Schule des Rades

Arnold Keyserling

Geschichte der Denkstile

3. Das logische Denken

Xenophanes - Heraklit

Die milesischen Naturphilosophen suchten den Grund der Wirklichkeit im Wasser, dem Unendlichen und der Luft, Pythagoras im System der Tonzahl. Die beiden nächsten vorsokratischen Philosophen wählten andere Ansätze: Xenophanes aus Kolophon, 565-500, sah das Grundprinzip im Naturgesetz, und Herakleitos von Ephesos, 540-480, im Werden und im Feuer. Während die früher beschriebenen Philosophen ihr System im Gegensatz zum Mythos wussten, doch sich nur auf die Entwicklung ihrer Denkgebäude konzentrierten, war das Hauptanliegen von Xenophanes und Heraklit der bewusste Kampf gegen die mythische Götterwelt. Vor allem aber gebaren sie den Gegensatz von Sein und Werden, dessen Spannung alles europäische Denken der Folgezeit bis auf unsere Tage geprägt hat.

Xenophanes verließ mit fünfundzwanzig Jahren, da die Perser seine Heimat eroberten, seine Vaterstadt Kolophon und ließ sich nach mancherlei Irrfahrten, während derer er sich als Rhapsode, als fahrender Sänger durchs Leben schlug, in Elea beim heutigen Salerno in Süditalien nieder; in einer Landschaft, die stark unter dem Einfluss des pythagoräischen Denkens stand. Der Widerspruch dieses Denkens zum griechisch-homerischen Götterglauben war augenscheinlich. Doch die pythagoräische Zahlentheorie, welche die sinnliche Erfahrung oft mangels Beweises durch kühne Hypothesen ergänzte, schien ihm ebenfalls abwegig. Anstelle der Zahl als Prinzip der Welt setzte er die Naturgesetze, den geistigen Zusammenhang der Wirklichkeit als Gottheit, die in ewiger Ruhe das vielfältige Geschehen lenkte — die ewig sich gleichbleibenden Gesetze der Natur, die der Mensch als Grundlage des mannigfaltigen Werdens erkennen kann und von denen die mathematischen Gesetze nur einen Ausschnitt bedeuten, sind das System des Kosmos. Ihre Erkenntnis wäre daher die Voraussetzung eines vernünftigen menschlichen Verhaltens. Denn der Kosmos sei das All-Eine, und der Mensch erlange nur insoweit ein Verständnis seiner selbst und der Wirklichkeit, wie er diese Gesetzmäßigkeit versteht.

Herakleitos war zweifellos vom pantheistischen Gott des Xenophanes ergriffen. Doch erweiterte er ihn zur Dualität: nicht das ruhende Gesetz, sondern der ewige Wandel, das Werden war für ihn das Fundament allen Geschehens, welches später auf die berühmte Formel panta rhei, alles fließt, gebracht wurde. Nichts bleibe sich gleich, lehrte Heraklit, alles sei im steten Wandel begriffen. Man könne nicht zweimal in den gleichen Fluss steigen. Alles Geschehen vollziehe sich aus Gegensätzen heraus, von welchen endlich und unendlich, Mann und Frau, feucht und trocken, kalt und warm die wesentlichsten Erscheinungen seien.

Doch dieses Werden hat einen Ursprung: den Logos oder die Weltvernunft, die zugleich die Gottheit darstellt, während das mannigfaltige Werden der Wirklichkeit, der sichtbare Kosmos, ihr Kleid bedeutet. Diese Vernunft identifizierte Heraklit mit dem Feuer, da es auf der Erde alle Veränderungen der Stoffe verursacht. Hieraus entwickelte er eine ursprüngliche Physik, die erklären sollte, wie die ganze Mannigfaltigkeit aus dem Feuer entstanden ist.

Xenophanes lehrte das All-Eine, Heraklit die Zweiheit des Logos, getragen aus dem Feuer und der mannigfaltigen Wirklichkeit des Werdens. Auch der Mensch habe in sich diese Zweiteilung: der Logos seiner Seele sei so tief, dass man ihn niemals ergründen könne, auch wenn man alle Straßen abschritte.

Der Logos ist nicht nur denkerisches Prinzip, sondern auch tatsächlicher Lenker der Wirklichkeit, der dem Menschen die Offenbarung auf Anfrage zuteil werden lässt. Damit erkannte Heraklit eine Form der antiken Religion an, das Orakel zu Delphi. Doch nicht leicht sei es, die Weissagung zu verstehen:

Der Herrscher, dem das Orakel in Delphi gehört, verkündet nichts und verschweigt nichts, sondern deutet nur an.

Heraklit dachte systematisch, insofern er den Ursprung im Feuer und im Logos suchte. Seine überlieferten Worte sind gemäß der Anschauung, dass das Werden das Sein bestimme, aphoristisch und unsystematisch; jede Einzelheit, jede Vorstellung und jedes Geschehnis ist gesondert behandelt. Auch hatte er die Gabe des Logos nicht von Hause aus; er erlangte sie nach einer langen bewussten Entwicklung. Diese Entwicklung erfordert nicht nur das ruhige eigene Nachdenken, sondern auch das Prüfen des Erdachten an der Vernunft des anderen; erst in der Übereinstimmung der Menschen lässt sich die erkennbare Wahrheit bestimmen, die aber gegenüber der unerkennbaren, nur im Orakel offenbar werdenden Weltvernunft immer an Weisheit und Umfang zurückbleiben müsse.

Der Kampf sei nicht etwas Negatives, sondern der Vater aller Dinge, die nur im Gegensatz ihren Ursprung haben können. Allein der Mensch, der die Gegensätze kennt, erkennt und sich ihnen stellt, habe an der Vernunft teil. Daher setzte Heraklit, im Gegensatz zur griechischen demokratischen Lebensauffassung, die das Urteil aller für gleichwertig hielt, eine aristokratische Ordnung: nur diejenigen Menschen, die zum Logos durchgestoßen sind, dürfen Führer der anderen sein, da die Masse keine feste Richtlinie ihres Handelns, keinen Logos besitze und vom Kampf der Gegensätze in ein ungewisses Schicksal mitgerissen werde.

Heraklit begann wohl als Verehrer seiner Vorgänger, des Xenophanes und Pythagoras. Doch nach seiner Entdeckung des Feuers als Urprinzip und des Logos als Welt- und Menschenherrschers, der einzig der einfachen Intuition zugänglich sei, wandte er sich von ihnen ab, wie das folgende Fragment seiner Lehre zeigt:

Vielwisserei bringt noch keinen Verstand, keine Geistigkeit; sonst hätte sie den Hesiod klug gemacht und den Pythagoras und den Xenophanes und den Hekataios.

Heraklit betonte das Werden auf Grund der Gegensätze: selbst der Kosmos alterniere zwischen Existenz und Nichtexistenz, Gestalt und Rückkehr ins Urfeuer. Dieser Punkt, die Nichtexistenz, wurde zur Voraussetzung des Angriffs eines Schülers von Xenophanes, Parmenides von Elea, gegen Heraklit, der das All-Eine des Kosmos im Sinne von Xenophanes mit dem Sein identifizierte.

Arnold Keyserling
Geschichte der Denkstile · 1968
3. Das logische Denken
© 1998- Schule des Rades
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