Schule des Rades

Arnold Keyserling

Vom Eigensinn zum Lebenssinn

Vorwort

Zutrauen zum Eigensinn

Im Jahre 1946, nach dem Tode meines Vaters, da ich die Schule der Weisheit übernehmen musste, begann ich mich systematisch mit der Frage nach dem Sinn zu beschäftigen und versuchte, eine Grundlage persönlicher Lebensdichtung, eine Weltgrammatik zu ermitteln.

Diese Arbeit, die mehr einem geduldigen Puzzlespiel als einer Forschung glich, kam 1982 zuende. Aber etwas Wesentliches fehlte mir dabei: Warum habe ich das alles getan? So bedeutsam die Klärung der Begriffe vom geisteswissenschaftlichen Gesichtspunkt zum Verstehen der verschiedenen Kulturen auch sein mag, war es mir nicht um eine Bereicherung der Wissenschaft zu tun. Ich wollte eine Methode finden, um das Wissen zu überwinden und zur Spontaneität zu gelangen, also Philosophie im Sinne des Sokrates zu betreiben. Mit der Herausgabe des Nachlasses meines Vaters, dem Das Erbe der Schule des Weisheit, fühlte ich mich von der historischen Aufgabe entbunden, und es gelang mir, die eigene Richtung als Ars Magna an die Tradition des mittelalterlichen spanischen Philosophen Ramon Lull, darüber hinaus an Pythagoras und an den Schamanismus zurückzubinden, worin ich meine eigenen religiösen Wurzeln erfuhr. Dank der Kenntnis der indianischen Überlieferung gewann ich den Zugang zur Welt des Imaginalen jenseits aller Bekenntnisse und verstand meine eigenen Visionen, die mich von Mal zu Mal, meistens verbunden mit emotionellen Vertiefungen und Depressionen, in meine unbekannte Richtung führten.

Im Frühsommer 1982 kamen verschiedene Ereignisse zusammen, die mir den Zugang zu meiner eigenen Motivation endlich klärten und die bisherigen Zielsetzungen als Projektionen erkennen ließen.

Jacques Donnars führte im Studienkreis KRITERION in Wien eine Einführung in die Trance durch, die sich aller traditionellen Deutung enthielt, und ich erlebte den Durchbruch eines unglaublichen Zornes, der nach dem Ende des Ritus nicht aufhörte, sondern weiter in mir schwelt. Nun hatte ich das Glück, gleich im Anschluss an diese Erfahrung die Bücher von Alice Miller zu lesen, die die Kindheitssituation jenseits der freud’schen Triebtheorie beschrieb, und die ich als meine eigene Problematik erkannte. Als nun zufällig ein Auftrag mir zukam, in Wien die neue Pädagogik für angehende Lehrer zu unterrichten, wurde mir klar, dass mein innerstes Ziel aus diesem Zorn der Kindheit es seit jeher war, durch die Waffe des Wissens menschliche Abhängigkeit zu überwinden und dem Kind wie dem Erwachsenen den Weg zu seiner eigenen Anlage, zu seinem Eigensinn freizukämpfen, und damit durch die Methodik einer freien Pädagogik, gestützt auf das anthropologische, psychologische und esoterische Wissen, den Weg zur eigenen Dichtung, zum Lebenssinn zu eröffnen.

Politische, finanzielle, religiöse und familiäre Abhängigkeit sind mir unerträglich. Nur in der Liebe findet der Mensch sein Wesen, und es gibt keinen zureichenden Grund, um nicht ein Leben aus der Kreativität, der Fülle und der Kommunion angehen zu können. Unzählige Gruppenerfahrungen aller Art haben mich mit einem Instrumentarium vertraut gemacht, welches die Traumas und Abhängigkeiten beseitigen und zum Urvertrauen führen kann.

Dieses Buch stellt nun meinen ersten Versuch dar, die anamnetischen und maieutischen Methoden im Zusammenhang zu schildern und damit eine Grundlage für die geplante pädagogische Arbeit zu schaffen, welche dem Menschen gleich welcher Herkunft und Anlage zum Erfüllen der Postulate helfen könnte, die im Begriff der geistigen Demokratie, der Selbstbestimmung und der sozialen Gerechtigkeit die herrschenden Ideale auf der ganzen Erde geworden sind.

Ziel ist das Zutrauen zum Eigensinn als Ansatz der Lebensdichtung. Für mich sind alle Erkenntnisse auf diesem Gebiet Inspirationen des Menschen im All, der Gattung, die die vergangenen und künftigen Lebensgestaltungen gleich einer Matrix — in Sheldrakes Formulierung: als morphogenetisches Feld — enthält. Es gibt keine Originalität im Geistigen. Daher versuche ich auch nicht im bürgerlichen Sinne zu bestimmen, wem eine bestimmte Idee zum ersten Male eingefallen ist, da sie jedenfalls aus der Welt des Imaginalen stammt. Unzählige Menschen haben mir Erkenntnisse vermittelt. Prägend waren das Werk meines Vaters, Hermann Keyserling, Ramana Maharshi, Gurdjieff, J. M. Hauers. Doch wo Übungen genau nachzuvollziehen sind, habe ich, soweit mir bekannt, die Pioniere genannt, die sie erschaffen haben.

Die Ars Magna war ein Abschluss der systematischen Arbeit, dieses Buch ist ein Neubeginn, welcher gleichzeitig den Anschluss an meine eigene Kindheit zurückbringt; nur aus persönlicher Trauer kann man anderen wirkliche Hilfe leisten. So ist es auch formal mehr ein Hinweis auf Richtungen und Fragestellungen als auf Erfüllungen: die Arbeit, die uns bevorsteht, um den Menschen an seinen Platz in der Natur zurückzubringen und zu seinem Wohlsein zu führen, ist ungeheuer und verlangt das Zusammenwirken aller Gutwilligen.

Wien, im Sommer 1982Arnold Keyserling

Arnold Keyserling
Vom Eigensinn zum Lebenssinn · 1982
Neue Wege der ganzheitlichen Pädagogik
© 1998- Schule des Rades
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