Schule des Rades

Arnold Keyserling

Geschichte der Denkstile

7. Das humanistische Denken

Humanismus

Die Grundidee des humanistischen Denkens war die Rückkehr zur Antike, mit welcher die Philologie, das Lesen der alten Texte, im Gegensatz zur scholastischen Gelehrsamkeit in den Vordergrund rückte. Diese Umkehr erfasste alle Lebensgebiete. Die Kunst befreite sich aus dem gotischen Konstruktivismus und entfaltete ein neues Stilgefühl: den Baustil der Renaissance, der sich binnen kurzem über ganz Europa verbreitete und überall die Gotik verdrängte. Die Religion erfuhr die gleiche Umkehr. Anstatt nach der objektiven Geborgenheit im Glauben zu streben, betrachteten die Humanisten das Christentum gleichsam als die natürliche Religion; der Mensch selbst, das Individuum trat in den Mittelpunkt. Gleich wie Leon Battista Alberti die Lehre von der Perspektive entwickelte, in der ein Bild nicht mehr den Zugang zum Kosmos bedeutete, sondern auf einen menschlichen Blickpunkt zentriert war, beschrieben Francesco Petrarca und Giovanni Boccaccio zum ersten Mal seit der Antike das natürliche gesellschaftliche Leben in all seinen Schattierungen im Gegensatz zum mythisch verbrämten Ritterroman des Hochmittelalters. Das bloße Lernen der griechischen und lateinischen Sprache — aus welcher Zielsetzung das humanistische Gymnasium im Widerspruch zum scholastischen Philosophie-Unterricht gegründet worden ist — wurde als Gewähr der Bildung des bürgerlichen Menschen zur wahren Freiheit und Zivilisation verstanden.

Der Humanismus als Denkstil setzte die Entwicklung der Städte voraus. Während der Adel und die Priester in der kosmischen Ordnung verharrten und ihren Unterhalt aus der feudalen Hierarchie bezogen, hatte der Bürger Zutrauen zu seiner Fähigkeit und Tüchtigkeit, die allein ihm Reichtum und Macht bringen konnte. Sowohl die Großkaufleute als auch die Gewerbetreibenden verdankten Stellung und Wohlstand sich selbst; und wenn auch die wahre Macht später nur über die Parteienkämpfe zu erreichen war, blieb das individualistische Grundgefühl in den Städten bestimmend. Die Umwälzung erstreckte sich binnen kurzem auf alle Lebensgebiete. In der Interpretation der alten Texte übernahm die Philologie die Rolle der Philosophie; dasselbe spielte sich im religiösen Raum als Rückkehr zum Urtext der hebräischen und griechischen Bibel ab. Auch die Reformation entsprang dem gleichen Geist wie der lateinische Humanismus. Gegenüber die Natur trat die wissenschaftliche Methode in den Vordergrund, die individuelle Beobachtungen und Experimente der logischen Beweisführung überordnete und in der Wandlung des astronomischen Weltbildes durch Kopernikus die gotische Weltschau zerstörte. Zwar blieben die Mächte der Kirche und des Reichs noch durch Jahrhunderte die tragenden Pfeiler der Gesellschaft; doch sie waren in die Defensive gedrängt, aus der sie bis zum praktischen Verlust ihrer Macht nach der Aufklärung nicht mehr herausfinden sollten.

Nicht nur im Baustil, sondern auch in der historischen Entwicklung zeigt der Humanismus eine Parallele zur griechisch-römischen Antike. Wir erinnern uns, dass die ionische Aufklärung der Vorsokratiker zu einer Zeit kam, als Homer und Hesiod die griechische Götterwelt und ihre Mythen in dichterische Epen verwandelt hatten, als also eine menschliche Schöpfung zur Grundlage des Weltbildes geworden war. Die gleiche Rolle wie diese Epen für Griechenland oder Vergil für Rom übernahm nun Dantes Göttliche Komödie für die italienische Renaissance.

Im Zeitgeist bedeutete Dantes Werk eine Entsprechung zu den großen theologischen Summen von Albert und Thomas. Diese beiden Denker, dem aristokratisch-scholastischen Denkstil zugehörig, verwandten ihr Wissen als Schlüssel zu einer geglaubten Offenbarung, einer Wahrheit, die den Menschen einbegreift. Ihre Systeme waren daher auch keine künstlerischen Gestaltungen, sondern Kompendien von Gedanken und Theorien, die den Menschen in den Kosmos einzuordnen trachteten. Das Anliegen von Dante war ähnlich; wie wohl auch Homer, gedachte er die Schönheit und den Reichtum der alten Ordnung wieder zu beleben. Was aber weiterwirkte, war nicht seine Absicht, sondern sein Werk. Er persönlich war es, der diese Gedanken zu einer Vision vereinte, und an der Möglichkeit solch einer Gestaltung begann sich das humanistische Denken zu entfalten.

In Florenz gelangte die Verselbständigung der Stadt zu ihrem Höhepunkt. Bereits 1282 wurden dem Adel, soweit er nicht einer der Zünfte beitrat, alle öffentlichen Ämter verschlossen. 1293 wurde die Bestimmung noch verstärkt durch den Zusatz soweit er das betreffende Gewerbe nicht auch tatsächlich ausübt. Seit dieser Zeit bedeutete es für einen Adeligen die größte Vergünstigung, in Florenz zum Bürger degradiert zu werden; und missliebige Elemente wurden aus der Öffentlichkeit entfernt, indem man sie adeln ließ. Der Kampf zwischen Kirche und Reich, in Italien in der Auseinandersetzung zwischen Guelfen und Ghibellinen zum Ausdruck kommend, hatte den päpstlich eingestellten bürgerlichen Guelfen zur Herrschaft verholfen. Hiermit hub der Aufstieg der Familie Medici an. 1378 war eines ihrer Mitglieder, Salvestro, für einige Zeit Justizverwalter und hatte eine Reihe von Reformen durchgeführt, dank derer die Familie in den Ruf kam, demokratisch zu sein. Mit Cosimo von Medici, 1389-1464, begann die große Zeit der Stadt. Von seinen Gegnern erst verbannt, wurde er vom Volk als Vater des Vaterlandes zurückgerufen. Fortan blieb die Familie in herrschender Stellung: Lorenzo il Magnifico, der von 1469 bis 1492 regierte, festigte die Verfassung in ihrem Sinn. Sein Sohn wurde Papst Leo X., welcher den Geist des Humanismus auf die Kirche übertrug und die Kunst der Renaissance endgültig auch in Rom heimisch werden ließ. Cosimo stiftete die berühmte platonische Akademie, und Lorenzo aus eigenen Mitteln die Universität. Selbst das Ende der Selbständigkeit der Städte überlebten die Medici als nunmehr gefestigte Dynastie: nach dem Sturz und der Hinrichtung des kunstfeindlichen Savonarola erhielten sie nach der Krönung Kaiser Karls V. mit dem Medici-Papst Clemens VII. den Fürstenrang. So hat Florenz den klassischen Weg von einer Demokratie über die Diktatur bis zur Monarchie durchschritten, die dann seit dem 16. Jahrhundert durch Spanien garantiert wurde.

Cosimo von Medici holte den byzantinischen Gelehrten Georgios Gemistos Plethon, 1355-1452, an seinen Hof, der das Studium der neuplatonischen und zaroastrischen Philosophie erneuerte. Damit erhielt der Kampf zwischen dem mit der kirchlichen Partei im Investiturstreit verbundenen Bürgertum und dem scholastisch eingestellten Adel eine philosophische Bedeutung: er wurde mit der Auseinandersetzung zwischen Platonismus und Aristotelismus identifiziert. Dante hatte noch aristotelisches Gedankengut anerkannt, Petrarca stand bereits in bewusstem Gegensatz sowohl zu Aristoteles als auch zu Averroës, und damit zur ganzen Hochscholastik und Gotik.

Im Lehrgebäude des Thomas hatten die neuplatonischen, neupythagoräischen und astrologischen Theorien keinen Platz gefunden. Die Summe Albert des Großen hatte diese Traditionen zwar anerkannt, aber in den mythischen Unterbau der Theologie verbannt, aus dem sie dann über die Bauhütten ihre steinerne Verkörperung in den gotischen Münstern fanden. Mit den beiden bedeutendsten Philosophen der Florentiner Akademie, Marsilio Ficino, 1433-1499 und Johann Pico von Mirandola, 1463-1494, erhielt der Platonismus eine neue Bedeutung: er wurde zur künstlerischen Philosophie, zur Meisterschule. Diese Wandlung zeigt sich am klarsten in der Wiederbewertung der Musik als Erkenntnisgrundlage.

Arnold Keyserling
Geschichte der Denkstile · 1968
7. Das humanistische Denken
© 1998- Schule des Rades
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