Schule des Rades

Hermann Keyserling

Wiedergeburt aus dem Geist

III. Der letzte Sinn der Freiheit

Lebendige Schöpferkraft

Jetzt können wir uns ohne weitere Umwege der Lösung des Freiheitsproblemes zuwenden. Den Ansatzpunkt liefert uns das Ergebnis des Vortrags von Driesch, nicht zwar insofern dieser eine Lösung gab, sondern insofern er sich unzuständig erklärte, eine zu geben. Dass er dies tun musste, lag an seinem Ausgangspunkt. Geht man auch nur implizite vom Wortbegriff der Freiheit aus, so ist die Frage, worin das, was unter Freiheit gemeint wird, nun wirklich besteht, schlechterdings unbeantwortbar. Da darf Ehrlichkeit nur so viel behaupten, dass, soweit wir den Tatbestand denkend fassen können, Determination herrscht. Drieschs unbestimmtes Ergebnis hing aber noch von einem anderen Moment ab. Er ging vom Bewusstsein aus. Und dieses ist nun freilich, einzig und allein, ein Haben. Ganz gewiss liegt, von hier aus betrachtet, im Willen kein Element des Tuns. Ganz gewiss liegt, in dieser Perspektive gesehen, zwischen Willen und Geschehen nichts, tut der Mensch sogar nichts, wenn er nachdenkt — seine Gedanken fallen ihm ein. Aber wie sollte das Bewusstsein mehr als ein Spiegel sein? Es reflektiert nur das Wirkliche; zusammen fällt es mit ihm keinesfalls. Insofern kann ich, von ihm aus betrachtet, sogar die Zulassungsfreiheit nicht als vorhanden zugeben. — Endlich ging Driesch vom sekulären Vorurteil aus, dass Freiheit notwendig Willensfreiheit bedeute. Von dieser kann deshalb sicher nicht die Rede sein, weil das, was unter Freiheit gemeint wird, nämlich positive Selbstbestimmung im weitesten Verstand, eine Verkoppelung mit dem Willensbegriffe nicht verträgt. Wir wissen heute, dass der Wille nicht schöpferisch ist, sondern ein Hemmungsmechanismus, als solcher mit dem physischen Organismus eng verknüpft und in der psychischen Sphäre mit dem wohl wesenseins, was die moderne Psychologie unter Zwangsmechanismen versteht.

Schöpferisch im Menschen ist einzig die Phantasie. Da nun Freiheit wesentlich schöpferisch ist — wie sollte es gerade Willensfreiheit geben? Es gereicht Driesch zur Ehre, dass er sich unzuständig erklärte, von seinem Standpunkt festzustellen, ob es Freiheit gibt. Es stellt ihn insofern sogar über Bergson, trotz dessen gewaltigen Verdiensten gerade um das Freiheitsproblem1, als er nicht, wie dieser, ein in der Erfahrung nirgends Nachweisbares, eine voraussetzungslose Freiheit, als Urgrund des Werdens hypostasiert. Driesch hat wichtige kritische Vorarbeit geleistet, indem er gezeigt hat, wie das Freiheitsproblem nicht gelöst werden kann. Nun hält es nicht schwer, von der Negation zur Position vorzudringen. Die erste Ursache seines negativen Ergebnisses brauchen wir nicht mehr besonders zu betrachten; dies hat schon der Eingangsvortrag getan. Über die dritte klärten die vorhergehenden Gedankengänge genügend auf. Desto aufmerksamer müssen wir uns der zweiten zuwenden. Das Bewusstsein hat nur, es tut nichts. Was wir mit Freiheit meinen, ist aber nun gerade schöpferisches Tun. Und zwar nachweislich unabhängig davon, aus welcher Schicht des Subjekts das Tun stammt, wenn es nur überhaupt aus diesem stammt. Nur weil dem so ist, heißen wir den unbewusstesten der Menschen, den schaffenden Künstler, frei: in seinem Werk verkörpert er sein persönlichstes Wesen. Nur deshalb lehrt die Jurisprudenz, dass Motiv entlastet, Charakter hingegen belastet: der Freiheitsbegriff betrifft unmittelbar das Sein. Nur deshalb endlich kann der im Gnadenstand Befindliche als frei gelten: wohl wird dieser letztlich von Überpersönlichem bestimmt — nicht er lebt, sondern Gott lebt in ihm —, doch sein persönlicher Wille ist mit dem Gottes eins geworden. Man komme hier ja nicht mit begriffsdefinitorischen Bedenken: es handelt sich in erster Linie darum, was unter Freiheit real verstanden wird, nicht was im vorausgesetzten Begriffe logisch enthalten sei. So finden wir denn, dass das Freiheitsproblem sich grundsätzlich unabhängig von der Frage bewusst oder unbewusst stellt. Wohl stellt sie sich, wie alle Fragen, nur vom Bewusstsein her, weil wir die innere Wirklichkeit nur in dessen Spiegel erfahren, aber sie liegt selbst nicht auf der Ebene des Bewusstseins. Denn das Sein, auf das alles ankommt, fällt mit ihm nicht zusammen.

Die Dinge liegen so — hier bitte ich mir sehr aufmerksam zu folgen, denn das Verständnis steht und fällt mit der Perzeption des exakten Winkelwerts der erforderlichen Fragestellung —, dass das Problem der Freiheit sich dann stellt, wenn das überall selbstbestimmte Leben sein schöpferisches Zentrum in einem Subjekt gewinnt, das seiner selbst bewusst werden kann, und nun in Form persönlicher Setzung innerhalb gewisser Grenzen die gleiche Initiative beweist oder beweisen kann, die auf den unteren Lebensstufen von unpersönlichen Zentren her erfolgt. An dieser Stelle ist es zweckmäßig, die Scheidung Melchior Palágyis zwischen Vitalität und Geist zu übernehmen: Während jene ein stetig Dahinfließendes ist, betätigt sich dieser allein in Form diskontinuierlicher Akte. Nur wo das Bewusstsein im Geist sein Zentrum hat, kann von Freiheit die Rede sein, denn alles persönliche Entscheiden erfolgt aus dem Geist heraus und eben deshalb in diskontinuierlichen Akten, was übrigens schon Bergson wusste, denn er schreibt:

Conscience n’est pas synonyme d’existence, mais seulement d’action réelle ou d’efficacité immédiate.

Initiatorisch ist das Leben überall; spezifische Gestaltung, spezifische Organschöpfung, Reaktion und Regeneration, wie sie schon den niedersten Organismen eignet, bedeuten, von der Außenwelt her betrachtet, grundsätzlich im gleichen Sinne Selbstbestimmung, wie des Menschen freies Entscheiden. Aber dieses erfolgt eben vom Geist her, dessen selbständiges Dasein unterhalb der Menschenstufe nicht nachzuweisen ist. Deshalb stellt sich das Freiheitsproblem, noch einmal, nur vom Geiste her. Jetzt erscheint denn klar, inwiefern die Frage, ob es nun Willensfreiheit oder Tatfreiheit oder nur Zulassungsfreiheit gibt, auf der üblichen Ebene betrachtet, falsch gestellt ist. Worauf es einzig ankommt, ist dies, dass das überall bestimmende Subjekt auf einer gewissen Ebene und innerhalb gewisser Grenzen zum Träger der allgemeinen Schöpferkraft des Lebens wird. Ist dies einmal der Fall, dann ist es keine Frage der Art, sondern nur des Grades, wieviel Teile des psycho-physischen Organismus der bewussten Selbstbestimmung zugänglich erscheinen. Die meisten können wahrscheinlich wirklich nur nein und höchstens ja zu dem sagen, was in ihnen wird; solches gilt jedenfalls von allen jungen Seelen. Aber die Psychoanalyse lehrt, dass ganze Regionen eines bisher Unzugänglichen ins Bereich des bewusst bestimmenden Subjekts hineinbezogen werden können. Gleiches beweist die Praxis der Fakire. Weiter beweist die Möglichkeit religiöser und metaphysischer Vertiefung, dass der Mensch sogar so weit selbstbestimmt werden kann, dass sein ideales Ich sein ganzes Leben beherrscht, wodurch er dem Meisten dessen, was andere bindet, überlegen wird. Aber wiederum nicht im Grade des Freiseins von der Welt liegt der Angelpunkt des Freiheitsproblems, er liegt ganz und ausschließlich darin, dass sich die lebendige Schöpferkraft im Subjekt, das seiner selbst bewusst ist oder werden kann, zentriert.

1 Das Wichtigste am Wahrheitsgehalt von Bergsons Freiheitslehre fasst der folgende Satz zusammen:
On appelle liberté le rapport du moi concret à l’acte qu’il accomplit. Ce rapport est indéfinissable précisément parceque nous sommes libres. On analyse, en effet, une chose, mais non pas un progrès; an décompose de l’étendue, mais non pas de la durée … toute définition de la liberté donnera raison au déterminisme. (Les données immédiates de la conscience S. 167.)
Hermann Keyserling
Wiedergeburt aus dem Geist · 1927
III. Der letzte Sinn der Freiheit
© 1998- Schule des Rades
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