Schule des Rades

Richard Wilhelm

I Ging · Das Buch der Wandlungen

Zweites Buch: Das Material — Da Dschuan — Die große Abhandlung

Kapitel 3
B. Die Ausführungen

Über die Worte zu den Zeichen und Linien

§ 1
Die Entscheidungen beziehen sich auf die Bilder.
Die Strichurteile beziehen sich auf die Veränderungen.

Die Entscheidungen (Urteile), die König Wen zu den Gesamtzeichen gab beziehen sich jeweils auf das durch das Zeichen dargestellte Bild der Gesamtsituation. Die den einzelnen Strichen vom Herzog von Dschou beigefügten Urteile beziehen sich auf die innerhalb der Gesamtsituation sich vollziehenden Veränderungen. Beim Orakel kommen diese Strichurteile nur in Betracht, wenn die betreffenden Linien sich bewegen, d. h. entweder durch eine Neun oder durch eine Sechs dargestellt werden.

§ 2
Heil und Unheil bezieht sich auf Verlust oder Gewinn, Reue und Beschämung bezieht sich auf kleinere Unvollkommenheiten. Kein Makel bedeutet, dass man imstande ist, seine Fehler auf die rechte Weise auszubessern.

Hier ist eine nähere Ausführung von Paragraph 3 des vorigen Kapitels. Wenn man in Worten und Handlungen immer das Rechte trifft, das heißt Gewinn; wenn man nicht das Rechte trifft, das heißt Verlust. Kleinere Abweichungen vom Rechten heißen Unvollkommenheiten. Wenn man das Rechte nicht weiß und aus Versehen das Unrechte tut, das ist ein Fehler. Wenn man diese kleinen Unrichtigkeiten merkt und sie wieder gutmachen möchte, so entsteht Reue. Wenn man seine kleinen Unrichtigkeiten nicht merkt oder die Möglichkeit hätte, sie gutzumachen, aber nicht fähig oder gewillt ist, sie gutzumachen, so entsteht Beschämung. Die Fehler sind wie die Risse in einem Kleid: Wenn ein Kleid zerrissen ist und man bessert es aus, so ist es wieder ganz. Wenn man Fehler hat und bessert sie dadurch aus, dass man sich dem Rechten wieder zuwendet, so bleibt kein Makel.

§ 3
Darum beruht die Anordnung von vornehm und gering auf den einzelnen Plätzen, der Ausgleich von groß und klein auf den Gesamtzeichen, die Unterscheidung von Heil und Unheil auf den Urteilen.

Die sechs Plätze des Zeichens werden folgendermaßen unterschieden: der unterste und der oberste sind sozusagen außerhalb der Situation. Davon ist der unterste der geringe Platz, weil er noch nicht in die Situation eingetreten ist. Der oberste Platz ist vornehm; er ist der Weise außerhalb der Weltgeschäfte, unter Umständen auch ein vornehmer Mann ohne Macht. Von den inneren Plätzen sind zwei und vier die Plätze der Beamten bzw. der Söhne, der Frauen. Davon ist der vierte der höhere, der zweite der geringere. Der dritte und der fünfte Platz haben maßgebende Stellungen, der dritte an der Spitze des unteren Zeichens, der fünfte als Herrscher des Ganzen.
Groß und klein bedeutet die festen und die weichen Linien. Sie finden ihren Ausgleich im Gesamtzeichen. Sowohl die großen wie die kleinen können gut sein und Heil bedeuten, wenn sie an den für sie richtigen Plätzen stehen. Welches diese Plätze sind, lässt sich nicht in abstracto bestimmen, sondern das kommt auf die Art des Gesamtzeichens an. Oft kann die Lage so sein, dass Weichheit gut ist; dann wird ein weicher Strich auf weichem Platz besonders günstig sein, und ein fester auf festem Platz kann dann unter Umständen ungünstig sein. Oft ist Kraft nötig; dann ist ein weicher Strich auf festem Platz besser; oft wieder verlangt die Situation, dass Charakter und Platz übereinstimmen: kurz, die Verteilung im einzelnen ergibt sich aus dem bestreffenden Zeichen bzw. der Situation, die es nachbildet. Darum sind die Urteile beigefügt, um Heil bzw. Unheil anzudeuten, wie es sich aus der Situation ergibt.

§ 4
Die Sorge vor Reue und Beschämung beruht auf der Grenze. Der Antrieb zur Makellosigkeit beruht auf der Reue.

Reue und Beschämung sind die Folge von Abweichungen vom rechten Weg und bedingen daher stets eine Umkehr. Man kann sich beides ersparen, wenn man zur rechten Zeit auf der Hut ist. Der Punkt, wo die Sorge einzusetzen hat, die Reue und Beschämung erspart, ist der Grenzpunkt, da, wo das Gute oder Böse sich im Gemüt schon regt, aber noch nicht in die Erscheinung getreten ist. Wenn man in diesem Moment eingreift und der Bewegung in ihrem Keim die Richtung aufs Gute gibt, bleibt einem Reue und Beschämung erspart. Wenn dagegen ein Fehler schon gemacht ist, so ist die Reue die psychologische Kraft, die zu Buße und Besserung führt.

§ 5
Darum gibt es unter den Zeichen kleine und große, und dementsprechend reden die Urteile von Gefahr oder Sicherheit. Die Urteile weisen jedesmal auf die Richtung der Entwicklung hin.

Unter den Situationen, die durch die Zeichen nachgebildet sind, gibt es aufwärtsstrebende, expansive und absteigende, sich verengernde. Dementsprechend ist zu manchen Zeiten mehr mit Gefahr zu rechnen, zu andern wieder auf Sicherheit und Ruhe zu hoffen. Um sich jeweils der entsprechenden Situation völlig anzupassen, ist es von großem Wert, dass man diese Verhältnisse kennt. Das ist ebenfalls die Funktion der Urteile, dass sie jeweils die Richtung angeben, in der die Situation sich entwickelt.

Richard Wilhelm
I Ging · Das Buch der Wandlungen
Da Dschuan — Die große Abhandlung
© 1998- Schule des Rades
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