Schule des Rades

Hermann Keyserling

Wiedergeburt aus dem Geist

II. Erfindung und Form

Material der Lebensgestaltung

Freiheit auf dem heute betrachteten Gebiet ist also an Normeinhaltung und folglich Form gebunden. Hier gibt es keinen Gegensatz von Gesetz und Freiheit. Oder gibt es ihn doch? … In der Tat: die Form als Wert ist überall nach zwei Seiten hin gefährdet; sie verkörpert als solcher allemal eine haarscharfe Grenze. Auf der einen Seite droht das Chaos: die Hellenen hätten sich nicht so extrem zur Form bekannt, wenn dieses ihnen nicht extreme Gefahr bedeutet hätte; nicht anders begrenzt sich die chaotische Russenseele immer wieder selbst durch Berufung und Duldung der Diktatur. Auf der anderen Seite aber droht die Gefahr der Erstarrung. Zur Routine erstarrte Form bedeutet den Tod des Geists. Kopieren ist ein Grundanderes wie Erfinden; Klassizismus das genaue Gegenteil von Klassik. Freiheit und Norm stehen in wohltätigem Gleichgewicht nur dann, wenn sich jene durch diese von innen her selbst begrenzt. Sobald Form von außen nach innen zu schafft, dann tötet sie. Das haben die drei vorhergehenden Vorträge sehr deutlich gemacht, explizite und mehr noch implizite. Keiner meistert das Schicksal, der sich ihm als einem Gegebenen unterwirft; der Köhlergläubige seines Horoskops ist einfach Sklave; nie erhebt er sich zur persönlichen Freiheit.

Wer den Antrieben des Es außerhalb der Patient- und Arztsituation gehorsam folgt und sie nicht bloß als Material seiner Lebensgestaltung ansieht, geht jeder Selbstbestimmung verlustig; er wird zum Kind nicht im Sinn von dessen Gottseligkeit, sondern dessen Ohnmacht. Recht muss sein, weil dank der von ihm verfügten Ordnung allein die Freiheit des Einzelnen innerhalb der Gemeinschaft überhaupt zu wahren ist. Aber allgemeingültiges Recht kann nie gerecht sein in bezug auf den Einzelnen. Wer im positiven Recht an sich schon Gerechtigkeit sieht, bekennt sich direkt zur Ungerechtigkeit, so sehr, dass ich den Menschen, der sein formelles Recht als letzte Instanz ansieht, bloß weil er dieses tut, ganz einerlei, ob er im gegebenen Falle vielleicht recht habe, der niedrigen Gesinnung für überführt halte. Wer das nicht gleich versteht, der meditiere die Erkenntnis, dass das Urbild positiven Rechts im Versailler Vertrag verkörpert liegt und das Urbild des rechtlich Gesinnten in Poincaré.

Und weiter: Disziplin ist der beste Weg zur Freiheit; nur wo die niedere Natur beherrscht ist, kann sich die höhere frei äußern. Dies gilt vom Soldaten genau im gleichen Sinne wie vom Heiligen. Wer frei in den Tod gehen soll, muss seiner Triebe Herr geworden sein. Es gibt sogar keine höheren Sinnbilder echter Freiheit, als große Krieger, weil die unmittelbare Einstellung auf das Opfer des Lebens hin mehr als Frei-von-sich-sein wirkt, wie die auf ewige Seligkeit; überdies verliert der Freiheitsbegriff im Gnadenstande seinen Sinn. Aber wird Disziplin zum Selbstzweck, so macht sie den Menschen zum Automaten und dient selber allzu leicht zum Deckmantel moralischer Feigheit. Gibt es keinen freieren Menschen als den großen Heerführer, so gibt es keinen subalterneren, als den typischen Unteroffizier, der im Exerzieren das Ideal sieht. Aus dem gleichen Grunde ist der Pflichtmensch die niedrigste aller Kreaturen, denn wo Pflichterfüllung Kant Selbstverantwortung bedeutete, verkörpert sie jenem die Möglichkeit, sich persönlicher Verantwortung zu entziehen. Deshalb kann man von der Betonung bestimmter Pflicht- und sogar Ehrbegriffe so sicher auf innere Haltlosigkeit schließen. Im gleichen Sinn wiederum hat kein Training je einen Heiligen oder ein Genie geschaffen. Der geistliche Exerzitienmeister, der da glaubt, durch seine Übungen an sich einen höheren Zustand zu erreichen, ist recht eigentlich ein metaphysischer Unteroffizier. Wie steht es da mit dem Verhältnis von Freiheit und Norm? An diesem Punkt der Tagung schließen wir mit einem großen Fragezeichen. Bei der Freiheit handelt es sich offenbar um ein Unfassbares, eine Grenze nach Art des mathematischen Punkts; ihr Sinn und Wirken muss dem des Einfalls gleichen und dem Entschluss zum Wagnis … Hören Sie zunächst die Vorträge Graf Hardenbergs und Richard Wilhelms mit voller Aufmerksamkeit. Dann werden Sie vorbereitet sein, die letzte Antwort auf die Frage des Sinns der Freiheit zu hören, die ich zu geben vermag1.

1 Auf der Tagung folgten auf diesen Vortrag die von
  • Graf Hardenberg Okkulte Gesetzmäßigkeiten und
  • Richard Wilhelm Kosmische Fügung;

im Leuchter 1926 (Gesetz und Freiheit) nachzulesen.

Hermann Keyserling
Wiedergeburt aus dem Geist · 1927
II. Erfindung und Form
© 1998- Schule des Rades
HOMEPALME