Schule des Rades

Arnold Keyserling

Geschichte der Denkstile

12. Das ganzheitliche Denken

Don Juan

Im Jahre 1961 begann ein junger Anthropologe, Carlos Castaneda, eine Forschungsarbeit im Auftrag der Berkeley-Universität, um die Rolle der pflanzlichen Drogen bei den Sonora-Indianern zu bestimmen. Diese Forschung brachte ihn in Kontakt mit einem wirklichen Vertreter der indianischen Tradition, dem 1891 geborenen Yaqui-Indianer Don Juan. Binnen kurzem kehrte sich das Verhältnis um: Castaneda erfuhr, dass er das Wissen nur dann gewinnen könne, wenn er bewusst diesem Weg selbst folgte; und Don Juan sah die Gelegenheit, oder besser die Erfüllung seiner Berufung, das Wesen dieser Tradition allgemeinverständlich darzustellen.

Der griechische Mythos bedeutete gegenüber den asiatischen Religionen eine neue Etappe der Bewusstwerdung: während diese den Fahrplan zum Heil zu kennen vorgaben, musste sich der Grieche den Weg zum Ursprung freikämpfen unter der steten Gefahr des Scheiterns. Mit dem logischen Denken, vor allem seit Parmenides, wandelte sich die Richtung, das Wagnis begrenzte sich auf die Suche nach objektiver Wahrheit, und bald wurde mit der Rezeption des Christentums das innere Wagnis durch die Heilsgewissheit, die frohe Botschaft verdrängt, mit dem positiven Erfolg, dass die Suche nach objektiver Wahrheit fortan im Ganzen frei weiterging — bis zur Gegenwart, wo diese Gewissheit selbst wieder durch die wissenschaftliche Kritik in Frage gestellt ist — und deren positive Bedeutung sich darauf beschränkt, dass sie die Mittel der irdischen Existenz, die werkzeughafte Erweiterung des Organismus, bereitstellt. Die Komponenten der Heilswege, die dreifältigen Gottheiten, die Mysterien von Taufe und Abendmahl als Schwellen zum Unterbewussten und Unbewussten, regredierten in die Ideologie, sodass sich keine heutige Verfassung mehr auf eine echte Weihe im Sinne des theokratischen Denkens berufen kann.

Doch dieser Weg ist nicht etwas Übernatürliches, der Gegensatz von Natur und Übernatur im Sinn des Thomas von Aquin war stets eine heuristische Fiktion. Der Mensch als Naturwesen kann seine Rolle in der Evolution nur nach erfolgter Mutation zum homo sapiens erfüllen. Die Stufen hierzu mögen in der Erziehung inkarniert sein, den Weg aber muss jeder in seiner Weise beginnen.

Dieser Weg bedeutet einen metalogischen Zusammenhang, er führt von Handlung zu Handlung, die ihn überhaupt entstehen lassen. Als erstes gilt es, den Ausgangspunkt zu finden. Castaneda erreicht diesen in seltsamer Weise: er soll in einer Hütte jenen Ort suchen, der ihm Stärke gibt und an dem er sich nicht fürchtet; wo er also mit den Naturkräften in Kontakt bleibt — eine buchstäbliche Anwendung des Satzes im I Ging: Alles Heilige hat seinen Ort.

Der nächste Schritt war, Peyote nicht aus Neugier, sondern zum Erkennen des kosmischen Lehrers zu verwenden, dem Protektor, der die Pflanzen beseelt. Auch in der asiatischen Überlieferung wurden Engel als Gegenpole der Tiere und Pflanzen verstanden, wobei der Unterschied zwischen Tier und Mensch darin besteht, dass ein Engel eine Tier- oder Pflanzengattung personifiziert (als Gattungsseele), während der Mensch im Zodiakus (Zoon = Leben) alle tierischen und pflanzlichen Eigenschaften zur Verwirklichung bringen sollte — der Tierkreis als Matrix der Bewusstseinsentfaltung.

Castaneda erlebt den Protektor Mescalito; als erstes beichtet er ihm seine Sünden, wie in den antiken Mysterien oder vor der urchristlichen Taufe. Aber die Fragen, die er zu stellen vermag, sind nur banal; er kennt noch nicht die Notwendigkeit des Weges.

Zu dem Protektor Mescalito, in seiner Rolle dem Heiligen Geist vergleichbar, gesellt sich der Verbündete, der entweder männlich, im Rauch der Pilze (Navahos: Großer Wassergeborener Coyote) oder weiblich im Stechapfel (Erster Zorn) zu finden ist. Ersterer verschafft Klarheit und Richtung, vermag Raum und Zeit zu überschreiten, den Körper zu verlassen; der andere beziehungsweise die andere vermittelt die Fähigkeit der Macht, ist aber trügerisch und schwer zu beherrschen. Alle drei gilt es einzubeziehen, wenn man ein Mann des Wissens werden will, als welchen die indianische Tradition den Erwachten bezeichnet. Auf diesem Weg gibt es vier Feinde: Angst, trügerische Klarheit, Machttrieb, und schließlich Trägheit als Sehnsucht nach Ruhe.

Die Angst ist nicht die Todesangst, sondern jene Angst, die den Menschen überfällt, sobald er die Schranken des alltäglichen Bewusstseins überschreitend mit unbegreiflichen Erfahrungen in unbekannten Dimensionen konfrontiert wird. Wird diese Angst überwunden, erreicht er die Klarheit einer neuen Schau.

Diese Klarheit aber wird zu seinem zweiten Feind: er scheint nun alles zu wissen, zu kennen, zu durchschauen, und erstarrt zu einem sarkastischen Clown.

Wenn er der Gefahr des Wissens nicht unterliegt, wird ihm dieses zur Macht; Wirksamkeit manifestiert sich nicht nur in allem, was er tut, sondern auch in allem, was ihm zustößt. Damit begegnet er seinem dritten Feind, der Macht, die, wenn er sie sich zuschreibt, sich ihr verschreibt, seinen Weg verstellt.

Wenn er auch dieser Versuchung überlegen bleibt, findet er Frieden und Ruhe. Damit ist er seinem letzten Feind begegnet: denn hinter dieser Ruhe verbirgt sich die Müdigkeit der Kreatur, die Trägheit des alternden Menschen. Wer auch diesem Feind nicht unterliegt, ist wahrhaftig ein Mann des Wissens, ein echter Weiser.

Kein Weg ist vorgezeichnet; alle beginnen irgendwo in der Wildnis und enden auch dort. Doch es gilt Wege mit Herz von solchen ohne Herz zu unterscheiden: die einen sind im Anschluss der Geschichte, haben Ehrfurcht vor den Vorgängern und Liebe zu den Nachfolgern, die anderen dienen der Natur und der Mensch geht in ihnen verloren. So gilt es als letztes, das Bewusstsein von dem Ja-Nein der oberflächlichen Entscheidung zur Intuition des Weges zu erheben, der nur gemeinsam mit anderen im Sinne der Catena Aurea zu gehen sein wird.

Carlos Castaneda, der glaubte, bereits am ersten Feind der Angst zu scheitern, ist inzwischen zu Don Juan zurückgekehrt und bemüht sich um weitere Erhellung. Mit seinem Werk ist nun der Anschluss an den Beginn der Überlieferung gefunden und der Kreis der Denkstile geschlossen: fortan gilt es, auf den ganzen Reichtum der Traditionen gegründet, den wahren Kosmos sichtbar zu machen und damit jedem einzelnen den Anstoß zu seinem eigenen Weg zu geben, auf dass die Vorbilder zu Sinnbildern seines Strebens werden.

Arnold Keyserling
Geschichte der Denkstile · 1968
12. Das ganzheitliche Denken
© 1998- Schule des Rades
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