Schule des Rades

Hermann Keyserling

Wiedergeburt aus dem Geist

I. Spannung und Rhythmus

Zukunftsoikumene

Das praktische Ziel, welchem aller Idealismus oft unwillkürlich nachstrebt, ist also nicht das Erreichen eines statischen Ideals, wie immer man’s bestimme, sondern die Verwirklichung des Zustands ökumenischer Spannung. Diese zu erzielen ist möglich allein von tiefer erfasstem Sinne her, denn Überlegenheit bedeutet nichts anderes als die Zentrierung des Bewusstseins in einer tieferen Wesensschicht. Durch diese letzten wenigen Sätze wäre klargemacht, weshalb die obigen Ausführungen gerade von dieser Tribüne gegeben wurden, wie eine Tagung der Gesellschaft für Freie Philosophie gerade Spannung und Rhythmus zum Grundthema wählen konnte. Die Schule der Weisheit hat nichts anderes zum historischen Ziel, als der ökumenischen Spannung den Weg zu bereiten; sie ist andererseits vor allen Anstalten dazu berufen, weil sie ihren ideellen Ort schon auf der Ebene hat, die derjenigen des Zukunftszustandes entspricht, und der betreffende Weg, wie in der Schöpferischen Erkenntnis ausgeführt steht, nur von der Erkenntnis her zu weisen ist. Nimmt die Schule der Weisheit grundsätzlich nicht Partei, so tut sie’s nicht aus Liberalismus, sondern weil sie über allen Parteien steht. Verhält sie sich gleich wohlwollend zu allen echten Glaubensbekenntnissen, so verwischt sie diese doch nicht, sondern sie kontrapunktiert sie vom Sinne her. Gelten alle Menschentypen als solche ihr grundsätzlich gleich, so ist sie nicht skeptisch, sondern sie unterscheidet Sinn und Ausdruck. In ihrer Sonderart aber liefert sie die Probe aufs Exempel des vorhin Ausgeführten. Sie ist eindeutig in der Vieldeutigkeit. Der Zustand, welchem ihr Geist entspricht, ist kein ausgeglichener, sondern ein äußerst gespannter, und er verlangt und erzeugt seinerseits einen höheren Spannungsgrad als irgendeiner, welcher je früher historisch wirkte. So viele Gegensätze in sich beschließen, wie sie verlangt, kann nur der Stärkste; sich durch soviel subalterne Probleme nicht beirren lassen, nur der Festeste.

Ja mehr noch: der berufene Vertreter ihres Geists muss, bis dass er die Welt erobert, genau so einseitig erscheinen wie jede andere bestimmte Gestalt. Er muss auch exzentrisch wirken, denn vom Standpunkt des heutigen Zustands bezeichnet er ein störendes Element. Ich sagte es schon: auf der Ebene der Erscheinung kann sich der größte innere Fortschritt nie anders darstellen, denn als Erschütterung des Gleichgewichts. — Aber die Einseitigkeit, die wir vertreten, bedeutet andererseits das Universelle. Ihr Rhythmus ist der der Zukunftsoikumene. Dessen Grundtöne habe ich Ihnen hiermit angeschlagen. Im Lauf der nächsten Tage werden Sie vielfache Abwandlungen des Grundthemas Spannung und Rhythmus vernehmen; der ganze Reichtum des Lebens wird sich vor Ihnen musikalisch ausbreiten. Doch wenn Sie die Grundtöne im Sinn behalten, so werden Ihnen Zusammenhänge offenbar werden, die Sie bisher nicht kannten. Sie werden persönlich erleben, dass es ein jenseits aller empirischen Bestimmtheit gibt. Und aus diesem Erlebnis heraus werden Sie auch die Frage nicht mehr stellen, welche, ich fühle es, heute auf vieler Lippen schwebt: ob die ökumenische Spannung nicht am Ende doch das Ende bedeutet? Ist ihr Begriff nicht identisch mit dem des Tausendjährigen Reichs? — Dass diese Welt einmal vergehen wird, daran besteht kein Zweifel; die Sonne, die sie erwärmte, werden die Menschen auf Erden nicht überleben. Ja, es mag auch sein, dass das Ende ihres ganzen Geschlechts mit dem Erreichen der höchsten irdischen Vollendung zusammenfallen wird. Allein das Leben ist wesentlich nicht von dieser Welt, diese stellt nur deren Ausdrucksmittel dar. Sein Ende bedeutet nie den absoluten Tod, sondern nur ein Heraustreten aus der Erscheinung. Wenn daher schon der Einzelne sein Ziel immerdar in der Zukunft schaut, obschon er weiß, wie bald er sterben muss, so ziemt es der Menschheit keinesfalls, dieweil die höchsten Ideale dem Tod verschwistert erscheinen, bei Idealen der Niederung stehenzubleiben1.

1 Auf der Tagung folgten auf diesen Vortrag die folgenden:
  • Erwin Rousselle Vom Sinn des Tragischen,
  • Ernst Troeltsch Die Zufälligkeit der Geschichtswahrheiten,
  • Otto Flake Die Vereinbarkeit des Unvereinbaren,
  • Leo Baeck Die Spannung im Menschen und der fertige Mensch,
  • Paul Feldkeller Begriffswelt und germanischer Geist,
  • Reichsminister Hans von Raumer Die Fruchtbarkeit der Gegensätze in Politik und Wirtschaft,
  • Klaudius Bojunga Gärung und Klassik;

in Spannung und Rhythmus, Der Leuchter 1923, nachzulesen.

Hermann Keyserling
Wiedergeburt aus dem Geist · 1927
I. Spannung und Rhythmus
© 1998- Schule des Rades
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