Schule des Rades

Arnold Keyserling

Geschichte der Denkstile

12. Das ganzheitliche Denken

Kulturphilosophie

Die Anfänge der Kulturphilosophie liegen bei Hippolyte Adolphe Taine und Joseph Arthur Gobineau im 18. Jahrhundert; sie waren die ersten, die die menschliche Gesellschaft auf rassische und kulturelle Triebfedern zurückführen wollten. Doch erst in Houston Stewart Chamberlains (1855-1927) Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts, das um die Jahrhundertwende erschien, gewann dieses Denken eine konkrete Form. Wie die Biologen die Wirklichkeit der Triebe bestimmten, so erkannte Chamberlain rassische und völkische Determinanten als Faktoren der Geschichte und der Politik.

Von der Kulturgeschichte im Sinne Burckhardts unterschied sich Chamberlain durch seine Ablehnung der traditionellen Werteskala. Alles, was wirksam war, sollte gleichmäßig zur Darstellung kommen, wobei ihm nicht zu Bewusstsein kam, dass damit anstelle traditioneller Wertungen nur seine eigenen Vorurteile maßgebend wurden. Dies war den Nachfolgern aber offensichtlich, und so suchten sie zu einer objektiven Grundlage vorzustoßen: Frobenius in der Lehre des Zusammenhangs von Kultur und Landschaft im Raum, Spengler in seiner Morphologie der Weltgeschichte in der qualitativen Zeit und Hermann Keyserling im Begriff des Sinnes und des Stils.

Für Leo Frobenius, 1873-1938, vollzog sich die Kulturgeschichte nicht in Form von Eroberungen und Staatsgründungen aus dem aktiven Ergreifen, sondern von Ergriffenheit zu Ergriffenheit: die Landschaftsseele jedes Kontinents und jedes Kulturgebiets hat nur ganz bestimmte Ausprägungsmöglichkeiten; diese offenbaren sich allein jenem Volk, das sich ihnen hingibt.

Schon Gustave Le Bon hatte erklärt, dass die Völker nicht durch ihre Institutionen regiert würden, sondern durch ihren Charakter. Frobenius ging einen Schritt weiter: nicht nur das Volk in seiner geschichtlichen Entfaltung, sondern auch die Erde, die Landschaft und die klimatischen Verhältnisse haben einen kulturprägenden Charakter. Er beschrieb diesen vor allem in Afrika, dessen Kulturen er als erster systematisch erforschte, allerdings in ganz anderem Sinn als die wissenschaftliche Völkerkunde. So achtete er zum Beispiel darauf, welche Zahlen im Vordergrund des Bewusstseins stünden; die Drei deute auf eine männlich-patriarchalische Kultur, die Vier auf ein Matriarchat.

Das Denken von Frobenius setzte sich in mannigfacher Hinsicht fort. Eine praktische Anwendung suchte Karl Ernst Haushofer mit seiner Geopolitik, einer Wissenschaft, die aus dem Verständnis der landschaftsgebundenen Kulturen Rückschlüsse auf die Politik zu ziehen trachtete. Der Gegenpol von Frobenius, Oswald Spengler, 1880-1936, sah den Ansatz zur Kulturkritik in der Zeit anstelle des Raumes. Er untersuchte in seinem berühmten Werk Untergang des Abendlandes, unter welchem Titel seine Morphologie erschien, die Stileinheit und Abfolge der Kulturen: die Musik von Johann Sebastian Bach, die Architektur des Barock, die absolutistische Staatstheorie und die Philosophie des Rationalismus ließen sich aus einem Stilgefühl, einem Geist heraus begreifen. Solch ein Stil erfasse alle Lebensgebiete. Doch unterliege er zyklischen Wandlungen; es ließen sich über lange Zeiträume hinweg historische Gleichzeitigkeiten erkennen, wie etwa zwischen der ionischen Aufklärung der Vorsokratiker und der französischen, oder zwischen dem Hellenismus und dem ausgehenden 19. Jahrhundert. Gleich wie Tiere vor dem Aussterben ihrer Art wie die Ammoniten in der Erdgeschichte Riesenwuchs erreichten, ebenso ließe sich eine überdimensionierte Architektur wie der spätrömische Stil oder der Bau der neuen Wiener Hofburg als Ende einer Epoche deuten. Nicht alle Entwicklungen seien jedoch echt; es gebe auch Pseudomorphosen, wo eine Kultur sich in der Gestalt einer fremden zufällig entfaltet und so untypische Züge zeigt.

Arnold Keyserling
Geschichte der Denkstile · 1968
12. Das ganzheitliche Denken
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