsterbliche Mächte. Deshalb besteht die Geschichte von Anfang an aus kumulierter Schuld; daher das unmittelbar Einleuchtende der Idee der Erbsünde. Daher die Undenkbarkeit eines nicht irgendwie tragischen Lebens.

Kein Großer hat je all das Böse gewollt, das er vollbringen musste. Keiner hat je das Gute nur einigermaßen verwirklicht, welches er meinte. Noch schlimmer — wer Allzugutes wollte, hat jedesmal am meisten Unheil gestiftet: so der edle Kropotkin, der Vater des Bolschewismus, Luther, der Totengräber der einigen Christenheit, neuerdings Wilson. Und wer nur Böses wollte, dem ward noch keinmal die Tragik erspart, dass die Kraft, die das Böse wollte, Gutes schuf. Attila, Dschingis Khan, Iwan der Schreckliche, Lenin sind warnende Beispiele. Sie haben auf die Dauer gewiss mehr Gutes bewirkt als alle Humanitätsapostel. — Wieso bejahen wir nun diese Tragik wirkenden Menschenlebens, bejahen wir letztlich nur sie? Die Antwort haben wir schon, sie liegt im bloßen Begriff des Tragischen beschlossen: weil wir wesentlich frei sind und die Manifestation der Freiheit gegenüber der Übermacht gebundener Natur und gefügten Schicksals unmöglich zum unmittelbaren Siege führen kann; weil diese Manifestation der Freiheit andererseits das Eine ist, worin unser Menschentum sich selbstherrlich äußert sowohl als seiner selbst bewusst wird. Sie kann es nur als unmittelbarer Opferwille tun; sie kann es nur, insofern sie gegebener Wirklichkeit trotzt. So hat denn Unamuno nicht unrecht, wenn er das Urbild des strebenden Menschen nicht in Christus, nicht in Prometheus, sondern in — Don Quixote sieht; in dessen Kampf gegen Windmühlen; in dessen unbeirrbarer Verfolgung des eigenen Traums, des weltunbekümmerten Ideals. Unamunos Wahlspruch ist ein Wort von Senancour, wohl das tapferste Wort eines Mannes des sterbenden 18. Jahrhunderts:

L’homme et périssable; il se peut. Mais périssons en résistant. Et si le néant nous est réservé, ne faisons pas que ce soit une justice — welches Wort Unamuno in dessen letztem Satz zu folgendem steigert: Faisons que ce soit une injustice.

Wenn der Mensch wesentlich frei ist, so ist seine Freiheit doch nur ein winziges Rädchen in der Weltuhr. Wohl liegt es in ihr, den ganzen Mechanismus auf die Dauer, ihrem eigenen Sinn entsprechend, umzustellen; zunächst ist jedes überlieferte, schon gar das kosmisch überlieferte, stärker als jeder Neuerer. Und der strebende Mensch überhaupt, als besonderes Geschöpf, ist Neuerer in diesem Sinn; ihm steht millionenjahrealte Weltroutine entgegen. So ist Menschentum überhaupt quixotehaft. Wer als Neuerer deshalb, weil Vernunft oder Recht auf seiner Seite seien, im Ernst auf Erfolg rechnet, macht sich viel lächerlicher, als der Ritter vom traurigen Antlitz es jemals tat. Aber eben im Mut der Lächerlichkeit in diesem Sinn liegt alle Menschenwürde; sie ist nur ein Sonderaspekt des Muts zum Opfer. Wer sich aus vorgeblicher Weisheit grundsätzlich den Tatsachen anpasst, gibt damit sein Menschentum preis, der bekennt sich recht eigentlich zur Norm des Eingeweidewurms, der sich behauptet, indem er jede Windung in seiner Haltung mitmacht, jeden Dreck über sich hinübergleiten lässt.

Unser Menschsein, als ein Überorganisches, Übertatsächliches, beruht nun einmal ganz und ausschließlich auf jener Freiheit, die in ihrer Winzigkeit gegenüber dem kosmischen Schicksal lächerlich wirkt. Mit ihr allein identifiziert sich des geistig Erwachten Selbstgefühl. Deshalb, nicht etwa aus Aberglauben, ist schon dem edlen Wilden die Ehre mehr wert als das Leben. Und hieraus folgt, dass der Mensch, seinem Wesen nach, die Tragödie bejahen muss, denn in ihr bejaht er sein eigenes tiefstes Wesen. Deshalb schätzt er das Opfer ganz selbstverständlich höher ein als den Erfolg, die Fähigkeit, Unglück zu tragen, höher als das Glück; deshalb ist Amor fati die erste Bedingung menschlicher Größe überhaupt. Aus den gleichen Gründen strebte kein Großer je für sich nach Glück. Eine unbefriedigende Lösung des jeweiligen Lebensproblems im Glücksverstand ist ja die einzig sinngemäße, wo einmal die Antinomie zwischen einem überindividuellen Sinneszusammenhang, dessen Erscheinung in Werden und Vergehen besteht, in welchen das Individuum hineingehört, und diesem als letztem Wert gegeben ist.

Wohl starb, wie der Eingangsvortrag lehrte, jeder Held recht eigentlich zu spät; wohl führt gerade Tod zum Sieg. Doch dies ändert nicht das Mindeste an der furchtbaren Tragik des Weltverlaufs vom Standpunkt des einzigen Einzelnen, der allein auf der Ebene der Geschichte zählt, ja den allein es im Tatsachenverstande gibt. Hier entscheidet letztendlich das Faktum, dass von seinem Standpunkt die Gleichung des Lebens nicht aufgeht. Sie geht nicht einmal in der eigenen Seele des Einzelnen auf. Auch der Konflikt zwischen dem Gott in sich (was immer man darunter verstehe), dessen unbedingte Gebote jeder für sich als gültig spürt, und den Möglichkeiten des empirischen Ich ist unlösbar. So kann denn Geschichte auch, ihrem Wesen nach, nie untragisch werden. Ihre untragischen Perioden bedeuten im Zusammenhang nicht mehr wie eine heitere Zwischenszene, von Kammerdiener und -zofe gespielt, in einem Trauerspiel. So ist zwar die Vorstellung eines Paradieszustands, der durch das Essen vom Baum der Erkenntnis aufgehoben ward, nicht sinnlos: bevor der Mensch seiner Freiheit als Aufgabe bewusst wurde, konnte er glücklich sein.

Die Vorstellung eines glücklichen Gesamtendzustandes der Menschheit, wie ihn der Sozialistenglaube schuf, ist sinnwidrig und grotesk. Wie könnte er denn verwirklicht werden? Erstens allein durch Gewalt, unter Voraussetzung des Vorrechtes der Zahl. Aber mit seiner Freiheit verliert der Mensch in seinen eigenen Augen seinen Sinn und Wert. Von allen Zwängen der sinnwidrigste ist der Zwang zum Guten, als welches mit seiner Freigewähltheit steht und fällt. Und wo die Zahl überhaupt als Wertmaßstab anerkannt wird, bestimmt nicht Leben, sondern die immerdar tote Sache. Zweitens aber ist Massenglück nur möglich auf das Niederste hin. Dementsprechend haben niemals niedrigere Ideale geherrscht als zu Zeiten gewollter Massenbeglückung. Solche ist überhaupt nur dort, wo das Leben von der historischen Ebene herab auf die tierische zurücksteigt, denkbar. Von jeher hieß es: Genießen macht gemein. Insofern verdiente das Bourgeois-Zeitalter allerdings die gegen dasselbe gerichteten Angriffe. Doch das der Proletarier, welches jenes ablösen soll, würde im gleichen Sinn ein noch gemeineres werden, falls es als Ausdruck der sozialdemokratischen Ideologie zustande käme. Daran ändert die Forderung nichts, dass zur Erlangung von banalem Glück noch maschinenmäßig gearbeitet werden soll. Gegenüber diesem Gemeingenießerischen sind die Zeiten herrschender üppigster Aristokratie recht eigentlich solche der Askese. Führerkasten standen immer über dem Genuss. Dies zeigten die venezianischen Nobili symbolisch, indem sie allein einfachschwarz gekleidet gingen, dies zeigten die deutschen Edelleute einer nun verstorbenen Zeit, ähnlich den indischen Brahmanen, dadurch, dass sie grundsätzlich keinen Reichtum anstrebten. Und wenn wenige Bolschewisten Russland beherrschen können, so liegt dies daran, dass sie heroisch: tragische Charaktere sind und damit anti-genießerisch. Aufhebung der Tragik ist eben nur möglich als Aufhebung der Geschichte. Aufhebung des Leidens ist, wie Buddha richtig erkannte, nur möglich als Aufhebung des Lebens. Denn Werden und Vergehen sind eins, und das Sterben von Werten muss widersinnig erscheinen.

Hermann Keyserling
Wiedergeburt aus dem Geist · 1927
II. Geschichte als Tragödie
© 1998- Schule des Rades
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