Schule des Rades

Arnold Keyserling

Geschichte der Denkstile

11. Das wissenschaftliche Denken

Karl Jaspers

Karl Jaspers, 1883 in Oldenburg geboren, war ursprünglich Psychiater. 1913 veröffentlichte er eine Allgemeine Psychopathologie, in der er im Anschluss an Dilthey die Auffassung vertrat, dass Psychiatrie eine Geisteswissenschaft, also keine Naturwissenschaft sei. Unterbaut wurde diese These durch seine Unterscheidung von Erklären und Verstehen: Erklären sei auf das Erfassen von kausalen Zusammenhängen, Verstehen auf das Erfassen von seelischen Zusammenhängen gerichtet. Verstehen wiederum gliedere sich in das rationale Verstehen, das auf den Zusammenhang gedanklicher Inhalte gerichtet ist, und das einfühlende Verstehen, das den seelischen Ursprung der gedanklichen Inhalte erfasst.

Aus diesem Ansatz veröffentlichte Jaspers 1919 die Psychologie der Weltanschauungen. Dort versuchte er, das eigentümliche Verhältnis des Einzelnen zu seiner Weltanschauung zu beschreiben. Diese Weltanschauung — als Zusammenfügung husserlscher Wesensschau und tatsächlicher Erfahrung — spaltet sich in subjektive Einstellungen und objektive Weltbilder.

Die Einstellungen gliedern sich in gegenständliche, reflektierte und enthusiastische. In der reflektierten Einstellung wird im Unterschied zur gegenständlichen die Welt der außerbewussten Gegenstände gleichsam auf das Subjekt zurückgebogen; in der enthusiastischen wird der Intention nach die Subjekt-Objekt-Spaltung überschritten, Blick und Gesinnung sind ins Grenzenlose gewandt.

Die Weltbilder, also die Haltung zu den Objekten, sind Bedingungen und Folgen der seelischen Existenz; sie sind Gehäuse und damit so wenig zufällig wie das Schneckenhaus für die Schnecke. Auch hier werden drei Grundtypen ausgearbeitet: das sinnlich-räumliche Weltbild, das seelisch-kulturelle und das metaphysische, die der bekannten Dreigliederung der Psyche nach den Bereichen und auch den Einstellungen entsprechen.

Metaphysisches Weltbild und enthusiastische Einstellung streben nach dem Absoluten; der Mensch muss ins Absolute etwas stellen, und wenn es auch das Nichts wäre. Hierbei sind die sinnlich-räumlichen und seelisch-kulturellen Gegebenheiten sein Stoff, aber er weiß, dass dieser Stoff, der Inhalt nicht das gemeinte Absolute ist, sondern nur ein Zeiger — eine Chiffre — denn das Absolute führt notwendig über Subjekt und Objekt hinaus. Nur in der Liebe kann er diese Transzendierung erfahren.

Diese Liebe, in der er seine echte Existenz erlebt, ist nicht ein bloßes Objektgewahrsein. Sie und damit das echte Bewusstsein tritt nur in Grenzsituationen in Erscheinung; in Situationen, die an den Grenzen unseres Daseins gefühlt, erfahren, erdacht werden. Sie sind negativ dadurch bestimmt, dass der Mensch in der Welt der Gegenstände nichts Festes erleben kann: Alles fließt, ist in ruheloser Bewegung des In-Frage-gestellt-Werdens, alles ist relativ, endlich, in Gegensätze zerspalten, nie das Ganze, das Absolute, das Wesentliche. Als solche Grenzsituationen werden Kampf, Tod, Zufall, Schuld und Leiden genannt, weil diese wie der Kampf uns vor einen realen, nicht nur einen theoretischen Widerspruch bringen, in welchem der Mensch nur existentiell antworten kann. An der Grenze seines Daseins befindet er sich vor Unvereinbarkeiten, die sein Leben unerträglich machen und auf die er reagieren muss.

Die Art des Reagierens ist typisch und lässt sich auf eine begrenzte Anzahl zurückführen: sie leitet über zu einer Strukturpsychologie der Geistestypen, mit der die Psychologie der Weltanschauungen ihren Abschluss fand.

Aus diesem Ansatz entwickelte Jaspers später ein System der Existenzphilosophie, in dem der Begriff des Scheiterns — daher die Ableitung von Kierkegaard — die zentrale Rolle erhielt. Dieses ist nicht negativ aufzufassen; in seinem Scheitern findet der Mensch sich selbst als den Philosophierenden. Das Denken kann seinen letzten transzendierenden Schritt nur im Sichselbstaufheben vollziehen. Was es philosophisch erringt, muss es wieder und wieder in Frage stellen. Nur das scheiternde Denken kann die Wucht des Wirklichen erfahren.

So ergibt sich in der Philosophie ein dreifacher Weg. Die Existenzerhellung spaltet sich in den beiden Richtungen nach Einstellung und Weltbild in metaphysisches Chiffre-Lesen und philosophische Weltorientierung. Damit ist Jaspers wieder zur kantischen Triade von Welt, Seele und Gott oder dem Absoluten zurückgekehrt. Doch im Unterschied zu etwa den Neukantianern behauptet er, dass diese einer rationalen Erkenntnis nicht zugänglich seien; die letzte Antwort ist die Unruhe des Nichtwissens in der Grenzsituation. Hiermit steht er im Gegensatz zu Martin Heidegger, der die Existenz über eine Ontologie zu klären sucht.

So spaltet sich bei Jaspers die Philosophie in Metaphysik jenseits des Wissbaren und die positiven, der Erfahrung zugänglichen Wissenschaften, die aber nur den Stoff der Existenz bilden. Erst das wahre Scheitern führt zum Sein, welches damit nicht als inhaltlicher, sondern als intensiver Zustand bestimmt wird. Der philosophische Gedanke ist ein Vollzug existentieller Möglichkeiten; er ist ein Glaube, der zur existentiellen Achse das innere Handeln hat. Daraus erwachse ihm seine erweckende Macht.

Arnold Keyserling
Geschichte der Denkstile · 1968
11. Das wissenschaftliche Denken
© 1998- Schule des Rades
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