Schule des Rades

Arnold Keyserling

Klaviatur des Denkens

4. Gemüt

Funktionen und Bereiche

  1. Geist
  2. Seele
  3. Körper
  4. wollen
  5. fühlen
  6. denken
  7. empfinden

Die Sprache vermittelt sowohl im Aufnehmen, Lesen und Vernehmen als auch im Sprechen, Schreiben und Mitteilen Sinn, der sich inhaltlich zum Gedächtnis artikuliert. Aber das Gedächtnis bedeutet nicht die Gesamtheit der inneren Erfahrungen: diese wird durch das Vermögen der Erinnerung bestimmt, welches weit über das Gebiet der sprachlichen Artikulation hinausgeht. Der sprechende Mensch tritt der Welt nicht leer gegenüber, sondern als eine Innenwelt ganz bestimmter Prägung, die sich vor allem spontan im Traum und in der Einbildungskraft offenbart. Oft verdeckt die Sprache sogar diese Sphäre, sie wird verdrängt, versinkt ins Unterbewusste, sodass es schließlich zur Zerstörung der persönlichen Kontinuität im Bewusstsein, zum Verlust des Lebens-Sinnes kommen kann.

Das Wort Erinnerung zeigt, dass Inhalte des Bewusstseins mit dem Wesen verschmelzen, verinnerlicht werden. Dies verlangt eine Umkehrung der Aufmerksamkeit: anstelle der äußeren Beobachtung oder der Richtung auf sprachliche Information wendet sie sich der Innenwelt zu. Diese Innenwelt ist nicht homogen, sie steht in Entsprechung zur äußeren Natur, zeigt die gleiche Komplexität. Wir bezeichnen den Gegenstand inneren Erfahrens und Erlebens als das Gemüt.

Nach außen gewandt erlebt der Mensch die Natur — nach innen zu sein Gemüt. Um dieses bewusst zu machen, gilt es, seine Komponenten nach zwei Gesichtspunkten zu gliedern: nach dem Ruhenden im Wandel — dem, was sich im Fluss der Zeit identisch bleibt — und dem Wandel als Vorgang selbst. Das Ruhende im Wandel bezeichnen wir als die drei Bereiche: Körper, Seele und Geist, und den Wandel als die vier Funktionen: Empfinden, Denken, Fühlen und Wollen.

Den Zugang zum Gemüt verbirgt die Traumschwelle. Dies weist auf ein Problem der Innenwelt: der Mensch kann sich selbst irren, sich Illusionen machen. Die Psyche kann in ihren eigenen Bildern, den Tagträumen und Einbildungen schwelgen, die an sich eine sinnvolle und positive Rolle im Organismus haben, aber leicht zu Fehlhandlungen und Wahnvorstellungen führen, oder sich in falschen philosophischen Konstruktionen verlieren und damit einen Komplex zum Träger der Identität zu erheben, der fortan den Zugang zum Bewusstsein verstellt. Daher gilt es, die Bereiche in ihrer natürlichen Entsprechung zu begreifen:

  • der Körper entspricht dem Maß und der Masse,
  • die Seele entspricht der Energie und ihren Quanten,
  • der Geist entspricht der Schwingung und Urgeschwindigkeit.

Die Kontinuität des Körpers liegt nicht in seiner Stofflichkeit, sondern im Genom, nach dessen Gesetz sich die Organe bilden, regenerieren und vergehen. Doch das Genom ist nicht auf den Organismus beschränkt: es bestimmt dessen Verwirklichung in der Welt, beim Tier gesteuert aus den Engrammen und Instinkten, beim Menschen in den unzähligen Weisen der Verkörperung. So bedeutet der Körper, raumzeitlich aufgefasst, die Richtung von der Einheit in die Vielheit, von der Möglichkeit in die Wirklichkeit. Dem Bewusstsein ist er als beharrende Struktur und Gestalt zugänglich; aber als eine Struktur, die es hinzunehmen gilt, weil nur aus ihrer Annahme der Reichtum des Daseins entsteht.

Die Kontinuität des Geistes liegt im Licht, in der Vorstellung: in dem auch, was man sprachlich verstanden und begriffen hat, im Erleben selbst. Dessen Bewegtheit — im Sinne der Uraustauschgeschwindigkeit des Lichtes — ist eine Gegebenheit, die als solche nicht zu Bewusstsein kommt: Geist wird nur in dem Maße erlebt wie er integriert wird, also von der Vielheit in die Einheit, von der Wirklichkeit in die Möglichkeit tritt. Seine Richtung ist gegensätzlich zum Körper, sie bedeutet Integration. Wie der Körper rastlos, solange sein Organismus aufrecht erhalten bleibt, verwirklicht, ebenso wird der Geist immer integrieren, sich neue Gebiete eingliedern bis die letzte Klarheit erreicht ist — eine Klarheit, welche die Gesamtheit der Erfahrungen als Wissen überschaut.

Die Seele bedeutet das Subjekt eines geistig — körperlichen Zusammenhangs, die Person: sie wird als Einheit verstanden, in Analogie zu den Energiequanten, den Lichtzahlen und Tonzahlen. Sie ist ein Wer, das immer eine Vereinigung von Körper und Geist, Expansion und Integration bedeutet, aber eigener Beziehungen fähig ist, die sich personal verwirklichen.

Der Träger der Person ist entweder männlich oder weiblich. Hieraus ergibt sich seelisch ein Rahmen von sechs Urbeziehungen:

U r f a m i l i e

Ihren Zusammenhang findet die Seele in der Vereinigung von Mann und Frau, in der Liebe und Ehe als personaler Urzelle der Menschheit.

Jede Wandlung in den Urbeziehungen wird seit altersher durch Feste eingeleitet, welche die Veränderung bewusstmachen: Zeremonien der Eheschließung, der Erwachseneninitiation Begräbnisriten etc.

In der Wirklichkeit drückt sich das Erleben der drei Bereiche als Dauer aus:

  • der Körper wird als Vergangenheit,
  • die Seele als Gegenwart,
  • und der Geist als Zukunft erfahren.

Hier gilt es nun zum Erreichen des Bewusstseins die drei Bereiche zu vereinen: nur wenn die Vergangenheit so weit bewusst wurde, dass keine Verdrängungen den Zusammenhang der Erinnerung unterbrechen; wenn die Gegenwart nicht durch traumhafte Einbildung und Rekriminierung ersetzt, sondern tatsächlich erlebt wird, und wenn die Zukunft — im Sinne des Lichtes und seiner stetigen Ausbreitung — nicht Planung aus Vergangenheit und Gegenwart, sondern Bereitschaft für das Zu-Kommende ist, also bewusste Teilnahme am geschichtlichen Werden bedeutet, dann wird die Kontinuität des Bewusstseins verwirklicht, sodass jede Vorstellung einer tatsächlichen körperlichen Gegebenheit entspricht und persönlich-seelisch verantwortet werden kann.

Das Verhältnis der Bereiche ist im Kreis zu veranschaulichen:

B e r e i c h e

Die Bereiche Körper, Seele und Geist beharren in der Zeit. Ihre Beziehung zur Wirklichkeit wird durch vier Funktionen vermittelt: empfinden, denken, fühlen und wollen. Sie werden durch folgende Entsprechungen einsichtig.

1.
2.
3.
4.
empfinden
denken
fühlen
wollen
wachen
Reflexion
träumen
Schlaf
Strahlung
Elektromagnetismus
Wärme
Schwerkraft
potentielle Energie
Erde
Luft
Wasser
Feruer
Sinnesdaten
Sprache
Triebe
Aufmerksamkeit

  1. Das Empfinden entsteht aus dem Wachen. Es entspricht der ersten Dimension: der linearen Beziehung zwischen Gegenstand und Beobachter. Alle Sinnesdaten als Inhalt des Empfindens befinden sich innerhalb einer linearen Skala, die zeitlich durch die Frequenz 16 p.S. als untere Schwelle und 64 000 p.S. als obere Schwelle begrenzt wird. Der tragende Sinn ist das Auge, welches die kleinste Lichtzahl, das Photon wahrzunehmen vermag; ihm sind die anderen Sinne zur Orientierung untergeordnet.

    Die Sinnesdaten sind für das Empfinden einfache Gegebenheiten, sie bestimmen die Wirklichkeit ohne Bezug auf den Menschen. Dennoch gibt es aktives und passives Empfinden: als Richtung von der Wirklichkeit zum Bewusstsein als Beobachtung, Wahrnehmung, vom Bewusstsein zur Wirklichkeit als Gestaltung. Für das Auge sind es Formen und Farben, die sich nach dem Rad gliedern; der Purpurkörper des Auges schließt gleichsam den Farbkreis als Grundlage aller Farbwahrnehmung. Für das Ohr sind es Töne, Intervalle und Klangfarben in der gleichen Ordnung, für den Geschmackssinn Verbindungen der vier Richtungen salzig, sauer, süß und bitter, die auf der Zunge lokalisiert sind, welche chemische Eigenschaften der Säuren, Laugen, Salze wahrnehmen. Für den Geruchssinn gliedern sich die Gerüche nach blumig, faulig, rauchig, knoblauchartig, käsig, usw. Der Tastsinn empfindet Härte, Druck, aber auch Wärme und Bewegung.

    Über das Empfinden ist der Mensch mit dem Pflanzenreich in Beziehung, da er nicht durch die Merkwelt eingeengt ist, sondern mit der totalen Umwelt in Wechselwirkung steht. Doch oft ist das Empfinden — sei es durch mangelnde Befreiung aus der tierhaften Instinktsphäre, sei es durch die Begrenzung auf bestimmte Wahrnehmungen im Sinne bedingter Reflexe in der Erziehung — auf einen Ausschnitt beschränkt und erst eine Große Erfahrung im Sinne eines Naturerlebnisses, einer künstlerischen Offenbarung oder einer chemischen, bzw. durch Übung erreichten Öffnung der Sinnesschwelle wird die tatsächliche Wirklichkeit in ihrer Schönheit offenbaren. Hierbei ist oft die Fixierung an das sprachliche Denken als Sphäre der Reflexion das Haupthindernis: der Mensch erlebt nicht die Wirklichkeit als solche, sondern nur im Vergleich mit seinen Vorstellungen oder seinem Gedächtnis. Daher sprachen viele Traditionen von der Notwendigkeit eines Erwachens — ein Erwachen, das gleichzeitig das Erleben einer Seligkeit vermittelt.

  2. Das Denken, als Bewusstheit der Sphäre der Reflexion entstammend, hat als tragenden Sinn das Gehör; aber nicht im Sinne des Sicherungstriebes, sondern als Träger der Sprache, der Artikulation und Kommunikation, die auf Basis des Elektromagnetismus durch Vereinigung von Neuronen des Großhirns zu Ketten funktioniert. Sprachliches Denken ist allein dem Menschenreich eigen; sein Ergebnis lässt sich durch die beiden Richtungen der Analyse und Synthese in der mathematischen Gleichung ermitteln, welche der zweiten Dimension, der rationalen von Fläche und Umlauf entspricht. Analyse ermittelt die Bedeutung, Synthese den Sinn; Analyse entspricht der Wortart, Synthese dem Satz; beide zusammen ergeben das Gedächtnis als sprachliche Erinnerung.

    Für den analogen Traum wird das Empfinden mit der Erde, das Denken mit der Luft, dem Fliegen gleichgesetzt; der Fluss der Gedanken ist von der Atmung abhängig, weshalb die Griechen ursprünglich phrenos, das Zwerchfell als Sitz des Denkens annahmen.

    Während die Strahlung linear erfolgt, geht alle elektromagnetische Verbindung von Oberfläche zu Oberfläche, und ihr Gesetz lässt sich im ebenfalls flächigen Achterring veranschaulichen.

  3. Das Fühlen hat als Inhalt die Triebe, welche den Menschen mit der Tierwelt verbinden: Aggressionstrieb, Nahrungstrieb, Geschlechtstrieb und Sicherungstrieb. Tragend sind für das Fühlen die Körpersinne wegen ihrer engen Beziehung zu den Trieben — Geschmack und Geruch zu Nahrungstrieb, Tastsinn zu Geschlechtstrieb — sodass viele Sprachen fühlen und tasten gleichsetzen.

    Alle Triebe sind in einem Spannungsbogen zwischen Sehnsucht und Erfüllung; beim Menschen, dessen Schwerpunkt auf der Vorstellung und nicht, wie bei den Tieren, auf den unbedingten Reflexen ruht, stellen sie sich als dreidimensionale Wünsche dar; der Mensch richtet sich nicht auf den Vorgang des Essens, sondern auf das Bild des gebratenen Kapauns.

    Die energetische Grundlage des Fühlens ist die Verbrennung, die chemische Energie, die aber in der Analogie des Traumes nicht dem nach oben strebenden Feuer, sondern dem abwärts fließenden Wasser entspricht.

    Alle Emotionen stehen zwischen Beschleunigung und Verlangsamung, gesteuert durch Sympathikus und Parasympathikus; Fühlen wird zur Funktion, indem das Gleichgewicht zwischen beiden erreicht wird und der Mensch nicht die Traumbilder welche stellvertretende Wunscherfüllung vorspiegeln — für Wirklichkeit nimmt.

    Mittels des Fühlens ist der Mensch nicht nur mit der Tierwelt in Verbindung, sondern gleich dieser mechanisch, mittels des Spannungsbogens von Lust und Schmerz dressierbar; die Rechnungsart der dritten Dimension ist die Grundlage der Mechanik. So kann es eine psychische Energetik im Fühlen geben; menschliche Verhaltensweisen, so weit sie nicht Sprachstrukturen entstammen, lassen sich in fast allen Gebieten auf tierische Modelle zurückführen. Ferner kann die Triebhaftigkeit die anderen Funktionen überwuchern: der Geschlechtstrieb regelt dann das Wollen, das Empfinden folgt der Angst, das Denken versinkt gleich dem Lachen im Aggressionstrieb, während das Fühlen selbst sich in der Sucht nach Nahrung erschöpft, und triebhafter Gefühlsüberschwang im Reflex des Weinens Entspannung findet.

  4. Das Wollen hat als Voraussetzung die innere Stille, analog der Nicht-Bewusstheit des Tiefschlafes. Willenskraft bedeutet potentielle Energie, die durch Entscheidung von Ja und Nein welche der Mensch mit Atom und Zelle teilt — erzeugt, gespeichert und ausgegeben werden kann. Diese Energie wird im Traum als Feuer erlebt; Mängel der Funktionen gleicht der wunscherfüllende Traum durch entsprechende Phantasien aus — das Empfinden als Graben in der Erde auf der Suche nach Gold, mangelnder Kontakt mit dem fühlenden Unterbewussten durch das Eintauchen ins Meer, Mangel des Denkens durch Lust am Fliegen, und mangelndes Wollen durch Feuer, das Verbrennen der Läuterung.

    Inhalt des Wollens ist die Kraft der Aufmerksamkeit, die allein die Entscheidungen von Ja und Nein gegenüber der Außenwelt, oder die positiven und negativen Entschlüsse im Sinne der Kontinuität des eigenen Wesens fällt.

    Empfinden, Fühlen und Denken bestimmen ein Was; Wollen richtet sich auf ein Dass: dass etwas geschieht, was das Bewusstsein entschieden hat. So vereint das Wollen die vierte Dimension der raumzeitlichen Wirklichkeit mit der nullten der elementaren Möglichkeit.

    Das Verhältnis der Funktionen zu den Dimensionen lässt sich im Kreis veranschaulichen:

F u n k t i o n e n

Arnold Keyserling
Klaviatur des Denkens · 1971
4. Gemüt
© 1998- Schule des Rades
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