Schule des Rades

Hermann Keyserling

Wiedergeburt aus dem Geist

III. Tod und Ewigkeit

Phänomen der Wiedergeburt

Jetzt sind wir so weit, in das wahre Wesen des Sinneszusammenhangs, dem der Mensch oberhalb der Natur und Geschichte angehört, einzudringen und damit die Art der Beziehung der von Baeck und Arseniew vertretenen Ebenen lebendiger Wirklichkeit mit den übrigen, soweit dies überhaupt möglich ist, zu verstehen. Zur Einführung diene eine vereinfachende Betrachtung einer Seite des Verhältnisses zwischen antikem Heidentum und Christentum. Dieses kennzeichnen am auffälligsten zwei Negativa, von der Analyse und Nietzsche übereinstimmend als solche hervorgehoben: die Bejahung der Krankheit und die Betonung der Schuld. Krankheit galt als der wahre Zustand des Christen, sein Schuldverhältnis gegenüber Gott vom Menschen her als völlig unaufhebbar. Der antike Mensch war ohne Zweifel der vollkommenere; seine Kalokagathie, wo verwirklicht, bedeutete wahre Vollendung. Aber eben deshalb bedeutete sie auch ein Ende, wie sie sich denn lang schon vor dem Eingreifen des Christus-Impulses in Verrohung umsetzte. In einer Welt des Werdens und Vergehens ist jede Vollendung unterganggeweiht. Und wo der Nachdruck überhaupt aufs Fertige gelegt wird, fehlen Prinzip und Motiv, dank denen aus dem Vergehen neues Werden emporsprießen könnte. Ein solches Prinzip der Geschichte eingebildet zu haben, bedeutet nun die eigentliche Großtat des Christentums.

Dieses als erste Weltanschauung unseres Kulturkreises beurteilte die irdischen Disharmonien nicht als letzte Instanzen, sondern, unseren früheren Ausführungen gemäß, als Spannungssymptome zwischen zwei Schichten lebendiger Wirklichkeit. Damit deutete es Krankheit, Sünde und Schuld, ohne ihnen diesen ihren Charakter zu nehmen, zu Wegen zum Heil um. In wem nun die Einsichten der Schöpferischen Erkenntnis lebendig wurden, der weiß, dass mit dieser Deutung, sofern sie an sich, d. h. vom Eigen-Sinn des Lebens her, möglich war, keine nachträgliche Ausdeutung eines an sich Sinnlosen stattgefunden hat, sondern eben die Verwirklichung des entsprechenden Sinns in der Erscheinungswelt, denn Sinnesverwirklichung erfolgt auf der Menschenstufe nie anders als durch freies Wollen und Schaffen von Subjekten hindurch. Die christliche Sinngebung war nun tatsächlich wirklichkeitsgemäß. Physische Krankheiten sind einerseits der äußere Ausdruck seelischer Disharmonien, Schuldgefühle, Akte der Selbstzerstörung, Todeswünsche sind immer zugleich Geburtswehen, denn in einer Welt des Werdens und Vergehens kann Neues nur auf Kosten von Früherem entstehen. Durch die innere Entscheidung des Christentums nun wurden sie’s tat- und hauptsächlich, denn bei einem doppeldeutigen Lebensvorgang hängt die letztrichtige Deutung ganz und gar von der inneren Entscheidung des Subjektes ab. Also hat das Erdenleben dank dem Christus-Impuls, dem Christenglauben entsprechend, tatsächlich einen neuen Sinn als historischen Faktor eingebildet bekommen. Dank ihm ist der Mensch des Westens grundsätzlich und bewusst zum Spieler oder Schützen im Sinn des früheren Bildes geworden.

Und dass hiermit, noch einmal, Wirkliches, nicht Fiktives (sofern das Wort hier einen Sinn hat) ins Geschehen eingegriffen hat, beweist die historische Wirkung. Die christliche Welt hat zwar bis heute keineswegs in dem von Jesus gemeinten Sinn das Himmelreich auf Erden verwirklicht — fern davon, weit eher hat sie sich als schwarzer Magier erwiesen —, aber doch eine Geistesmacht auf allen Gebieten entwickelt, welchen sie sich zuwandte, die nur aus einem Jenseits der früheren Lebenssphären stammen konnte1. Um hier nun ja kein Missverständnis bestehen oder aufkommen zu lassen, füge ich schnell hinzu, dass gleiche Machtwirkung auch vom Buddha-Impulse ausgelöst worden ist; auch seine Sinngebung des Lebens war eine mögliche, d. h. grundsätzlich wirklichkeitsgemäße; nur deshalb hat sie den ganzen Osten, direkt oder indirekt, in zunächst wohl noch höherem Grad verwandelt als die christliche den Westen. sintemalen der Mensch letztlich frei ist, kann er freilich auch entwelten. Nur ist, da Leben tatsächlich wesentlich Sinn ist (was ja allein auch Buddhas Wirkung erklärt, denn sonst könnte Erkennen oder Einleuchten nicht schöpferisch wirken), eine auf die Sinnlosigkeit des Lebens den Nachdruck legende Lehre notwendig unvollständig. Deshalb erwies sich nicht Buddhas eigentliche Lehre als Weltimpuls, sondern das Wirken seiner Persönlichkeit. Hat das Christentum sich als ungleich mächtiger und fruchtbarer erwiesen als der Buddhismus, so liegt dies daran, dass die Sinnfülle des Lebens die wirklichkeitsgemäßere Voraussetzung ist als seine Sinnleere.

Das Leben gehört sonach, soweit wir urteilen können, letztlich einem Jenseits des empirisch Nachweisbaren an. Die Wirklichkeit dieses Sinneszusammenhangs ist abschließend nicht zu beweisen, da ja Beweise nur auf empirischer Ebene möglich sind; deshalb war es von jeher nur der besonders begnadete Religiöse, der seine Wirklichkeit unmittelbar erfuhr. Aber andererseits haben alle entsprechend Befähigten sie gleichsinnig erlebt. Deshalb machen wir uns, indem wir von der Wirklichkeit dieses Erlebens ausgehen, keines schlimmeren Vorurteils schuldig, als wenn wir irgendeine Erfahrung als beweiskräftig anerkennen. Denn offenbar beweist hier eigene niemals mehr als die von anderen: vom Standpunkt anderer ist ja wiederum meine Erfahrung die fremde. Suchen wir denn den Sinn des letztbetrachteten Sinneszusammenhangs im Unterschied von den vorherbetrachteten des organischen Lebens und der Geschichte zu bestimmen. Worin unterscheidet er sich von diesen, die ja auch recht eigentlich jenseits-empirisch sind? Auch sie verhalten sich wie Melodien zum Einzelton, der allein im strikten Verstand empirisch existiert. — Er unterscheidet sich dadurch von ihm, dass während hier der Einzelne dem Ganzen aufgeopfert erscheint, dort gerade auf dem Einzelnen und seinem Heil der letzte Akzent ruht. Hierin ist das metaphysische und religiöse Erleben aller Völker und Zeiten vollkommen eindeutig.

Buddha, der leugnet, dass ein substantielles Selbst von Verkörperung zu Verkörperung fortschreitet, lehrt gleichwohl, dass der Mensch eine schlechthin selbstgegründete Kraft darstellt, d. h. wesentlich nicht von seinen Eltern abstammt, sondern von einem Urimpuls in der subjektiven Reihe durch das Werden und Werden von Ichen hindurch. Damit nun aber lehrt er, in anderer Deutung freilich, grundsätzlich eben das, was den Kern aller positiven Unsterblichkeitslehren bezeichnet: nämlich dass auch vom rein persönlichen Standpunkt die Person das letzte nicht ist. Und eben auf diese grundsätzlich Gleichheit kommt hier alles an, wo dem irdischen Bewusstsein keinesfalls deutlich zu machen ist, wie beschaffen ein Leben sei, das den Normen dieses nicht mehr gehorcht. Überdies gibt Buddha mit der Akzentlegung auf die Aufhörbarkeit des Lebens diesem einen ganz bestimmten Sinn, und mit der Hierarchie der Zustände, die im Nirvana enden, setzt auch er implizite, was immer er behauptet, recht eigentlich eine Melodie als Wirklichkeit oberhalb des Werdens und Vergehens der Töne, weswegen nur natürlich ist, dass die allermeisten Buddhisten seine Erlösungslehre als positive Unsterblichkeitslehre missverstanden — das endgültig Vergehen, als Ausklang auf Werte bezogenen Aufstiegs, ist, formell betrachtet, nur eine Sonderdeutung des Gleichen, was der Jenseitsglaube als Eingehen in die höchste Wirklichkeit ewigen Lebens versteht. Man schaue sämtliche Eschatologien, die buddhistische einbegriffen, vom Sinne her zusammen, wie ich es in der Unsterblichkeit getan (die übrigens auch den Beweis der Ursprungslosigkeit des Lebens aus seiner Kraftnatur im gleichen Sinn erbringt, wie der mir damals insofern unbekannte Buddha), und gleichzeitig alle individuellen metaphysischen Erlebnisse, von denen wir wissen: ihr Sinn ist überall der gleiche. Überall besteht er darin, dass es über die organischen und historischen Reiche hinaus einen realen Sinneszusammenhang gibt, in dessen Dimension das auch hier die konkrete Lebenswirklichkeit abgrenzende Werden und Vergehen nicht auf Kosten des Einzelnen verläuft, als welcher vielmehr, in irgendeiner Form, erhalten bleibt.

Im Zusammenhang dieser Tagung führte uns das Nacherleben des alttestamentlichen und urchristlichen, also eines jenseitig-religiösen Erlebnisses zur Einsicht in diese Möglichkeit. Aber die Realität eines transsubjektiven Sinneszusammenhangs als letzter Instanz des Lebendigen lässt sich auch diesseits des Todes an lebendiger Erfahrung erweisen und damit in dieser Sphäre unmittelbar beweisen. Wir betonten bereits, als für den Menschen schlechthin wesentlich, seinen Willen zur Steigerung. Jeder Mensch, der kein Tier ist, will fortschreitend mehr werden, als er war. Dieser Wille erfüllt sich, wo vorhanden, naturnotwendig auf Grund des von Buddha zuerst in seiner Bedeutung erfassten Tatbestands, dass das empirische Ich, als ein Werdendes, ein Vorgang ist, von seinen Wollungen, Gedanken und Entschlüssen genährt, so dass der bloße Versuch zum Besseren schon das Bessere schafft, die bloße Arbeit im Dienst des Wissens schon ein Besserwissen, der bloße Wille zur Steigerung schon diese einleitet. Nur weil dem also ist, kann ein Mensch in eine höhere Stellung hineinwachsen, nur deshalb wächst der Machttrieb mit der Macht, die Gier mit ihrer Stillung. Aber genau wie der physische Körper ist auch der psychische begrenzt. Wo Steigerungswille über die in der Anlage festgelegten Formgrenzen hinausstrebt, muss er diese sprengen.

Dieser Tatbestand bedingt auf dem Gebiet des triebhaften Lebens in der Gattungsreihe die Fortpflanzung, in der physisch- individuellen die Metamorphose, von der embryonalen Entwicklung bis zum Schicksal der Raupe, welche als Schmetterling endet; er bedingt in jedem Fall das Aus-der-Erscheinung-Treten der zuletzt lebendigen Gestalt2. Der gleiche Tatbestand bedingt auf der psychischen Ebene die Verwandlung des Ich, sobald Wachstum des Bestehenden das innerste Streben nicht mehr ausdrücken kann. Wenige Beispiele werden dies ganz deutlich machen. Warum kann Reue tatsächlich Vergangenes amortisieren?3 Weil durch ihren psychochemischen Prozess die alten Verbindungselemente aufgelöst werden, nicht viel anders wie die der Raupe in der Puppe, und eine neue Persönlichkeitssynthese entsteht, die, als ein Neues, von der Schuld der früheren wirklich unbelastet ist. Warum lehrte Jesus, das Ich müsse sterben, warum muss jeder nach ihm durch die enge Pforte des Ich-Todes hindurchgehen, um des ewigen Lebens teilhaftig zu werden? Weil das, was die Meisten als ihr ganzes Ich empfinden, nur ein Bruchteil der möglichen Gesamtpersönlich bezeichnet, nämlich das Bündel ihrer Machttriebe.

An sich sind dem Menschen Lieben, Geben und Opfern genauso natürlich, d. h. angeboren, wie egoistisches Raffen, nur liegen jene Fähigkeiten meist unentwickelt außerhalb des Bewusstseins, oder aber sie greifen nur auf den eingefahrenen Bahnen des Gattungslebens ein, wie im Fall der Mutter- und Gattenliebe. Sie gilt es ins Selbstbewusstsein der Persönlichkeit mit hineinzuziehen, denn dann erst hat diese sich selbst ganz realisiert, d. h. im Zentrum ihres eigenen Sinneszusammenhanges Wurzel gefasst. Solche Integration kann aber ebenso unmöglich ohne Selbstaufgabe und das darauffolgende tatsächliche Ende des Ich als selbständiger Einheit gelingen, als ein Körper erwachsen kann, ohne dass die ihn aufbauenden Zellen ihr selbständiges Dasein aufgeben. Deshalb lehrte derselbe Jesus: nur wer sein Leben verliert, werde es gewinnen. Wo nun verwandelnde Erneuerung stattgefunden hat, wird sie mit Recht von jeher Wiedergeburt geheißen: es entsteht durch sie tatsächlich ein neuer Mensch, nur nicht ein anderer, wie bei der Geburt in der Reihe der Gattung, sondern es wird derselbe neugeboren. Alles Neue entsteht innerhalb des Lebens auf dem Wege der Geburt. Erkenntnis, Wille, bewusstes Streben, Initiative, kurz alles Logoshafte spielt auf der Ebene geistig, seelischen Fortschreitens die Rolle des männlichen Prinzips, welches befruchtet und befruchten muss, auf dass neues Leben werde, aber nicht gebären kann. Gebären kann nur das Eroshafte, das Irrationale, die weiblich geartete Seele.

Weil also zwei polare Gegensätze sich vermählen müssen, damit das Neue entstehe, was der Logos-Pol meint, und in der Vereinigung beide Pole als Selbständigkeiten sterben, verhält sich auch auf geistig-seelischem Gebiet das Neue dem Vergehenden gegenüber nicht anders wie das Kind zu den Gameten seiner Eltern. Das ist keine Erklärung, aber die Feststellung eines unleugbaren Tatbestands; und erklären lässt sich am Sosein des Lebens nichts. Die Bezeichnung Wiedergeburt ist also ohne jede mythische Voraussetzung ein gegenständlicher Ausdruck: das Individuum erlebt im gemeinten Fall, ohne zu sein aufzuhören, grundsätzlich Gleiches, wie die Gattung in ihrem Fortleben durch die vergehenden Individuen hindurch. Hier sind wir denn an den Aussichtspunkt gelangt, von dem aus der im Eingangsvortrag durchgeführte Vergleich zwischen Leben und Musik seine ganze Bedeutsamkeit im Sinn des Einleuchten-Machens erweist. Damals fanden wir, dass die wahre Wirklichkeit des Lebens nicht in der Dimension der Einzeltöne liegt, sondern der Melodie, sonach eines überzeitlichen Sinneszusammenhangs. Eben hieraus erklären sich die Phänomene der Wandlung und der Wiedergeburt. Warum gibt es keinen Menschen, der nicht ganz selbstverständlich von der Voraussetzung ausginge, dass er eine Bestimmung hat? Auch Buddha tat dies, sonst hätte er den Auf- und Abstieg im Samsara überhaupt nicht auf Werte zurückbeziehen können; tat er’s nicht ausdrücklich, sprach er allein vom Leiden und vom Karma-Gesetz, so lag dies an seinem spezifischen Standort: gesehen hat den Tatbestand auch er.

Warum betrachtet jeder geistbewusste Mensch sein Leben nicht als bloßen Wandel durch sich ablösende Zustände hindurch, sondern als Sinnerfüllung, eine Aufgabe, der er sich entweder gewachsen zeigt oder nicht? Weil jeder sein eigenes Persönliches Zentrum — nicht nur seinen ideellen Ort in der Reihe der Gattung und Geschichte — in der Einheit der Melodie findet und nicht im jeweiligen Einzelton, den er darin verkörpert. Er fühlt sich also unmittelbar als ein anderes und mehr als das, was entstehen und vergehen kann. Er fühlt sich selbst letztlich als den Sinn seines eigenen Werdens und Vergehens, als sein Schicksal zugleich und dessen Herrn. Und damit ist zweierlei auf einmal, obschon es sich auszuschließen scheint, so weit erwiesen, als sich an letzten Dingen überhaupt erweisen lässt. Erstens Buddhas Anatta-Theorie. Es ist zweifelsohne nicht derselbe, welcher geboren, verwandelt und wiedergeboren wird, ob im Rahmen eines Lebens oder einer möglichen Mehrzahl; das Ich ist ein Vorgang, und kein Erleben zwingt zur Annahme eines substantiellen Selbstes, das dem Gesetz des Wandels nicht unterworfen wäre. Wer hiergegen die Identität des Selbstbewusstseins als Einwand anführt, vergisst, dass der Sinneszusammenhang, um den es sich hier handelt, kein objektiver, sondern ein transsubjektiver ist, dass sich also das Werden und Vergehen in diesem Fall genau im gleichen Sinn in der Reihe möglichen Identitätsbewusstseins trotz alles Sterbens bewegt, wie beim biologischen und historischen in der Reihe des objektiven Fortbestandes von Nation und Art, durch das Sterben ihrer Glieder hindurch.

Das Zweiterwiesene ist aber nichts Geringeres als die — Unsterblichkeit. An der grundsätzlichen (wenn auch nicht faktischen) Unsterblichkeit der Arten und Nationen besteht deshalb kein Zweifel, weil diese ja gerade dank dem Werden und Vergehen ihrer empirisch einzig wirklichen Vertreter bestehen. Aber genau ebenso besteht das Leben des Einzelnen in nichts anderem als im Werden und Vergehen seiner Zustände und Iche, die zusammen eine Melodie herunterspielen, die als solche Sinnerfüllung ist. Nun könnte diese im Ablauf des Lebens an sich als vollendet gelten, wofern der tiefste Sinn des Menschenlebens im Biologischen läge. Dies aber tut er nachweislich nicht, denn keiner versteht den Sinn seines Lebens so, und auf dem Gebiet von Sinneserfassung und -verwirklichung liegt im vom Standpunkt der Außenwelt Subjektiven die letzte Wirklichkeitsinstanz. Als Überwinder erst empfindet der Mensch sein Dasein als wirklich menschengemäß. Oft empfindet er insofern vorzeitigen gewaltsamen Tod als ihm gemäßer, als späten natürlichen. Schauen wir diese Tatsache nun mehr mit der anderen zusammen, dass der Wille zur Steigerung, der Wille über sich selbst hinaus allererst den Menschen macht, welcher Wille in der gegebenen Zeitspanne seine Erfüllung niemals findet, dann erscheint die Folgerung nicht abzuweisen, dass nicht allein die Melodie des Gattungslebens und der Geschichte, sondern auch die des Einzellebens den Tod miteinschließt, und zwar nicht nur den Tod, welcher Wiedergeburt in diesem Leben zur Folge hat, sondern auch den, welcher dieses endgültig abschließt, d. h.: der Mensch weiß sich ein wesentlich Zeitloses, so wie die Melodie als Ganzes ein Zeitloses ist gegenüber dem Anklingen und Verklingen ihrer Töne. Und damit ist die Unsterblichkeit, soweit Sinneserfassung kompetiert, erwiesen. Wenn der Mensch sich selbst als Zeitloses unmittelbar erlebt, das sich im endlosen Werden und Vergehen nur ausdrückt, dann kann er durch dieses nicht zerstört werden. Wenn dieses Zeitlose wesentlich als Kraft erlebt wird, dann kann sie, wie der Buddha richtig schloss, nie nicht gewesen sein. Wenn gar das Zeitlose Sinn ist, auf den das Selbstbewusstsein sich zuletzt bezieht — wie soll es sterben? Es kann nur heraustreten aus der Erscheinung, wie eine Wahrheit, die zeitweilig verlorenging. Endlich verwirklicht aller Sinn sich nachweislich von innen nach außen zu, durch freie Subjekte hindurch: dies kann nichts anderes bedeuten, als dass er aus eigenem Rechte lebt.

1 Vgl. die Bestimmung dieses Jenseits und des Sinns des Christus-Impulses überhaupt im Kapitel Jesus der Magier von Menschen als Sinnbilder.
2 Vgl. hierzu das auf S. 250 der Schöpferischen Erkenntnis zur metaphysischen Rechtfertigung des Todes Ausgeführte:
Sinn verwirklicht sich hienieden nur, indem er sich ausdrückt. Dieses Ausdrücken besteht zunächst in erstmaliger Schöpfung, sodann in fort, währender Neubelebung des sich äußerlich Wiederholenden. Solche Belebung geht aber nur so lange fort, als der Sinn seine Möglichkeiten in der spezifischen Gestalt noch nicht erschöpft hat. Sobald letzteres der Fall ist, dann ist er auch am Ziel, der Buchstabe erstarrt zur toten Natur, und nun folgt das Geschehen mechanischen Gesetzen … Also ist die tote Natur das unentrinnbare Schicksal alles verwirklichten Geistes.
3 Vgl. hierzu die schönen Ausführungen von Max Scheler in Vom Ewigen im Menschen (Leipzig, Der neue Geist Verlag).
Hermann Keyserling
Wiedergeburt aus dem Geist · 1927
III. Tod und Ewigkeit
© 1998- Schule des Rades
HOMEPALME