Schule des Rades

Hermann Keyserling

Zur Wiedergeburt der Seele

Grenzen der Menschenkenntnis

Erfassung des Wesens

Uns bleibt jetzt noch zu erwägen, inwieweit es technisch möglich ist, eines anderen Wesen zu erfassen und die allgemeine Aussicht zu bestimmen, die sich aus unseren Betrachtungen ergibt. Erfassung des Wesens eines anderen ist grundsätzlich nur deshalb möglich, weil dieses, vom Geist her betrachtet, einen Sinneszusammenhang darstellt. Ein solcher besteht aus Sinnbildern, von welchen jedes das andere spiegelt und jedes als Zeichen eines anderen gelesen werden kann, woraus sich die Möglichkeit ergibt, jede einzelne Erscheinung zu durchschauen. Es ist grundsätzlich das gleiche Verhältnis, das die Möglichkeit der Psychoanalyse bedingt: der Unterschied liegt im Fall der Wesenschau darin, dass diese alles Einzelne auf das persönlich-einzige subjektive Zentrum des Betrachteten bezieht, während die Analyse als Bezugszentrum die allgemeine Triebgrundlage verwendet. Aus diesem Unterschied wird zunächst ganz deutlich, warum wohl jeder dank wissenschaftlicher Ausbildung Analyse und praktische Menschenkenntnis, aber niemand verstehen lernen kann, was ihm nicht gleicht. Dies setzt eine ursprüngliche Fähigkeit voraus, welche angeboren sein muss. Nur durch Sinngebung wird Sinn im Reich der Erscheinung wirklicher. Unmöglich nun kann man geben, was man nicht hat. Bei genügender Geistesbegabung mag man freilich beliebigen Sinn in abstracto konstruieren; man mag Niveauunterschiede an der Erfahrung feststellen: lebendig versteht schlechthin niemand, was über ihm steht, und auch der Phantasievollste und Erfahrenste, was unter ihm steht, im besten Fall annähernd, woraus wohl richtige Beurteilung und Behandlung des Fremdartigen folgen kann, jedoch nie konkretes Verstehen in dem Sinn, in welchem jeder Mensch persönlich verstanden werden will.

Hiermit gelangen wir denn ein zweites Mal zu der am Schluss des siebten Abschnitts aufgestellten Forderung der Niveaubestimmung als Voraussetzung jeder echten Menschenbeurteilung — jetzt aber, um die Möglichkeit ihrer Erfüllung genau abzugrenzen. Sie ist positiv nur seitens dessen zu erfüllen, der von Hause aus Versteher ist, und in bezug auf das, was ihm einigermaßen gleicht. Negativ ist sie’s indessen seitens jedes, der auf die oben angegebene Weise experimentiert. Und dies führt uns zur Aussicht einer möglichen Erweiterung der allgemeinen und objektiven Menschenkunde. Ist der Grundsatz vom Primat des Niveaus einmal anerkannt, dann wird kumulierte Erfahrung auf die Dauer gewiss die Grenzen möglichen Menschenverstehens auch objektiv hinausschieben, wie dies auf dem besonderen Gebiet der Graphologie durch Klages geschehen ist, der den Begriff des Formniveaus der Handschrift erschuf. Und hieraus ergeben sich schier unabsehbare Konsequenzen. Wohl wird niemals jeder jedermann verstehen. Doch es wird jeder zur Erkenntnis kommen können, wie weit sein persönlicher Horizont möglicher Menschenkenntnis reicht. Es wird sich eben wissen lassen, was man auch nicht versteht, wie bei den außermenschlichen Naturvorgängen. Heute liegen die Dinge auf diesem Gebiete ganz im Argen. Hier bieten psychische Medien ein noch belehrenderes Beispiel als die schon angeführten der Politiker und Analytiker: insofern solche für das empirisch-Psychische anderer durchlässig sind, d. h. dieses so unmittelbar erfahren, wie das Medium H.-B. (das Graf Hardenberg, Dr. Happich und ich in unserer Broschüre Das Okkulte, beschrieben haben) die Krankheit des anderen in sich spürt, meinen sie des anderen Wesen zu erfassen. Grade dieses tun sie aber am wenigsten: sie spüren nur das empirische Material des anderen in bezug auf ihr eigenes Wesen. sintemalen das Wesen ein Geistiges ist, das nur vom nicht-Empirischen, dem Sinn her wirkt, so kann es schlechterdings nicht auf mediale Weise wahrgenommen, es kann nur vom Geist als solchem gespiegelt werden. Das Medium nun ist, seiner ganzen Veranlagung nach, ungeistig. Deshalb missversteht es den anderen gerade dort am meisten, wo es dessen Natur am vollständigsten in sich erlebt. Und dies gilt auch von den wenigen Medien, welche persönlich geistig sind: auch sie verstehen wirklich nur, was ihnen gleicht.

Die Werteskala, die sie aufstellen, gilt immer nur für ähnlich Organisierte; dies erklärt das vollständige Versagen fast aller Okkultisten in der Beurteilung der wahren Führer der Menschheit: sie beurteilen sie so, als ob auch sie Medien, nicht Meister gewesen wären. — Ist nun aber Niveaubestimmung als erste Voraussetzung wesenhafter Menschenkenntnis einmal anerkannt, dann kann allerdings eine Menschenkunde entstehen, wie es sie noch nicht gab. Alle Ergebnisse der praktischen Menschenkenntnis und der Analyse werden, als auf ihrer Ebene gültig, fortbestehen. Den Menschenkennern und Analytikern bleibt das, was sie tatsächlich können, restlos zugestanden. Aber es werden die Grenzen grundsätzlich erkannt sein, welche jeder, welcher Menschenkunde betreibt, für sich zu ziehen hat. Grenzbestimmung ist die eine Grundvoraussetzung jeder Erkenntniserweiterung. Wie Kant durch seine Bestimmung der Verstandesgrenzen den wichtigsten Schritt überhaupt im philosophischen Fortschritt tat, so geht jede Gesichtskreis­erweiterung praktisch auf Grenzbestimmung zurück. Keiner kann alles. Erkennt einer hingegen, was er wirklich kann, so spielen seine Grenzen also bald die Rolle der Schienen, welche den Eisenbahnzug, der ohne sie entgleiste, ins Unbegrenzte hinausleiten. Insofern ist jede Einseitigkeit, die diesen ihren Charakter genau bestimmte, sich richtig einstellte und sich rückhaltlos zu sich bekannte, wie an anderer Stelle ausgeführt wurde, recht eigentlich das Sinnbild der Universalität und Totalität. Mehr aber kann kein Einzelwesen sein, denn jedes ist einseitig und beschränkt. Nun gibt es aber zu aller Zeit alle nur möglichen Begabungen, die einander ergänzen. Ist Erkenntnis der eigenen Grenzen einmal zur allgemein anerkannten Forderung geworden, die keine Eitelkeit mehr zu beanstanden und nicht zu erfüllen wagte, so muss das Dasein der Begabungsvielheit zwangsläufig dahin führen, dass zu aller Zeit die richtigen Menschen das Erforderliche tun. Woraus sich für unser Problem ergibt: Menschenkunde wird gleichsam hierarchisch betrieben und damit erst im absoluten Verstande möglich werden. Der Analytiker wird bei der Analyse bleiben, der praktische Menschenkenner bei der Beurteilung der allgemeinen Resultanten des Menschentums. Andererseits wird der Wesensschaufähige allein vom Kern des Menschen künden. Diese verschiedenen Könner werden sich ergänzen. Aus ihrer Zusammenarbeit jedoch wird sich dermaleinst ein vollständiges Wissen vom Menschen, vom Kerne bis zur Schale, ergeben.

Hermann Keyserling
Zur Wiedergeburt der Seele · 1927
Grenzen der Menschenkenntnis
© 1998- Schule des Rades
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