Schule des Rades

Arnold Keyserling

Das große Werk der göttlichen Hände

I. Teil:Die linke Hand des Mondes

3. Mond

Die zweite Stufe des Werkes, die Venus, bedeutet die Schönheit der Materie und ihre Eigengesetzlichkeit zu erkennen; als Merkur die Venus zu freien, sich um ihre Qualität zu bemühen. In der dritten Stufe des Mondes tritt die Sonne hinzu und Mond und Sonne stehen einander in Nacktheit ohne Scham gegenüber: man versteht die pflanzlichen Prozesse, die dem Wachstum zugrunde liegen.

Der Mond entspricht in der Alphysik dem Molekül, der Sehnsucht nach der gesättigten Verbindung, die Feuer und Licht ohne Veränderung aufnehmen und abgeben kann. Die Pflanze hat die Fähigkeit, Mond und Sonne, Wachstum und Absorption der Lichtenergie in ihrer senkrechten Achse zu vereinen.

Der Mittelfinger verbindet das Schmecken, die Pflanzenwelt und die Sehnsucht nach Befriedigung der Bedürfnisse, die eine Entfaltung möglich machen. Die Pflanze wechselt zwischen den Zuständen des Samens und der Gestalt, die die neue Frucht hervorbringt. Im Samen ist die Lebenskraft und Potentialität, in der Gestalt die Aktualisierung. So hat auch der Mensch an der Pflanze teil; seine Samenhaftigkeit ist seine innere Vorstellung, die im Traum immer den nächsten Schritt weiß, und seine Gestalt die Vollendung aus der heraus er als Erwachsener am Werk teilnehmen kann.

In der dritten Stufe des Werkes erreichen wir das Verständnis, warum die Sinne diesen Fingern zugeordnet sind. Das Mondbewusstsein als Träger der Nacht kennt keinen Tod, nur den Wechsel zwischen Samen und Gestalt. Durch neun Monde wird das Kind im Mutterleib getragen, ehe es den ersten Atemzug macht. Das ganze Leben lässt sich dann im Kreis der Sonne in den zwölf Stufen des uranischen Lebenskreises begreifen, bis der Mensch wieder in die Mondhaftigkeit des Raumes und einer neuen embryonalen Existenz zurückkommt. Die Finger entsprechen den Chakras: ihre Stufenleiter wird im Mond bewusst. Von diesem her gesehen bedeutet das Werk eine Rückkehr in den Mutterleib und die Wachstumsfähigkeit des Mondes an die menschliche Strebenskraft, die Entelechie des Lernen anzujochen.

Die Stufen lassen sich in den Chakras von vier Seiten begreifen: dem Vorrang der Inkarnation, den Körperprozessen, den Funktionen und Bereichen, und den Sinnen, welche die Stufen als ein Etwas, einen Weltbereich bewusst machen.

Inkarnation
Befruchtung
Polarisation
Organisation
Kreislauf
Stoffwechsel
Geburt
Atmung
Sinne
Funktion
Großhirn
System
Stammhirn
Herz
Stoffwechsel

Verbrennung
Bewegung
Chakra
7
6
5
4
3

2
1
Bewusstsein
Geist
Seele
Körper
wollen
fühlen

denken
empfinden
Sinn
sprechen
lesen
tasten
hören
schmecken

riechen
sehen

In der Inkarnation lassen sich die Stufen als Rhythmen verstehen, einer folgt dem anderen, bis sie alle da sind. In der Befruchtung vereint sich das mütterliche Ei mit dem väterlichen Samen, das Ei schließt sich ab. Dies entspricht dem Ansatz des Großhirns mit seiner Fähigkeit des Erkennens: auf griechisch bedeutet Gnosis sowohl geschlechtliche Vereinigung als auch Erkenntnis.

Die sechste Stufe der Polarisation ist die Seele, die Vereinigung des väterlichen und mütterlichen Erbes, im Organismus der Chromosomen. Dies bleibt ewig das Problem der Seele, da das eigentliche Wesen des Menschen die Nichtzweiheit ist, also das, was Yang und Yin vereint. Dieses Erbe kann nur im Lesen, in der Interpretation der Bedeutung der Eltern verstanden und integriert werden, während man in der geistigen Stufe seinen Namen im Sprechen ergreift.

Die fünfte Stufe ist die Organisation, die Urzelle der Individualität hat ihr Genom, ihren Schlüssel gefunden und beginnt sich zu teilen. Drei Keimblätter bilden sich, die später Körper, Seele und Geist in ihrer Verschiedenheit zugrunde liegen und die zwölf Organsysteme bilden ein labiles Gleichgewicht. Nur der Sinn des Tastens im Stammhirn ist imstande, zum Steuer dieser Klaviatur der Organe zu werden, von denen jedes selbständig funktioniert, ohne eine Bewusstheit der anderen zu besitzen.

Die vierte Stufe ist der Beginn des Blutkreislaufs, der später in seinem ewigen Rhythmus zwischen Diastole und Systole zur Grundlage des Wollens wird, von Entscheidung und Wahl. Diese Stufe wird über die Zeiterfahrung im Hören bewusst.

Die dritte Stufe ist der Beginn des Stoffwechsels im Mutterleib als Grundlage des Fühlens, das immer auf Befriedigung der vier Urtriebe — Sicherung, Aggression, Nahrung und Reproduktion — gerichtet ist, wobei Aggression und Reproduktion der Gattung zugewandt sind, Nahrung und Sicherung das Überleben des Individuums betreffen. Im seelischen limbischen System sind die Gattungstriebe lustbetont, die, individuellen schmerzbetont. Der Sinn ist das Schmecken, das in vier Richtungen erfolgt, die als fünftes Kriterium eine bestimmte Schärfe aufweisen; ich habe ihre Bedeutung in meinem Buch Durch Sinnlichkeit zum Sinn geschildert.

Nun kommt die Geburt, die dreifach schmerzlich ist: als Wehen, als Austreten aus dem Mutterleib und als erster Atemzug im Aufreißen der Bronchien. Diese Schwelle bleibt bestehen, bis der Mensch sich bewusst auf den geistigen Weg macht, indem er die Notwendigkeit des Leidens im Fühlen akzeptiert und Selbstmitleid wie Selbstkritik überwindet.

Die zweite Stufe ist die Atmung; sie schafft im Ein und Aus die Fähigkeit des Denkens und hat als Sinn das Riechen, das zwischen Wohlgeruch und Gestank unterscheidet.

Die letzte Stufe ist die Koordination der Sinne im Empfinden; sie ist erst drei Monate nach der Geburt vollendet und dem Sehen als Orientierung im Raum untergeordnet. Die Anjochung des Mondes ist vor allem im indischen Yoga dargestellt worden, der auch als einzige esoterische Disziplin die Stufen der Vereinigung von Sonne und Mond, Pingala und Ida, physiologisch und mental genau beschrieben hat.

Yoga bedeutet den Weg zurückzugehen. Dieser Weg ist einfach, doch kann nur angegangen werden, wenn der Mensch den Egoismus nicht aus Überlegung sondern aus der Tiefe überwindet. Dann stellen sich die sieben Stufen als Erweckung der Chakras dar:

  1. Muladhara, Wurzelchakra. Das Empfinden ist vom Denken zu lösen und in der unassoziativen Wahrnehmung auf die äußere und innere Wirklichkeit zu eichen.
  2. Swaddhistana, Icherfahrung. Das Denken muss der Materie, dem Mineral zugewandt sein; die vielen Ichs des Denkens sind materielle Strategien. Wie die Pflanze dem Tier zugeordnet ist, ist das Feld des Menschen die Mineralwelt. Das Denken darf die Welt nicht verdoppeln, wie es die Ideologien versuchen. Daher ist die Kenntnis des Rades die Voraussetzung allen Wissens, das in die ungreifbare Mitte führt. Jede verselbständigte Wissensstrategie ist teuflisch im griechischen Sinn: Diabolon bedeutet auseinanderreißen und ist das Gegenteil von Symbolon, zusammenfügen. Wenn die prophetischen Religionen das goldene Kalb der Venus als den Teufel verdammten, so war dieser Widersacher nicht gottfeindlich als Versucher, sondern die Schwelle, die es zu überwinden gilt, und zwar durch das echte Verständnis der Materie.
  3. Manipura bedeutet Stadt der Juwelen, innewerden der Wesenswünsche. Sobald das Leiden nicht mehr Angst macht, sondern als Anstrengung und Streben begriffen wird, zeigt die aktive Imagination oder der Traum des Fühlens den nächsten Schritt der Menschwerdung. Im Manipura Chakra ist der Schwerpunkt des Mondes. Beim bürgerlichen Bewusstsein sind nur Empfinden und Denken bewusst, Traum/Fühlen und Tod/Wollen verschleiert. Die Imagination wird als Möglichkeit der Ergänzung der tatsächlichen Wirklichkeit verstanden, der Mensch will seine Ichstellung nicht aufgeben. Doch wer sie nicht überwindet, kann keine Aufgabe im konkreten Sinn für die Menschheit erreichen. So mag es sein, dass die erweckte Wunschkraft des Manipura tatsächlich dem Ich schadet, die Stellung vernichtet, etwa einen Geschäftsmann in den Bankrott bringt, wenn das innere Wesen darin einen höheren Sinn findet.
  4. Anahata bedeutet hinter alle Rhythmen zu treten. Erst jüngst ist erforscht worden, wie das Gewahrsein als leere Aufmerksamkeit zwischen den beiden Bereitschaftswellen von Motivation und Intention besteht und seine einzige Freiheit darin liegt, in der Wahl oder Entscheidung ja oder nein zu sagen. Das Bewusstsein des Wollens ist nur über die Affektivität zugänglich, nicht aus dem Denken; zwischen Swaddhistana und Anahata ist das Manipura die Schwelle des Fühlens, die im Traum als Hüter der Schwelle erlebt wird, der den geistigen Weg zu verhindern sucht. So kann niemand diesen beginnen, der nicht zuerst seine Gefühlsmotivation akzeptiert; erst wenn die Triebe befriedigt sind, kann er sich den Fremdmotiven und Sachen zuwenden.
  5. Vishuddha bedeutet Reinheit des Körpers, Ungefärbtheit. Der Körper ist wie er ist und will sich anlagegemäß verwirklichen; die soziale und geistige Aktion ist wesensmäßig nicht verschieden vom Wachstum. Die Beziehung zwischen Körper und Geist erhellt aus dem Tierkreis, ich habe sie in vielen Büchern dargestellt. Sie leuchtet unmittelbar ein, wenn man einfach den Traum akzeptiert und erkennt, dass Alpträume nur entstehen, wenn eine Botschaft des Unbewussten, der rechten Großhirnhemisphäre nicht positiv angenommen wird.
  6. Ajna bedeutet Gehorsam. Die ichverhaftete Seele verliert sich in der Kompetition. Der unterbewusste Rechtfertigungstraum REM vollzieht sich nicht nur jede Nacht fünfmal, wie ich es in Das Nichts im Etwas dargestellt habe, sondern bildet unterschwellig die Entelechie der Seele. Sie kann sich nur im Aufstieg, im Lernen und Lehren im Zusammenhang mit den Ahnen und der Geschichte entfalten.
  7. Sahasrara, die geistige Begnadung. Sind die sechs Stufen als Aufstieg der Kundalini Schlangenkraft durch die Chakras vollendet, so öffnet sich das Bewusstsein dem Urlicht und die Chakras werden zur kosmischen Flöte, auf der die Gottheit ihre Melodien bläst. Hier ist das Sprechen entscheidend und man erreicht in der Erleuchtung die Umstülpung: das Lernen des Mondes ist abgeschlossen. Der Weg des Mondes ist pflanzlich, setzt aus der Ruhe an. Wer ihn zuende geht, erreicht nach der Überlieferung des Yoga das reine Bewusstsein in Seligkeit, Sat-Chit-Ananda. Doch schon die Inder lehren, dass dieses Erreichnis nur eine Stufe ist; der Raja-Yogi muss als Karma-Yogi auf die Erde zurückkommen, muss das Werden und Vergehen annehmen, weil er nur über das Tier den Weg zum freien Menschen findet;
    • nach Raupe (Körper)
    • und Puppe (Seele)
    • kommt der Schmetterling (Geist).

Der Mittelfinger ist der längste der Hände, links entspricht er dem Mond, rechts dem Uranus. So ist der Durchbruch zur Nacht und das Anjochen des Lebenskreises der wichtigste Ansatz, der nur nackt wie im Paradies angegangen werden kann. Der Mond hat seinen Ort im Süden. Im linken Handteller zeigt er die Hoffnung, im rechten die Fähigkeit der Liebe als Zuwendung und als Herzlinie des Fühlens bestimmt er in der rechten Hand die Entfaltung des einsamen Weges, nach dessen Vollendung allein man fähig wird, für den Mitmenschen ehrlich zu sorgen und ihn nicht mehr für seine egoistischen Absichten zu missbrauchen.

Arnold Keyserling
Das große Werk der göttlichen Hände · 1986
I. Teil:Die linke Hand des Mondes
© 1998- Schule des Rades
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