Schule des Rades

Arnold Keyserling

Geschichte der Denkstile

11. Das wissenschaftliche Denken

Ludwig Wittgenstein

Wittgenstein, 1889-1951, stammt aus einem sehr reichen Haus. Er gab sein Vermögen auf, um rein dem Denken zu leben. Ursprünglich wollte er Physik studieren; doch 1911 wechselte er, wahrscheinlich auf Anregung Freges, zur Philosophie über.

Sein wesentliches Werk war der Tractatus logico-philosophicus. Dieser beruht auf sieben Thesen, die mit Hilfe einer Dezimalnotation erklärt werden und eine Synthese von Mach und Frege bedeuten.

  1. Die Welt ist alles, was der Fall ist.
  2. Was der Fall ist, die Tatsache, ist das Bestehen von Sachverhalten.
  3. Das logische Bild der Tatsachen ist der Gedanke.
  4. Der Gedanke ist der sinnvolle Satz.
  5. Der Satz ist eine Wahrheitsfunktion der Elementarsätze.
  6. Die allgemeine Form der Wahrheitsfunktion ist p, ξ und N (ξ).
  7. Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.

Diese Grundsätze haben folgenden Sinn:

  1. Um zu denken, muss man zuerst einen Allgemeinbegriff haben, der alle mögliche Erfahrung umfasst. Anaximander wählte das Unendliche, Wittgenstein das der Fall seiende, was sich also als möglich oder wirklich in einem Seinssatz beschreiben lässt.
  2. Der Fall ist die Tatsache, also ein raumzeitliches Ereignis. Ein solches hat eine bestimmte Konfiguration von Eigenschaften, da das Sein-an-sich noch bedeutungslos ist. Einzelelemente, die Wittgenstein als Sachverhalte bezeichnet, haben Bedeutung, aber noch keinen Sinn. Dieser entsteht auch bei Worten erst in ihrer Zusammenfügung zum Satz.
  3. Der Gedanke verknüpft die Bedeutung der Worte, die für etwas Wirkliches oder Mögliches stehen, zu einem Sinneszusammenhang.
  4. Dieser Sinneszusammenhang ist als Satz den Tatsachen übergeordnet; er steht gleichsam für das Kräftenetz der Wirklichkeit.
  5. Der Satz ist eine Wahrheitsfunktion; mittels seiner kann auf logische Weise ermittelt werden, ob die Tatsachen richtig verknüpft sind oder nicht.
  6. Das Kriterium zu ihrer richtigen Verknüpfung sind drei Faktoren. Wirklichkeitsentsprechung, Möglichkeitsentsprechung, und der Satz vom Widerspruch.
  7. In diesem sechsfältigen Bereich findet sich alles Sagbare eingeschlossen; doch das Sagbare ist vom Unsagbaren, das Sprechen vom Schweigen umschlossen.

Mittels seiner sechs Sätze — denn der siebte bedeutet das Ende des Traktats — und ihren Ableitungen bestimmte Wittgenstein den Raum des sinnvollen Inhaltes der Sprache. Doch das Sprechen hat eine Funktion, die Verständigung, und ein Subjekt, den Menschen; dieser ist nicht in seiner Sprache enthalten; er steht als Sprechender oberhalb ihrer. Ferner ist die Gleichung Sprache-Wirklichkeit, wie schon Carnap feststellen musste, nicht einfach zu postulieren; sie zu erkennen und darzustellen ist ja von jeher das Anliegen der Philosophie gewesen. Während nun Carnap aus der Konstitutionslehre in die Wissenschaft überwechselte und in der induktiven Logik im Verein mit der Wahrscheinlichkeitsrechnung den Hebel zum praktischen Einsatz des Denkens fand, der dann in der Kybernetik vollendet wurde, kam Wittgenstein erst nach einer langen Pause seines Philosophierens — während der er als Volksschullehrer, später als Architekt wirkte — zu seiner eigentlichen Definition des Verhältnisses von Mensch zu Sprache: es liegt in ihrem Spielcharakter begründet, durch den sich der Mensch dialektisch aus ihren Fängen befreit. Nicht nur die Umgangssprache, sondern alle menschlichen Tätigkeiten, also selbst die Physik und die Mathematik bedeuten ein Spiel; sie werden dadurch bestimmt, dass innerhalb gegebener oder geschaffener Regeln gewisse Zusammenhänge erzeugt, andere wieder aufgelöst werden. Man könnte die naturwissenschaftlichen Gesetze als diejenigen Spielregeln betrachten, in deren Rahmen sich die Natur bereit erklärt, mit dem Menschen zu spielen.

Der Sinn des Sprachspiels ist aber nicht wie beim Wiener Kreis die Bemächtigung der Wirklichkeit, sondern die Erringung der Spontaneität, der Offenheit als Voraussetzung des echten Dialogs. Der Mensch lebt nur dann aus seinem Wesen und offen, wenn kein Wissen ihm den Weg zu seinem Ursprung verstellt; wenn er sich also von allen ihn bedingenden Verstellungen enthalten kann. Solch ein Spiel in der Sprache zu entdecken und zu begründen — also eine sokratisch-kathartische Methode — war das Ziel seiner Philosophischen Untersuchungen. In diesem werden keine Antworten gegeben, sondern sein Sinn liegt im gemeinsamen Spielen, im gemeinsamen Durchdenken der Frage bis zu ihrem Ende, das entweder ein Nichts ist, oder eine neue Frage. Dieser Gedanke war schon in einem Satz des Traktats angelegt:

6.54
meine Sätze erläutern dadurch, dass sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie — auf ihnen — über sie hinausgestiegen ist. (Er muss sozusagen die Leiter wegwerfen, nachdem er auf ihr hinaufgestiegen ist). Er muss diese Sätze überwinden, dann sieht er die Welt richtig.
Arnold Keyserling
Geschichte der Denkstile · 1968
11. Das wissenschaftliche Denken
© 1998- Schule des Rades
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