Schule des Rades

Richard Wilhelm

I Ging · Das Buch der Wandlungen

Drittes Buch: Die Kommentare — Zweite Abteilung

I D E O G R A M M

40. Hië - Die Befreiung

Kernzeichen:Kan und Li
Die Herren des Zeichens sind die Neun auf zweitem und die Sechs auf fünftem Platz. Darum heißt es im Kommentar zur Entscheidung: Durch Hingehen bekommt er die Menge: das bezieht sich auf den fünften Platz, und weiter: Er bekommt die zentrale Stellung: das bezieht sich auf den zweiten Platz.
Die Reihenfolge
Die Dinge können nicht dauernd in Hemmnissen sein. Darum folgt darauf das Zeichen: die Befreiung. Befreiung bedeutet Entspannung.
Vermischte Zeichen
Befreiung bedeutet Entspannung.
Der Gedanke der Lösung und Befreiung kommt dadurch zur Darstellung, dass oben bzw. außen das Zeichen Dschen, Bewegung, steht, das sich aus dem unteren bzw. inneren Zeichen Kan, Gefahr, herausbewegt. Es ist einerseits die Weiterentwicklung des Zustandes, der in Nr. 3, Dschun, Anfangsschwierigkeit, gezeichnet ist: dort die Bewegung innerhalb der Gefahr, hier die Befreiung. Andererseits ist das Zeichen die Umkehrung des vorigen. Das Hemmnis ist umgestürzt, die Befreiung ist da.
Vom Bild aus betrachtet ist der Donner, die Elektrizität, durch die Regenwolken hindurchgedrungen. Die Spannung ist ausgeglichen. Das Gewitter bricht los, die ganze Natur atmet befreit auf.
Das Urteil
Die Befreiung. Fördernd ist der Südwesten.
Wenn nichts mehr da ist, wohin man zu gehen hätte,
ist das Wiederkommen von Heil.
Wenn es noch etwas gibt, wohin man gehen muss,
dann ist Raschheit von Heil.
Kommentar zur Entscheidung
Die Befreiung. Die Gefahr bewirkt Bewegung. Durch die Bewegung entgeht man der Gefahr: das ist die Befreiung.
Während der Befreiung ist fördernd der Südwesten: durch Hingehen bekommt er die Menge.
Sein Wiederkommen ist von Heil: denn er bekommt die zentrale Stellung. Wenn es noch etwas gibt, wohin man gehen muss, ist Raschheit von Heil:
dann ist das Hingehen verdienstvoll.
Wenn Himmel und Erde sich befreien, erheben sich Donner und Regen. Wenn Donner und Regen sich erheben, so brechen die Hüllen aller Früchte, Kräuter und Bäume.
Die Zeit der Befreiung ist wahrlich groß.
Die Gefahr regt zur Bewegung an, durch diese Bewegung kommt man aus der Gefahr heraus: darin liegt die Erklärung des Namens des Zeichens aus den Eigenschaften der beiden Teilzeichen.
Der Südwesten ist der Platz des Zeichens Kun, das Empfangende. Man ist schon aus der Schwierigkeit heraus, deshalb wird der Gegensatz, der Nordosten, nicht mehr genannt. Kun hat die Bedeutung der Menge. Das bezieht sich auf die Sechs an fünfter Stelle. Wenn eben erst die Befreiung eingetreten ist, so ist zunächst noch eine gewisse Schonung nötig, eine ruhige Pflege im mütterlichen Schoß des Empfangenden. Durch die Rückkehr, wenn nichts mehr zu erledigen ist, erhält die Neun auf zweitem Platz das Zentrum des unteren Zeichens. Wenn man noch etwas zu tun hat, ist es von Heil, es so rasch und überlegt wie möglich zu tun, denn dadurch wird die Bewegung von Erfolg gekrönt; es ist keine ziellose, vergebliche Bemühung. Es wird dann noch die Befreiung der Spannung in der Atmosphäre durch ein luftreinigendes Gewitter als Gleichnis erwähnt, das alle Schalen springen macht. So hat auch die Zeit der Befreiung ihr Großes.
Das Bild
Donner und Regen erheben sich:
das Bild der Befreiung.
So verzeiht der Edle Fehler und vergibt die Schuld.
Kan bedeutet Prozesse und Sünden. Dschen bewegt sich nach oben und lässt die Fehler hinter sich zurücksinken. Dadurch wird im Leben eine ähnliche Entspannung erreicht wie in der Natur durch ein luftreinigendes Gewitter.

Die einzelnen Linien

Anfangs eine Sechs bedeutet:
  1. Ohne Makel.
  2. Auf der Grenze zwischen fest und weich ist es selbstverständlich, dass kein Makel besteht.

Der Strich ist am starken Platz, aber weich von Natur. Er steht im Verhältnis des Entsprechens zu der Neun auf viertem Platz, die auf schwachem Platz steht, aber stark von Veranlagung ist. Durch das Zusammenwirken dieser ausgeglichenen Gegensätze kommt Ordnung in das Ganze, und es ist selbstverständlich, dass dadurch alles gut läuft.

Neun auf zweitem Platz bedeutet:
  1. Auf dem Feld erlegt man drei Füchse
    und bekommt einen gelben Pfeil.
    Beharrlichkeit ist von Heil.
  2. Das Heil der Beharrlichkeit der Neun auf zweitem Platz beruht darauf, dass sie den mittleren Weg erlangt.

Das Zeichen Kan bedeutet einen Fuchs, Li bedeutet Bogen und Pfeil. Der zweite Platz ist der Platz des Felds, als oberster Platz der unteren zwei Striche (vgl. Neun auf zweitem Platz im Zeichen Kiën, das Schöpferische, Nr. 1). Die Dreizahl der Füchse sind die drei Yinlinien außer der Sechs auf fünftem Platz.

Sechs auf drittem Platz bedeutet:
  1. Wenn einer eine Last auf dem Rücken trägt
    und trotzdem auf dem Wagen fährt,
    veranlasst er dadurch die Räuber, herbeizukommen.
    Beharrlichkeit führt zu Beschämung.
  2. Wenn einer eine Last auf dem Rücken trägt und trotzdem Wagen fährt, so sollte er sich wahrlich schämen.
    Wenn ich so selbst die Räuber auf mich ziehe, wem will ich da die Schuld zuschieben?

Der Strich steht an dem Punkt, wo das untere Zeichen Kan und das obere Kernzeichen Kan sich berühren. Kan bedeutet Wagen und Räuber. Das Material ist so beschaffen, dass die Sechs als Yinlinie, die von Natur schwach ist, den obersten Platz des untersten Zeichens einnehmen will. Da ihre Kraft dazu nicht ausreicht, trägt sie eine schwere Last. In dieser unhaltbaren Lage zieht sie die Räuber mit Notwendigkeit auf sich. Beharren in dieser Lage führt natürlich zu Beschämung.

Neun auf viertem Platz bedeutet:
  1. Befreie dich von deiner großen Zehe.
    Dann kommt der Gefährte herbei,
    und dem kannst du trauen.
  2. Befreie dich von deiner großen Zehe,
    weil der Platz nicht der gebührende ist.

Das Zeichen Dschen bedeutet den Fuß, die Sechs auf drittem Platz weilt ganz unterhalb des Zeichens Dschen, darum entsteht das Bild der großen Zehe. Die Neun auf zweitem Platz und die Neun auf viertem Platz sind Freunde gleichen Wesens, die zusammen dem Herrn auf fünftem Platz in Treuen helfen. Dazu ist es aber erst nötig, dass die dazwischenstehende Sechs auf drittem Platz, mit der die Beziehung des Zusammenhaltens besteht, ausgeschaltet wird. Der Platz ist nicht der gebührende, da der vierte Platz ein Yinplatz ist, der Strich dagegen ein Yangstrich*.

Sechs auf fünftem Platz bedeutet:
  1. Wenn der Edle sich nur befreien kann, das bringt Heil.
    Er zeigt so den Gemeinen, dass es ihm ernst ist.
  2. Der Edle befreit sich, weil dann die Gemeinen sich zurückziehen.

Der fünfte Platz ist der Platz des Herrschers. In Zeiten der Befreiung ist auch die weiche Gemütsart am Platz, da sie den starken Gehilfen gegenüber im Verhältnis der Entsprechung ist. Nur ist es wichtig, dass man sich von den gleichgearteten gemeinen Menschen losmacht. Wenn sie diese Gesinnung merken, dann ziehen sie sich von selbst zurück. Der Strich macht sich ebenso wie der vorige los dadurch, dass er – dem Zeichen Dschen entsprechend – sich nach oben bewegt.

Oben eine Sechs bedeutet:
  1. Der Fürst schießt nach einem Habicht auf hoher Mauer.
    Er erlegt ihn. Alles ist fördernd.
  2. Der Fürst schießt einen Habicht:
    dadurch befreit er sich von den Widerstrebenden.

Die obere dunkle Linie ist schädlich, wie denn außer der Sechs auf fünftem Platz alle Yinlinien zur Zeit der Befreiung eher von negativer Wirkung sind, soweit diese nicht durch Beziehungen zu Yanglinien ausgeglichen sind. Von unten her, wo das Zeichen Kan ist, das Pfeil bedeutet, wird dieser hochgestellte Frevler getroffen, da die Bewegung nach oben geht, und damit die Befreiung von dem letzten Hemmnis erreicht.

Anmerkung:
*Nach anderer Auffassung ist die große Zehe, von der man sich trennen soll, die Anfangssechs, zu der das Verhältnis der Entsprechung besteht, von dem man sich befreien muss.