Schule des Rades

Hermann Keyserling

Wiedergeburt aus dem Geist

III. Der letzte Sinn der Freiheit

Freiheit und Gnade

Zu dem Ende müssen wir die Frage etwas anders anpacken, als seitens der anderen Redner geschah, und bei den Schlusssätzen von Erfindung und Form anknüpfen, indem wir sie näher ausführen. Freiheit und Norm sind grundsätzlich keine Gegensätzlichkeiten. Aber das Eigentümliche ist, dass sie sich praktisch immer wieder als Gegensätze erweisen. Diese Tatsache haben alle Tagungsvorträge so oder anders festgestellt, aber wir müssen sie greller beleuchten, als bisher geschah, und ihnen gleichsinnige aus unbeachtet gebliebenen Gebieten anreihen, um ihre ganze Tragweite zu ermessen. Also: Zweifelsohne gibt es ein Schicksal, und grundsätzlich hebt dieses das mögliche Erlebnis sowohl als die mögliche Auswirkung von Freiheit nicht auf. Aber sobald man sich ihm überantwortet, ist letzteres der Fall. Wer an das Es wie an einen Gott glaubt, wird vom Zwang des Unbewussten wirklich vollkommen abhängig. Wenn die Astrologie lehrt, astra inclinant, non necessitant, so ist andererseits der Köhlergläubige des Horoskops tatsächlich unfrei. Gleiches gilt, mutatis mutandis, von allem Glauben an okkulte Normen. Ist der klassische Künstler, d. h. der Einhalter strengster Gesetzmäßigkeit, der freieste Künstler, so gibt es keinen unfreieren als den Klassizisten. Disziplin bedeutet einerseits den bewährtesten Weg zur Freiheit; doch sobald sie zum Selbstzweck oder als Wesen aufgefasst wird, entwürdigt sie den Menschen zum Automaten.

Das positive Recht gewährleistet im Gemeinschaftsleben die Gerechtigkeit, d. h. die Möglichkeit, in jedem Einzelfall zugunsten des Besseren und Richtigen frei zu entscheiden. Aber sobald es als letzte Instanz anerkannt wird, so verwandelt es sich zu Unrecht im Sinn des Satzes: summum jus summa injuria. Denn es gibt keine vorherbestehende Gleichung zwischen dem im Allgemeinen und im Einzelfalle Richtigen1. Daher der Hass aller Religionsstifter gerade gegen die Gerechten. Deshalb führt, wie Richard Wilhelm sich ausdrückt, das Himmelstor der Ethik unabwendbar zur Hölle der Verzweiflung. Da nun das Gute nur mittels freien Wollens zu verwirklichen ist, wenn es seinen Sinn nicht verlieren soll, so ergibt sich auch in diesem Fall, dass der Glaube an das Gesetz die Freiheit aufhebt. Hierauf beruht die extreme Unfreiheit des gesetzesgerechten Juden. Hierauf die Tatsache, dass nichts eindrucksvoller den Widerstreit von Norm und Freiheit illustriert als das Problem der Kirche. Deren Idee ist zweifelsohne gültig, denn sie vertritt die ideale objektive Ordnung, innerhalb derer der Einzelne seine Freiheit erst vollkommen sinnvoll äußern kann; und ihre Erscheinung ist das grundsätzlich angemessene Sinnbild für den inneren Kosmos des Sinns, der sich dem äußerlich, raumzeitlich ausgebreiteten einfügt. Dennoch hat Karl Barth recht, wenn er in seinem Römerbriefe schreibt:

Gerade dort, wo die Kirche als Dienst vom Menschen am Menschen ihren Zweck erreicht, ist der Zweck Gottes verfehlt und steht das Gericht vor der Tür. Die Kirche ist zweifellos der Ort, wo die Feindschaft des Menschen gegen Gott offenkundig wird … Der von der Kirche erstrebte und erreichte fromme und als solcher gerechtfertigte Mensch mit seinem Wissen, Tun und Beten scheint irgendwie das letzte unüberwindlich starke Hindernis diesseits der Barrikade. Alles, was der Mensch überhaupt unternimmt, um sich Gottes zu erwehren, erscheint gesammelt, wuchtig, konzentriert, bis auf die Zähne bewaffnet in diesem Menschen. Daher die Tempelreinigung!

Aber andererseits schreibt derselbe Barth:

Der Wissende weiß, dass geglaubt, gepredigt, gebetet werden muss; er weiß, dass es nicht anders sein kann, als dass die Krankheit des Menschen an Gott gerade an dieser Stelle in immer wieder neuen Formen immer wieder zum Ausdruck kommt. Er weiß die Unvermeidlichkeit der religiös-kirchlichen Möglichkeit.

Die Gleichung geht eben nicht auf. Der besondere Glaube eines Paulus, eines Luther wurzelt letztlich in der Unmöglichkeit, irgendwelche sichere Regeln aufzustellen. Andererseits geht es ohne anerkannte Regeln nachweislich auf keinem Gebiet, weshalb jeder Anarchismus und Subjektivismus sich früher oder später, so oder anders ad absurdum führt. Am kitzligsten liegen die Dinge beim Problem der Gnade. Von diesem handelte Richard Wilhelm nur von einem bestimmten Standpunkt aus, oder vielmehr von zwei Standpunkten: dem der chinesischen Weisheit, für die es ein Freiheitsproblem in unserem Sinn nicht gibt, weil sie durchaus von der Einheit des sinnvoll geordneten Weltganzen ausgeht, und dem dessen, der seinen Ort im Gnadenstande hat, also der Vereinigung des persönlichen Lebens mit dem überpersönlichen. Deshalb konnte er die Gnade von der Freiheit nicht eigentlich abgrenzen und behauptete implizite am Schluss, die Gnade sei die Freiheit, womit für das eigentliche Freiheitsproblem nicht viel gewonnen ist. Denn dies betrifft, richtig verstanden, die ganz bestimmte Frage persönlicher Entscheidungs-Möglichkeit, die von der anderen möglicher Überlegenheit über diesen oder jenen Zustand genaue Differenzierung verlangt, schon deshalb, weil die Tatsache der Überlegenheit sowohl in Funktion des Gnaden-, als des Freiheits-, als des Notwendigkeitsbegriffs bestimmbar ist. Da ich Ihnen hier kein genaues Exposé der bestehenden Gnadenlehren geben kann, so verweise ich dazu auf Felix Weltschs Büchlein Freiheit und Gnade (München, Kurt Wolff Verlag), die sowohl vollständigste als geistig durchdringendste Behandlung der Frage, die mir bekannt ist.

Ich verweise hier auch insofern ein für allemal darauf, als ich in vielem grundsätzlich ebenso denke wie Weltsch und in manchen Einzelheiten von ihm gelernt habe. Was nun aus den bestehenden Gnadenlehren für den Zusammenhang, der uns hier angeht, hervorgeht, ist dies: beim Verhältnis von Freiheit und Gnade handelt es sich um einen absoluten Zirkel. Wer nur den lieben Gott walten lässt, der kriegt nichts, wie der Volksmund den herrlichen Choral paraphrasiert. Wer alles von der göttlichen Gnade abhängig glaubt — und dazu gehören bekenntnismäßig viele Lutheraner, praktisch häufiger weite Kreise von Katholiken —, verliert alle Initiative und sinkt damit unter den Zustand des eigentlich Menschlichen hinab. Aber andererseits ergeht es jedem ausschließlich an Freiheit Glaubenden typischerweise wie Luzifer; er verliert den persönlichen Kontakt mit den überpersönlichen Mächten, die es nun einmal gibt, und endet sinnlos tragisch, sei dies auch nur in Form der Loslösung des Bewusstseins von der lebendigen Wurzel, der den modernen Mechanisierungs­zustand charakterisiert. Um nun des Gnadenzustands teilhaftig zu werden, ist Anspannung des kleinen Willens grundsätzlich unerlässlich. Aber dieser als solcher führt nie zum großen Willen. Gnade kann nie Verdienst sein, sie ist immer reines Geschenk. Nur Sündbewusstsein, Minderwertigkeitsgefühl, Verzweiflung bereitet ihr den Weg, aber kaum fühlt sich einer um ihrer willen schon begnadet, so war sein Streben umsonst. Ebenso sind Tugend und Pflichterfüllung zur Erlangung der Gnade geboten, doch nur, wenn sie im Bewusstsein ihrer wesentlichen Nichtigkeit ausgeübt werden. So wird der Exerzitant und Yogi, der durch seine Übungen an sich einen höheren Zustand zu erlangen wähnt, zur untermenschlichen Maschine. Der Glaube an die Gnade beruht einerseits selber auf Begnadung, andererseits spricht der Talmud wahr, wenn er lehrt: alles ist in der Hand Gottes, nur nicht die Gottesfurcht.

Wenden wir uns nunmehr vom Gnadenproblem als von dem der Freiheit der Kinder Gottes zur Freiheit im weltlichen Sinn zurück, so finden wir in deren möglichem Höchstausdruck den gleichen Zirkel wieder. Der Zentralvortrag dieser Tagung trug den Titel Macht als Bindung. In der Tat: je mehr die Macht anwächst, desto größer, nicht desto geringer wird die Bindung. Der Fürst muss mehr Rücksichten nehmen als irgendein anderer. Macht verlangt, um sich sinnvoll auszuwirken, schlechthinniges Verantwortungsbewusstsein. Der Mächtige, dem dieses fehlt, ist unmittelbar Verbrecher. Jede Macht, die sich nicht als Teil eines geordneten unauflöslichen Ganzen weiß, wirkt zwangsläufig zerstörerisch, nicht allein in bezug auf andere, sondern auch in bezug auf sich selbst, so dass eine sich selbst als Willkür verstehende Macht ihre Freiheit ad absurdum führt. Will nun irgendein des Sinns seiner Freiheit Bewusster diese je als isolierte Kraft verstehen? Alle Erfahrung, die nicht Verbrecher betrifft, beweist das Gegenteil. Jeder Mensch fühlt sich gerade als Freier nur in unlöslicher Gebundenheit an seine Mitmenschen. Will er selbst letztinstanzlich bestimmen, so heißt dies, dass er nicht nur für sich selbst, sondern auch für andere verantworten will und damit höchste Bindung wünscht. Wir sehen also, dass die Probleme der Freiheit, der Gnade und der Notwendigkeit voneinander nicht loszulösen sind. Dies beweist unwiderleglich der Selbstwiderspruch oder die Selbstaufhebung, zu der jede ausschließliche Akzentlegung auf die eine oder andere führt.

1 Von etwas anderer Seite behandelt eben dies Problem mein Aufsatz Gerechtigkeit und Billigkeit im 11. Heft des Weg zur Vollendung.
Hermann Keyserling
Wiedergeburt aus dem Geist · 1927
III. Der letzte Sinn der Freiheit
© 1998- Schule des Rades
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