Schule des Rades

Arnold Keyserling

Geschichte der Denkstile

2. Das mythische Denken

Delphi - Olympia - Eleusis - Athen

Delphi war der Sitz des Orakels und galt als der Nabel der Welt. Es bildete die genaue Mitte Großgriechenlands, das im Westen bis nach Sizilien und im Osten bis tief nach Kleinasien hineinreichte. Der ursprüngliche Schlangenkult — die Schlange war von Kadmos getötet worden — wurde durch das Sonnenorakel des Apollon abgelöst. In jeder wesentlichen Frage, vor allem solchen, die sich auf den Tod bezogen, wurde die Pythia als Priesterin des Orakels befragt. Diese saß auf einem Dreifuß über einer Erdspalte, der ein Gas entströmte, gab also die Antwort in Trance. Das Orakel scheint seit Anbeginn der griechischen Kultur bestanden zu haben, selbst Herakles hat seine zwölf Arbeiten auf Geheiß der Pythien durchgeführt.

Delphi war der Entsühnungsort, wo sich entschied, in welcher Weise Menschen, die schwere Verfehlungen begangen hatten, wieder in die Gemeinschaft aufgenommen werden konnten. Von Anfang an galt es als heiliger Bezirk; Angreifer wurden von allen griechischen Stämmen im Verein schwerstens bestraft. Die gleiche Heiligkeit hatte der entgegengesetzte Ort Olympia auf dem Peloponnes, der dem friedlichen sportlichen Wettstreit der griechischen Stämme gewidmet war. Er bildete den Schwerpunkt des Lebens und der Geschichte, deren Berechnung mit der ersten Olympiade im 8. Jahrhundert beginnt.

Ursprünglich war Olympia die Stätte der Götter, von denen auch, gemäß dem Mythos, die ersten Wettkämpfe ausgetragen wurden. Diese bedeuteten nun eine echt revolutionäre Tat: nicht die astrale Vorbestimmung oder der Ritus, sondern die tatsächliche Leistung auf körperlichem Gebiet, der Sieg im Wettkampf wurde gewertet; das Prinzip des Agon, der nicht auf Vernichtung des Gegners, sondern auf Anerkennung des Sieges seitens des Unterlegenen und der Gemeinschaft gerichtet war. Der menschliche Körper selbst wurde Sinnbild aller Vollendung, und die Bauwerke sowohl als auch die Statuen waren auf Proportionen im menschlichen Maßstab gegründet, im Unterschied zum kosmischen Maßstab der Ägypter und Babylonier.

Delphi und Olympia entfalteten auf dem Baugrund des natürlichen Menschen in Architektur, Skulptur und Malerei die dreifältige Gestalt, die fortan zum Kennzeichen aller griechischen Städte wurde: Stadion, Tempel und Theater.

  • Im Stadion wurde die körperliche Meisterschaft ausgesiebt;
  • im Tempel gewann der Mensch die seelische Möglichkeit, über das Orakel oder einen mystischen Weg sein Wesen zu vertiefen und über das Opfer Sühne zu erlangen,
  • und im Theater wurde die Mythologie geistig als Vorbild der menschlichen Existenz in Tragödie und Komödie gestaltet.

Delphi und Olympia stehen in Entsprechung zur waagrechten Achse des Wesenskreises: Delphi als Pol des Mythos, Olympia als Pol des geschichtlichen Lebens. Die Pole der senkrechten Achse waren Eleusis und Athen: Eleusis vollzog die Mysterien, die das Traumbewusstsein zum Ursprung vertiefen, und Athen als Hort der Demokratie und des freien Denkens wurde zum Kristallisationspunkt der wachen Vernunft und des Dialogs.

Im Altertum wurden die Mysterien von Eleusis streng geheim gehalten. Wer sie auch nur erwähnte, musste schwere Strafen auf sich nehmen. Positive Äußerungen über ihre Bedeutung gibt es genug: Cicero etwa bezeichnete Eleusis als den größten Gewinn der Menschheit. Doch der Inhalt der Mysterien lässt sich aus dem Mythos von Demeter und Persephone vervollständigen. Dieser hat folgenden Inhalt: Persephone pflückte einmal Blumen auf einer Wiese; plötzlich sah sie eine Narzisse, die ihr als die schönste der Blumen erschien. Doch diese Blume war dem Hades, dem Gott der Unterwelt, geweiht: die Erde öffnete sich, und er entführte sie in sein Reich, woselbst sie fortan als Königin der Unterwelt weilte.

Die Mutter Demeter wahrscheinlich mit der babylonischen Urmutter identisch war verzweifelt. Auf der Suche nach ihrer Tochter kam sie schließlich nach Eleusis, wo sie sich als Amme ausgab und den Sohn des Keleos, Demophon, pflegte.

Bevor die Göttin aufgenommen wurde, bot ihr dessen Dienerin Baubo einen Trank, den Demeter verweigerte. Empört über diese Kränkung enthüllte Baubo darauf ihr Geschlecht; die Göttin lachte besänftigt und nahm den Trank.

Wegen ihrer Trauer ließ Demeter nun kein Getreide mehr wachsen, und die Erde drohte zu vertrocknen. Auf Ansuchen aller Götter intervenierte Zeus und Hades erklärte sich einverstanden, seine Frau wieder der Tageswelt zurückzuschenken. Doch vorher gab er Persephone listig einen Granatapfelkern zu essen; daher konnte sie nicht ganz in den Olymp zurück, sondern musste fortan ein Drittel des Jahres in Entsprechung zum Schlaf im Hades verbringen.

Demeter war die Göttin der Fruchtbarkeit; als einzige kannte sie das Mysterium von Geburt und Tod, das den olympischen Göttern verborgen war. Dieses Mysterium stiftete sie nun in Eleusis: in der Teilnahme erreichte der Initiand den Bewusstseinszustand jenseits des Todes, der die Gewähr seiner Auferstehung bildete.

In diesen Mysterien kamen nach langer Vorbereitung und dem bewussten Nacherleben des Mythos die Initianden zu einem Raum, in dem sie gemeinsam der Saal fasste dreitausend Menschen eine Nacht in Meditation schweigend verbrachten, nachdem sie vorher sich in Entsprechung zur Baubo aller Hüllen körperlich, seelisch und geistig entledigt hatten. Den Höhepunkt der Zeremonie bildete das Erlebnis des blendend weißen Lichtes, das sie bei geschlossenen Augen wahrnahmen. Wem dieses beseligende Erlebnis des Urlichts zuteil wurde, der hatte damit die Gewissheit der Geborgenheit in der Urkraft und lebte fortan auch äußerlich als verwandelter Mensch.

Eleusis war ein geheiligter Ort gleich Delphi und Olympia. Den letzten Pol des Kreises, nur fünfundzwanzig Kilometer von Eleusis entfernt, bildete Athen: es verkörperte die Sphäre des Wachens und war nicht geheiligt. Hier wurden die menschlichen Maße ergründet, und die Vernunft, das logische Denken entfaltet, das sich im Kampf gemäß dem agonalen Prinzip dialogisch durchzusetzen hatte. So stand Athen mit seiner demokratischen Verfassung vor allem im Kampf gegen den durchorganisierten militärischen Staat Sparta, der die entgegengesetzte Form eines rationalen Staates verwirklichte.

Schwerpunkt des athenischen Lebens war die Volksversammlung, der Areopag, wo alle Probleme menschlichem, manchmal allzu menschlichem Urteil unterworfen wurden. Oft zeigte sich die Demokratie in ihrem minderwertigen Aspekt, als Verurteilung der Qualität durch die Quantität, des Vornehmen durch das Gemeine, so im Scherbengericht gegen Themistokles, den Sieger über die Perser in der Schlacht von Salamis, gegen Anaxagoras, in der Hinrichtung des Sokrates und der Verbannung des Aristoteles. In Athen herrschte das freie Gespräch, das Urteil des gesunden Menschenverstandes. Ihm entstammt die denkerische Auseinandersetzung als Grundlage der demokratischen Regierungsform, wie sie von Theseus begründet worden war, doch mit dem großen Gesetzgeber Solon ihre Form gefunden hat.

In Olympia waren alle Götter gegenwärtig, wenn auch Zeus die Oberherrschaft hatte. In Delphi stand der Sonnengott Apollo im Vordergrund, und in Eleusis Dionysos, der Gott des Weines und des Rausches, zusammen mit Demeter als Verkörperung der Erdnatur mit ihrem Kreislauf von Saat und Ernte als Sinnbild der geistigen Wiedergeburt. Doch in Athen musste sich der Mensch in wacher Überlegung durchsetzen: seine Gottheit war Athene selbst, die Göttin der Weisheit und Wissenschaft.

Wie allen Äonengöttern, also Herrn eines Weltenmonats, war auch dem Zeus die Herrschaft nur für eine bestimmte Zeitspanne zugesagt worden. Auch ihn sollte ein eigenes Kind später überwinden. Um diesem Schicksal zu entgehen, verschlang er nicht wie sein Vater Kronos seine Kinder da er selbst den Misserfolg dieses Unternehmens verursacht hatte sondern gleich die künftige Mutter seines Kindes, die Göttin Themis, die das Recht symbolisiert. So entsprang nicht der Mutter, sondern seinem eigenen Haupt Athene, die Göttin der Weisheit, die die Herrschaft des Zeus im griechischen Denken ablöste. Doch dies nicht mehr im Mythos, sondern in der Geburt eines neuen Denkstils: im logischen Denken, das in Athen den Brennpunkt seiner Entfaltung fand.

Arnold Keyserling
Geschichte der Denkstile · 1968
2. Das mythische Denken
© 1998- Schule des Rades
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