Schule des Rades

Arnold Keyserling

Luzifers Erwachen

3. E = mc²

Für Paracelsus hat jedes Metall einen Geist. Der des Goldes etwa äußert sich in der Farbe, so dass im traditionellen trinkbaren Gold, der Urheilflüssigkeit, sich keinerlei materielles Gold nachweisen lässt, weder chemisch noch spektralanalytisch, obwohl an einer bestimmten Stelle des alchemischen Werkes Goldpulver zugefügt wird. Das Elixier enthält den dritten, geistigen Aspekt des Goldes, jenen, den es in der Natur als Rolle auf dem Weg zur Vergeistigung, zum Sein besitzt.

Die dialektischen Sozialphilosophien wollen die Gemeinschaft der Menschen erzwingen, und beschränken sich dabei auf die Zivilisation; für Marx ist die Wirklichkeit auf das Humane begrenzt, alle Natur gilt als Stoff der Verwirklichung. Diese erzwungene Gemeinsamkeit, so sehr sie auch historisch als Übergang von der vortechnischen zur technischen Zivilisation brauchbar war, kann ihren Zwangscharakter niemals verlieren; denn ohne die Vertikale gibt es keine echte Gemeinsamkeit. Das Wesen nimmt nicht aktual an Wirklichkeit, sondern potentiell an Vermögen zu. Ist dieser Schritt einmal geschehen — die alten Kulturen hießen ihn Initiation im Gegensatz zur Erziehung — dann gibt es keine Probleme zwischen Egoismus und Altruismus, der Zusammenhang Mensch-Natur offenbart sich als echter Kosmos.

Im mythischen Denken der Chinesen und Inder war dieser Ausgangspunkt selbstverständlich aber prälogisch, und musste der logischen Philosophie weichen. Diese ist im naturwissenschaftlichen Denken bis zum Ursprung der Materie vorgedrungen und hat — mit Einstein, Planck und Rutherford — jene Intuition bestätigt, wenn dies auch den Pionieren nicht bewusst war. Wenn wir uns die einsteinsche Gleichung philosophisch vornehmen, dann wird der Zusammenhang einsichtig. Gewöhnlich wird sie mit dem Satz erklärt, dass die Energie der Masse äquivalent sei: in Wirklichkeit ist ein Energiebetrag nicht einer Masse, sondern der Masse verbunden mit ihrer Ausbreitung, d. h. ihrer Wechselbeziehung zu allen anderen Massen des Weltalls äquivalent.

  • E ist in der Formel E = mc² für eine bestimmte, zu beobachtende Qualität einzusetzen, dies wäre der seelische Aspekt, welcher den Gegenstand der Beobachtung als Monade im leibnizschen Sinne ausweist.
  • M ist die geronnene Energie, die Vereinzelung zur Masse, welche aber nicht alle Kraft investiert, sondern über einen Teil — die Ausbreitung oder Wechselbeziehung auf Grund der Lichtgeschwindigkeit c mit allen anderen verknüpft bleibt.
  • So wäre mc gleich Körper-Geist, denn auch beim Menschen ist und bleibt die Vorstellung ein energetischer Aspekt.

Max Born hat diesen Zusammenhang weiter verdeutlicht, indem er die Masse als potentiellen, den Energieaustausch als kinetischen Aspekt bezeichnete. Doch die Zweiheit kann an Potentialität zunehmen. Schon das Atom ist imstande, größere Energien zu beherbergen, indem Elektronen aus niederen Schalen und Bahnen verschwinden und in höheren auftauchen. Darin liegt seine Unbestimmbarkeit, seine gleichsam seelische Autonomie, dass niemand von außen vorhersagen kann, was nun ein gegebenes Atom mit einem daherfliegenden Energiequant anstellen mag.

Die Kontinuität des Atoms, seine Beharrung als gleiche Qualität ist der seelische Aspekt, der Austausch der geistige, die Stofflichkeit der körperliche. Von hier aus lässt sich der traditionelle Aufstieg der Naturreiche vom mythischen in den logischen Zusammenhang überführen.

Der Ursprung der Atome und Elemente ist das Wirkungsquant, die kleinste Einheit der Energie, sozusagen die Grundzahl der Wirklichkeit. Jedes Element lässt sich als eine Anzahl dieser Einheiten bestimmen: ganzzahliger Unterschied der Menge von Protonen und Elektronen bedeutet andere Qualität. Die Quanten fügen sich zu Elementen nach zehn Gruppen, welche ähnliche Qualitäten auf verschiedenen Ebenen verwirklichen.

Hier äußert sich die Triade folgendermaßen: der stoffliche Aspekt ist die gleichsam gefrorene Energiemasse; der seelische die beharrende Qualität; doch der geistige ist der Zusammenhang der Elemente in einem größeren Ganzen: der Materie als Mutterschoß allen Werdens und Vergehens.

Evolutives Ergebnis der Tendenzen der Materie sind die Zellen, die bereits eine Anzahl von Elementen um den Kohlenstoff als mittlere Gruppe des periodischen Systems anordnen. Gleich dem Atom bestehen sie so lange, bis sie zufällig von außen zerstört werden. Als Zellenkolonien bilden sie die Grundlage der höheren Organismen, der Tiere und Pflanzen.

Die Einzeller sind unsterblich; Tiere und Pflanzen sind sterblich. Während der geistige Aspekt der Einzeller ihr Sinn in der Natur ist, der seelische ihr Beharren etwa als Amöbe, und der körperliche ihre molekulare Konstitution, ist bei der Pflanze der körperliche Aspekt mit Stamm, Wurzeln, Blättern etc. bestimmt. Der seelische bedeutet die sexuell auf Gegenpartner gesteuerte Beharrung, und der geistige wird durch den Zusammenhang der Gattung mit der Gesamtheit der Natur bestimmt: ihre Bedeutung als Nahrung für Tier und Mensch, als Heilkraut, oder als Mittel zur Erweiterung des Bewusstseins.

Im Mineral scheint es nur das Gesetz des kristallinen Wachstums als geistige Richtung zu geben. Bei den Pflanzen ist die Rolle durch die Fähigkeit bestimmt, durch Aufnahme der Strahlungsenergie der Sonne, Kohlenwasserstoffe zu synthetisieren und Sauerstoff von der Kohlensäure zu scheiden, um damit für die Atmungsluft zu sorgen. Das Tier hingegen ist energetisch auf Umsatz der chemischen Vorgänge, des Verbrennungsprozesses gegründet. Qualitativ wird es durch die Gattung bestimmt im Sinne der drei Schichten: körperlich, gemäß dem genetischen Code, durch die endogenen Engramme, seelisch, in Bezug auf andere Tiere, durch die unbedingten Reflexe im Rahmen der vier Urtriebe: Geschlechts-, Nahrungs-, Sicherungs- und Aggressionstrieb, und geistig durch die bedingten Reflexe, die sein Verhalten veränderten Wirklichkeiten anpassen, solange die überbewusste Gattung als Ganzes besteht.

Der Schwerpunkt der Pflanze ist der körperliche Bereich, der Schwerpunkt des Tieres der seelische — lateinisch stehen anima und animale in Wurzelbeziehung. Doch die Fähigkeit des Tieres, bedingte Reflexe zu bilden, ist auf dessen Jugend begrenzt; beim Menschen kann sie als Vermögen des Lernens das ganze Leben andauern. Damit verschiebt sich der Schwerpunkt vom seelischen Bereich der gattungsmäßigen Beziehungen auf den geistigen des Bewusstseins, das dem Werden und Vergehen nicht unterliegt und so einen neuen Gegenpol des Minerals mit seiner Kristallisationsfähigkeit bildet.

PflanzeMensch
K r e u z
Mineral
Tier

Das Mineral wird aus der Energie gesteuert, die sich in Masse verwandelt und die Bautendenz verwirklicht. Die Pflanze aus der gesamten Umwelt, das Tier durch seine Gattung im Rahmen einer bestimmten Merkwelt. Bei allen versteht sich die geistige Rolle, die Bedeutung für die gesamte Natur von selbst aus der Evolution. Wie steht es aber mit dem Menschen?

Hier ist die Gattung als Instinkt-Triebsteuerung nur noch rudimentär vorhanden, die unbedingten Reflexe sind auf ein Mindestmaß geschwunden, und selbst die körperlichen endogenen Engramme — beim Tier sich etwa im Jagdinstinkt, Imponiergehabe usw. äußernd — werden über Vorstellungsabläufe bewusst, deren Prototyp die griechischen Mythen darstellen. Damit ist seine Rolle in der Natur — der eigentlich geistige Aspekt — nicht mehr überbewusst-selbstverständlich, sondern wird zur Aufgabe.

Den Schwerpunkt des Geistes bildet das Denken, die sprachliche Abstraktion. Denken bedeutet Beziehungen schaffen aus Einzelheiten zu verallgemeinern, Verallgemeinerungen auf Sonderfälle anzuwenden, Zeichen für die Gegenstände der Wirklichkeit zu setzen und deren Verknüpfung nach Gesetzen in der Vorstellung nachzuvollziehen. So sind wir wieder beim Ausgangspunkt: wenn das menschliche Wesen bewusst wird — oder anders ausgedrückt der tierische Organismus zum Träger eines neuen Etwas, des Bewusstseins geworden ist — dann muss dieses Bewusstsein selbst den geistigen Aspekt, die Öffnung auf die Gesamtwirklichkeit in ihrer evolutiven Tendenz verwirklichen.

Tiere und Pflanzen bildeten vor dem Hinzutreten des Menschen ein ausgewogenes Ganzes. Zwar ließen sie sich über Züchtung und Ackerbau zum Teil menschlichen Intentionen dienstbar machen, aber das Gleichgewicht war nicht gestört.

Dies wurde anders, als der Mensch als seinen wahren Gegenpol die mineralische Welt erkannte; als er begann, aus Steinen und Metallen Werkzeuge zu schaffen, sich bleibende Häuser über Verwendung des Kristallisationsprinzips zu bauen, vor allem aber das Denken in Maschinen zu verkörpern, welcher Vorgang in der Gegenwart mit der technologischen Zivilisation den entscheidenden Durchbruch brachte.

Alle Zivilisation gehört zum zweiten Teil des Wortes Bewusstsein: zum Wissen, die entscheidenden Faktoren der menschlichen Kulturen sind wissbar, manipulierbar. Wie steht es aber mit dem Sein? Wie lässt sich der geistige Aspekt bewusst verwirklichen?

Das denkerisch-ideologische Ich hat kein Sein, es schafft Pseudosubstanzen. Die einzige Wirklichkeit, die den geistigen Aspekt zu integrieren vermag, wurde durch die Intention des Wortes GOTT umrissen: in kantischer Sprache das ens realissimum, der Seinzusammenhang alles Bestehenden, logisch die disjunktive Synthese der Teile im System.

Nichts ist in den sichtbaren und unsichtbaren Welten außer einer einzigen Macht, die ohne Anfang und Ende ist und nur ihrem eigenen Gesetz untertan. Versucht nicht, ihre Unermeßlichkeit mit Worten zu fassen. Wer fragt, irrt schon, wer antwortet, irrt ebenfalls. Erhofft euch keine Hilfe von den Göttern, sie sind wie ihr dem Gesetz des Karma unterworfen, werden geboren, altern und müssen sterben, um wiedergeboren zu werden. Sie können ihr eigenes Schicksal nicht wandeln. Erwartet alles von euch selbst. Vergesst nicht — jeder kann, zu jener höheren Macht durchstoßen.

Diese Worte der letzten Predigt des Buddha vor seinem Tod umreißen besser als alle theologischen Spitzfindigkeiten das wahre Wesen dessen, was die Intention des Wortes Gott meint, und zeigen gleichzeitig auch die Schwierigkeit an, diesem mit dem Denken näher zu kommen. Trotzdem müssen wir es in Worte fassen, in Worten ausdrücken. Denn mit dem Nichtausdrücken ist genauso eine Aussage gesetzt wie mit der konkreten Bestimmung etwa der hundert Namen Allahs, oder den verschiedenen scholastischen Versuchen, die Existenz Gottes zu beweisen. Der Nicht-Name ist genauso ein Name wie der Begriff Elohim, JHWH, das dunkle Wollen des Scottus Eriugena, das Tao des Buchs der Wandlungen, oder das unerschöpfliche Brahman. Jeder dieser Ausdrücke schafft eine bestimmte Wirklichkeit in der Welt unter Ausschluss von anderen: er bestimmt notwendig die Subjektseite, das Sein des Bewusstseins.

Doch was irgendeinen Aspekt der Wirklichkeit ausschließt, kann nicht die Totalität des Seins konstellieren. Auch das Nichtsprechen führt letztlich nicht weiter, es verlagert die Problematik auf das Gebiet der Übung, sei es der Bemühungen, verschiedene Bewusstseinsstufen zu meistern wie bei den Theravadims, oder im achtstufigen Weg der Lehre Buddhas selbst. Stufen werden aus der Möglichkeit der Stufenhaftigkeit herausgegriffen, sie sind wieder eine bestimmte Wahl. Das Ganze müsste sich auch direkt anpeilen lassen, ohne Kunstgriffe, ohne ein Bekenntnis zu einem Aspekt.

Arnold Keyserling
Luzifers Erwachen · 1972
3. E = mc²
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