Schule des Rades

Arnold Keyserling

Geschichte der Denkstile

12. Das ganzheitliche Denken

Sigmund Freud

Als Sigmund Freud (1856-1939) bei Charcot in Paris studierte, fiel ihm auf, dass unter dem Titel Hysterie eine ganze Anzahl von Phänomenen zusammengefasst waren, die verschiedene Ursprünge hatten. Das gleiche galt für die Erklärungsversuche: die einen sprachen von Besessenheit, die anderen von eingebildeter Krankheit. Den Patienten war mit beiden Erklärungen nicht gedient. Überdies hatte die Hypnose gezeigt, dass es im Menschen unterhalb des bewussten Ich eine Tiefenperson gibt, die auf bestimmte Weise angesprochen werden kann und auch das Wachbewusstsein beeinflusst, ja in vielen Fällen für die Hysterie verantwortlich ist. Freud ging das Problem mit einer neuen Methode an: der Psychoanalyse. Das Unterbewusste offenbart sich vor allem im Traum. Daher gilt es die Traumassoziationen, die von den Wissenschaftlern der Neuzeit als bloße Einbildung abgetan worden waren, durch besondere Experimente bewusst zu machen und ihre Triebwurzeln zu entdecken.

Anstelle eines hypothetischen philosophischen Seelenbegriffs prüfte Freud als erster die tatsächliche psychische Wirklichkeit. Dabei kam er zu folgendem Ergebnis: das menschliche Unbewusste ist auf Befriedigung der Triebe gerichtet, deren Generalnenner die Geschlechtlichkeit bildet. Viele Hysterien entstehen aus Verdrängung des Lusttriebes. Dem lustsuchenden Es, wie Freud es nannte, steht als zensurierende Instanz noch jenseits des Ich ein geistiges Überich entgegen, das sich aus religiöser und väterlicher Autorität gebildet hat und ferner, wie Freud in seinem Alter erklärte, noch eine andere Triebrichtung versinnbildliche: den Todestrieb als Gegenpol des Geschlechtstriebs.

Der Mensch strebt nach geschlechtlicher Erfüllung, die er nur in einem Partner des Gegengeschlechts finden kann. In diesem Streben gibt es nun verschiedene Stufen, die erstmals physiologisch als Stadien der Reizempfindung beim Kleinkind auftreten; Freud nannte sie das orale, anale und phallische Stadium. Beim Kleinkind ist die Lustempfindung zuerst mit dem Essen verknüpft, mit dem Mund und der Mutterbrust; es will gleichsam die ganze Welt verzehren. Als nächstes wendet sich die Empfindung der Verdauung zu, den Exkrementen. Freud nannte dieses das analsadistische Stadium, weil es mit dem ersten Auftreten kindlicher Grausamkeit verbunden ist. Im dritten Stadium, dem phallischen, das mit der Pubertät eintritt, wendet sich das Interesse den Geschlechtsmerkmalen selbst zu; und erst viel später, als Erwachsener, kann der Mensch im normalgenitalen Stadium ein befriedigendes Verhältnis zum Gegengeschlecht in der Liebe erreichen.

Die vier Stadien sind körperlich vorgebildet, entwickeln sich aber seelisch nicht von selbst; durch die neuzeitliche positivistische Leugnung der Seele sind sie bei vielen Menschen der Verdrängung anheimgefallen, während die sogenannten primitiven Gesellschaften sie in den Männerweihen und dergleichen noch berücksichtigt hatten. Wenn aber die psychische Entwicklung unterbrochen wird, dann manifestiert sich dies in einer seelischen Nachahmung der Stufen — im oralen Don Juan oder den Nymphomanen, die nie zu einem befriedigenden Geschlechtsverkehr kommen und ewig nach dem geeigneten Partner suchen; im analsadistischen Asketismus und Fanatismus, der in magischen Beziehungswahn ausarten kann, oder im phallischen Exhibitionismus mit seiner Freude an der Pornographie. Durch Unkenntnis dieser Zusammenhänge gibt es viele Erscheinungen der zeitgenössischen Zivilisation, die eine Institutionalisierung eines der Impulse darstellen. So ist die Sensationspresse eine Verkörperung des phallischen Stadiums, der religiöse und politische Fanatismus mit seiner Organisationswut entstammt dem analen Stadium, und die Werbetechnik der Konsumgesellschaft richtet sich an Menschen des oralen Stadiums. Das normalgenitale Stadium ist dagegen mit der Institution der Ehe die Voraussetzung aller normalen Entwicklung. So lässt sich die Zivilisation der heutigen Welt in vielen Richtungen als krankhaft bestimmen und leicht kann die persönliche Hysterie in Massenhysterie ausarten, von der die jüngste Vergangenheit genug Beispiele gegeben hat.

Die wesentlichste Entdeckung Freuds betraf die vier Strukturen der Neurosen, Psychosen und Geisteskrankheiten, die in Entsprechung zu den Stadien stehen:

  • Dem phallischen Stadium entspricht die Hysterie. Der Hysterische fürchtet infolge völliger Unausgereiftheit die Sexualität als Plattform notwendiger zwischenmenschlicher Bewährung. Er hat die genitale Stufe nicht erreicht.
  • Der Zwangsneurotische unterliegt dem magischen analsadistischen Beziehungswahn, ist unfähig zum Ausüben seiner latenten Aggressivität. Er fürchtet, dass Zärtlichkeit von ihm verlangt werden könnte. Die Fähigkeit hierzu ist aber durch Verdrängung der Aggressivität verschüttet worden.
  • Der Depressive, in Entsprechung zum oralkaptativen Stadium, fürchtet die Hingabe, als ob sie Hergabe sei und man dabei gefressen würde.
  • Der Schizoide fürchtet Kontakt überhaupt. Er unterliegt dem Einfluss unbewältigter mythischer Bilder, von denen aus er keinen Zugang zur menschlichen Wirklichkeit findet, mit der er deshalb immer wieder plötzlich enttäuscht brechen wird und sich autistisch einkapselt. So ist er nicht ein Zerrbild des normalgenitalen Zustands, sondern dessen Gegenpol.

Die vier Neurosentypen bedeuten eine Wiedererweckung der paracelsischen Vorstellung, dass der Mensch durch die vier Elementargeister besessen sei und sich von ihnen zu seiner ursprünglichen Lebenskraft befreien müsse. So ordnet sich auch das empirisch gefundene Schema Freuds dem Wesenskreis ein:

Zu der Erkenntnis der Triebstruktur trat bei Freud eine neue Einsicht in das Wesen der Mythen; vor allem die griechischen stellen Vorbilder psychischer Abläufe dar. Freud wählte den Ödipus-Sagenkreis zur Erläuterung der Ursituation des Kindes, das seinem Lusttrieb schrankenlos folgen möchte, sich nach Vereinigung mit seiner Mutter sehnt und daher den Vater ablehnt, ja seinen Tod wünscht.

Gegen die negative Bewertung des Überichs wandte sich nun der Schüler Freuds, Alfred Adler, der sich damit von ihm trennte und seine psychologische Richtung im Unterschied zur Psychoanalyse als Individualpsychologie bezeichnete.

Arnold Keyserling
Geschichte der Denkstile · 1968
12. Das ganzheitliche Denken
© 1998- Schule des Rades
HOMEDas RAD