Schule des Rades

Hermann Keyserling

Zur Wiedergeburt der Seele

Das religiöse Problem

Trägheit und Freiheit

Betrachten wir die zweite Ursache zuerst, da sie, wenn ernstlich meditiert, dank ihrer Paradoxie, am besten geeignet scheint, jedermann aus seinem dogmatischen Schlummer aufzurütteln. Ethos bedeutet primär Formgebung und Haltung; Ziel aller Ethik ist, zur Wertverwirklichung mittels dieser Funktionen von Geist und Seele anzuleiten. Hier liegen offenbar von Hause aus zwei praktische Möglichkeiten vor: der vitale Nachdruck ruht entweder auf dem Schöpferischen oder dem Instrumentalen, entweder dem Sinn oder den bewährten Gesetzen und Regeln seiner Verwirklichung.

Das heißt aber weiter: er liegt entweder auf der Freiheit oder der Trägheit. Ist ersteres der Fall, dann führt ethische Lebenszentrierung zu höchster Vollendung, weil Freiheit. Hier liegt der Grund dessen, warum Menschentum überhaupt in den höchsten Vertretern der Antike seinen bisherigen Höchstausdruck fand. Im letzteren Fall hingegen ist ihre unausbleibliche Folge Engigkeit und Starrheit. Nun war bisher jede allgemeingültige und tatsächlich befolgte Ethik des Geists der Trägheit Kind; sie konnte nur ihn verkörpern, weil von Freiheit nur in Funktion des einmalig-einzigen die Rede sein kann, weshalb ein System der Ethik der Freiheit ein Absurdum wäre. Ebendeshalb musste jede objektivierte Ethik eine Betonung des Willens im Gegensatz zu den schöpferischen Seelenkräften fordern. Denn sie fordert ja Abgrenzung des Lebens, ihr Prinzip ist insofern das Nein und nicht das Ja.

Dieser letzte Satz allein nun genügt schon zur Verständlichmachung der Behauptung, dass die Eigentendenz des objektivierten Ethischen dem Bösen zuführt. Nein-Sagen überhaupt ist dem bewusst gewordenen Wesen unerlässlich, damit es sich als Sondererscheinung behaupte: denn dieses freie Nein schafft eben beim Freien die lebendige Form. Doch wer da stets verneint, ist Teufel; denn alles Positive entquillt dem Geist des Ja. Er muss beengen, entvitalisieren und schließlich töten, und meine er es noch so gut. So ist schon jeder Kritiker, der nicht im Setzen des Nein ein korrespondierendes höheres Ja implizite persönlich mitsetzt, satanischen Geistes. Nun ist tatsächlich jedes System der Ethik ein System der Grenzen und insofern des Neins, auch wo es vom Ja allein handelt, denn dieses lässt sich sinnvoll nicht gebieten. Wann immer deshalb objektivierte Ethik die persönlich letzte Instanz bedeutet, vertritt sie zwangsläufig diesen Geist des Neins. Hier führt eine stetige Reihe vom Ethiker und Gerechten über den Egoisten bis zum Teufel. Noch einmal: dies gilt nur insoweit, als ein Ethos der Trägheit und nicht der Freiheit untersteht; ob es das Prinzip des Guten oder Bösen zum Ausdruck bringt, hängt von der Akzentlegung im Nein-Ja-Zusammenhange ab. Doch da nun einmal alles empirische Ethos im Willen verwurzelt ist und dieser nicht schöpferisch, sondern begrenzend, d. h. verneinend ist, so kann es bei der Übermacht der Trägheit gegenüber der schöpferischen Freiheit im Großen unmöglich ausbleiben, dass Akzentlegung auf das Ethos aus eigenem Gefälle dem Bösen und nicht dem Guten zu entwickelt. So ist es denn auch immer gewesen. Daher die unerhörte Hartherzigkeit der Antike. Daher die gleich unerhörte Starrheit der Juden. Daher das typischerweise Lebensfeindliche aller herrschenden Gerechtigkeit überhaupt, handle es sich um die Kirche und Theologie gegenüber spontaner Religiosität oder die Wissenschaft gegenüber dem originalen Einfall oder die Gesinnung der Stützen der Gesellschaft gegenüber dem unbefangenen Menschenkinde, das seine eigenen Wege geht, weil sein inneres Ja stärker ist als alle überkommenen Nein-Schranken.

Prinzipiell beurteilt, brauchte es nicht so zu sein, dass jede als letzte Instanz geltende Ethik den Geist des Bösen verkörpert. Aber auf die Dauer war es immer so, eben auf Grund der Übermacht der Trägheit gegenüber der Freiheit. Von hier aus können wir denn noch einmal und jetzt tiefer verstehend auf die psychologischen Errungenschaften von Ludwig Klages zurückgreifen, deren ausgereiftesten Ausdruck die vierte Auflage seiner Charakterkunde enthält; er ist es, wie hier nochmals betont sei, von dem der Satz stammt, dass das Ethische und das Böse desselben Baumes Zweige sind. Ausschließliche Akzentlegung auf das, was Klages Geist heißt, was in Wahrheit aber den ethischen Aspekt des Lebens bedeutet, führt zur Verdrängung und Verkümmerung des Vitalen. Wer immer will und willentlich handelt, kann seine Gefühle gleichzeitig weder ausleben noch entwickeln. Aber der Willensmensch als Akzentleger auf das Nein ist auch unschöpferisch. Das Schöpferische quillt überall aus einer Region Jenseits des Ich hervor, wo des Willens Urgrund eben in dieser liegt; was vulgo schöpferischer Wille genannt wird, ist in Wahrheit Einbildungskraft1. Ebendeshalb ist der, dem irgendeine objektivierte Ethik letzte Instanz ist, physiologisch unfähig, das wahrhaft Gute zu tun.

Dieses gelingt nie anders, wie das vorige Kapitel lehrte, als in Form eines unbedingt spontanen Akts, der im metaphysischen Urgrund seinen Ursprung hat. Wer nun in irgendwelchen Tugendlehren ein letztes sieht, der kann erstens nie wirklich spontan handeln, zweitens findet sein Bewusstsein niemals mit dem tiefsten Wesen Kontakt, denn er bleibt in Gestaltungen der Oberfläche gefangen. Deswegen kann kein Gesetzesgerechter jemals im wahren Sinn des Wortes gut sein, und wer nicht im Sinn der Freiheit gut ist, überantwortet sich eben damit dem Geist des Bösen. Daher, noch einmal, die furchtbare Hartherzigkeit und Bosheit aller gerechten Zeiten. Ich persönlich kann mir die Hölle am ehesten und besten als moralistischen Wohlfahrts-Zwangsstaat vorstellen. Wie gewinnt man nun mit seinem tiefsten schöpferischen Grund Kontakt, von welchem Kontakt offenbar alle Wertverwirklichung abhängt? â€” Hiermit gelangen wir denn zum eigentlichen Verstehen dessen, inwiefern Ethos und Ethik nicht des Menschen letztes Wort bedeuten. Zum schöpferischen Urgrund kann es, vom Ich, dem Prinzip des Willens her betrachtet, nur eine sinngemäße Einstellung geben: die der Hingabe, also des Pathos. Man muss sich nicht halten, sondern lösen, will man durch einen Einfall begnadet werden. Gleichsinnig steht es mit allem Schöpferischen, aus welcher inneren Region immer es stamme. Immer und überall geht originale Schöpfung aus einem Jenseits des Ich hervor.

Betrachten wir von hier aus nun das Gebiet möglicher objektivierter Ethik, so wird uns vollends klar, warum ausschließliche oder letztinstanzliche Akzentlegung auf das Ethische in aller Erfahrung der Erstarrung und damit dem Bösen zugeführt hat: das Böse entspricht metaphysisch ja dem Tod. Wo nun keine Schöpfung mehr stattfindet, herrscht schon der Geist des Sterbens, denn in diesem Leben simultanen Werdens und Vergehens, wo Zerstörung und Aufbau jeden Augenblick zusammenwirken, gibt jedes Nachlassen des Geburtsmotives dem Sterbensmotive ipso facto Oberhand. Allein die letzten Sätze enthalten doch nicht unser letztes Wort. Klages gibt auf Grund seiner Erkenntnisse Geist und Ethos einfach preis. Den ausführlichen Nachweis der Falschheit seiner metaphysischen Grundtheorie werden wir etwas später erbringen. Auf Grund der bisherigen Ergebnisse dieses Buches können wir jedoch schon so viel sagen, was in diesem Zusammenhang zur Richtigstellung genügt. Geist und Ethos sind nicht notwendig Ausdrucksformen des Prinzips des Todes; sie sind es nur, insofern Trägheit und nicht Freiheit ihr Urquell ist.

Wahr spricht Klages in bezug auf Intellekt und Gesetzesgerechtigkeit; Intellektualist und Moralist sind beide Feinde des Lebens. Er irrt in bezug auf Geist und Ethos überhaupt. Denn im Logos wurzelt alle mögliche Initiative, das Ethos gestaltet diese im Menschen-Sinn. Will man sonach sein Menschentum nicht einfach verleugnen, was doch erst recht Bekenntnis zum Tode und folglich zur Lebensfeindschaft bedeutete, denn niemand kann wirklich aus seinem Menschentum heraus, so impliziert persönliche Ethos- und Geistfeindschaft einen Widersinn. Aber Klages’ Irrtum ist doch Ausfluss richtiger Intention. Es ist keine Frage, dass man sich lösen, nicht halten muss, will man schöpferisch sein. Es ist keine Frage, dass insofern Pathos weiterführt als Ethos. Aber dieses höhere Pathos setzt Ethos als Grundlage voraus. Dies ist der springende Punkt. Vielleicht sagen wir es am besten folgendermaßen. Wer nicht einmal der bewussten Formgebung, der Haltung und Initiative fähig ist, hat die eigentliche Menschenstufe noch nicht erreicht. Wer auf der Ebene muss, wo er besser könnte oder doch nach dem Urteil jedes innerlich Freien können sollte, dessen Akzentlegung auf sein Pathos ist immer ein Minderwertigkeitsbeweis. Denn das Ethos macht den Menschen überhaupt. Wer dessen Grenzsetzungen von Hause aus verleugnet, gelangt nicht über das Menschentum hinaus, sondern er fällt auf eine niedere Daseinsstufe zurück. Hier aber führt uns Klages’ Irrtum unmittelbar zur Erkenntnis des wahren Sachverhaltes weiter. Das Gebiet möglicher Ethik grenzt nicht das menschliche Maximum, sondern das Minimum ab. Im Fall der Moral leuchtet dies von Hause aus ein: die Einhaltung ihrer Gesetze bedeutet nichts Hohes und nichts Großes, wohl aber stellt sie den Mindestgrad richtiger Einstellung im kosmischen Zusammenhang dar. Brechen darf sie, in wem höhere Formprinzipien walten. Von wem immer dies nicht gilt, der muss zum Mindesten, so er sich selbst nicht schaden will, moralisch leben. Nun aber gelangen wir zur Behauptung eines positiven Jenseits möglicher Ethik: Der ethisch voll entwickelte und beherrschte Mensch muss sich seinerseits pathisch zu jenem Äußersten in sich verhalten, das seinem bewussten Willen und seiner bewussten Formung entrückt ist, jenem Äußersten, aus dem all seine Einfälle, all seine Offenbarungen stammen: nur so gelangt er zur vollen Integration seiner selbst. Nur so werden seine tiefsten schöpferischen Kräfte frei. Nur so entgeht er der Abschnürung aus dem kosmischen Zusammenhang, dessen ewiges Sinnbild Luzifers Absturz ist. Diese letzte Wirklichkeit, und sie allein, ist die Sphäre möglicher Religion.

1 Den ausführlichen Nachweis dessen, inwiefern nie der Wille, sondern nur die Phantasie schöpferisch erscheint, findet der Leser im Kapitel Der Weg meiner Schöpferischen Erkenntnis. In diesem Zusammenhang ist der von Klages erbrachte graphologische Nachweis, dass gerade Napoleon ein Mann der reinen Phantasie, ohne jede Willensbetonung war, sehr lehrreichen.
Hermann Keyserling
Zur Wiedergeburt der Seele · 1927
Das religiöse Problem
© 1998- Schule des Rades
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