Schule des Rades

Arnold Keyserling

Geschichte der Denkstile

5. Das theokratische Denken

Ritterlichkeit - Heiligkeit

Im Unterschied zum römischen Recht war das germanische nicht sachlich auf einen corpus juris gegründet, sondern die Rechtshoheit hatte die Volksversammlung inne. Hieraus entwickelte sich der feudale Vasallenstaat, der sein Urbild in der Organisation des Heeres hatte; nicht einem Gebiet, sondern einer Dynastie schuldete der Vasall Treue. Stellung und Besitz wurden als Lehen betrachtet; der eigentlich kaiserliche Besitz war Beamten zur Nutznießung übergeben, die gleichzeitig als Steuerherren für das Aufkommen der Staatseinkünfte gutstehen mussten. Die Sprache des Reiches blieb lateinisch. So sorgte Karl für die Kontinuität der abendländischen Entwicklung.

Das frühmittelalterliche Denken blieb theokratisch. Alles musste auf Gott bezogen sein, um Anerkennung und Verkörperung finden zu können. Auch die Idee des heiligen Krieges wurde in Form der Kreuzzüge aufgenommen; in der Hauptsache richteten sie sich auf die Rückeroberung des Heiligen Landes, die während einer kurzen Periode im 12. Jahrhundert gelang. Auch Spanien war in diesen Zeiten von den Mauren befreit worden und dank der Tätigkeit des Cluniazenserordens dem Christentum zurückgegeben. Von Deutschland aus wurde im gleichen Kreuzzugsgeist die Christianisierung der Wenden und Slawen vorangetrieben; im 13. Jahrhundert entstand der Ordensstaat der Deutschritter im Nordosten, der seine kolonisatorische Rolle bis ins 16. Jahrhundert bewahrte.

Die Ritterorden formten den kämpferischen Lebensstil. Parallel hierzu bildete sich der höfische Stil heraus, der seinen Schwerpunkt im Minnedienst an der Frau fand. Die Abtei Cluny hatte in ihren Marienkulten die Idee der Hohen Frau in den Vordergrund gestellt und ähnlich wie bei den Sufis im Islam kamen nun in Europa die Dichter als Minnesänger zu neuer Bedeutung, von denen auch die profane Liebe zwischen Mann und Frau besungen wurde. Das Ideal der Courtoisie ergriff ganz Europa. Wie seinerzeit bei den olympischen Spielen kam es an den Ritterhöfen zu Turnieren des Kampfes und des Gesanges. Der Höhepunkt der Minnekultur war in der Provence, wo noch am meisten von der antiken Kultur fortlebte. Hier hatte sich eine andere Gegensätzlichkeit gebildet als im germanischen Europa:

  • auf der einen Seite standen die Katharer, die Reinen, gnostische Nachfahrer der Manichäer, die alle Fleischlichkeit und Weltlichkeit verdammten.
  • Im Gegensatz zu ihnen herrschte im weltlichen Leben größte Freizügigkeit; dort war der Minnedienst der Troubadours, der fahrenden Sänger, zur höchsten Blüte gelangt.

Die Katharer, der Adel und das städtische Bürgertum schlossen sich zu einer einheitlichen albigensischen Front zusammen, wurden, aber von den vereinten Kräften von Kirche und Reich nach einem langjährigen Krieg, von 1209 bis 1244, in grausamster Weise vernichtet.

Der Gegensatz zwischen Kaiser und Papst, nach dem Verfall des karolingischen Reiches in den Hintergrund gerückt, lebte bei den salischen und staufischen Kaisern wieder auf. Ihm zur Seite traten zwei Standesideale in den Vordergrund: der Ritter als Ideal des schon erwähnten höfischen Lebensstils und die Heiligen als Ideal des religiösen. Um das Jahrtausend war plötzlich die Reliquienverehrung zur Blüte gelangt: Reliquien anerkannter Heiliger wurden zum Zentrum alter und neuer Kirchengründungen im gleichen Sinn wie sich bei den Urchristen Gemeinden um einzelne Säulenheilige geschart hatten. Das Ideal der Heiligkeit wurde in zahllosen Legenden betont. An seine Seite traten die Ritterepen, die im Rolandslied, dem Parsival-Epos und der König Artus-Legende gipfelten. Gleichzeitig entwickelten aber auch die noch nicht bekehrten Germanen ihre mythischen Epen zu einer letzten Vollendung; so die nordische Edda, welche die germanischen Helden und Götter in voller Pracht vor der kommenden Götterdämmerung schilderten. Manche Teile der germanischen Volksüberlieferung wie das Nibelungenlied vereinten sich mit christlichen Sagen. Doch diese letzte Entfaltung der Sagenwelt in der Dichtung bedeutete ihr Ende. Geistliche und weltliche Herrschaftsansprüche prallten seit der Verschärfung des Investiturstreites — ob der Kaiser oder der Papst die Bischöfe zu ernennen habe — rücksichtslos aufeinander. Die theokratische Weltauffassung, die nur im unbezweifelten Glauben ruhen kann, war zerstört. Eine mehr skeptische Einstellung begann sich durchzusetzen, wie einst bei den Griechen nach den homerischen Epen. Damit erwachte zur Rechtfertigung des Glaubens erneut das Interesse an geistigen Problemen und führte zur wesentlichen Leistung des Mittelalters: dem scholastischen Denken.

Arnold Keyserling
Geschichte der Denkstile · 1968
5. Das theokratische Denken
© 1998- Schule des Rades
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