Schule des Rades

Arnold Keyserling

Das magische Rad Zentralasiens

I. Semiotik

Wortschatz — Kommunikation — Dichtung

Sobald das Kind die Grammatik beherrscht, beginnt der Erwerb des Wortschatzes. Um sich in einem fremden Land zurechtzufinden, braucht man siebenhundert Worte; um dort eine Tätigkeit im kommunikativen Handeln auszuführen dreitausend. Ein Gebildeter und Träger einer lokalen Kultur verfügt über zehntausend, und der Sprachschatz eines großen Dichters und Wortschöpfers wie Goethe, Shakespeare oder Tagore beträgt sechzigtausend Worte. In China gilt die gleiche Anzahl für die Beherrschung der Ideogramme.

Worte dienen aber nicht nur der Kommunikation oder der Wahrung der soziokulturellen Tradition; sie sind semiotisch zu verstehen. Unsere Welt, in der Ich und Selbst sich entfalten und zum Wesen vereinen, besteht aus kulturellen Einheiten, die man als Semantik bezeichnet. Es sind Bedeutungseinheiten. Ein Wort wie Generaldirektor oder Rechtswissenschaft schafft eine der Gegebenheiten, zwischen denen sich unser Dasein vollzieht. Alle Gebärden, alle unteren Stufen der Sprachentfaltung, aber auch die Wortarten und Satzformen der Grammatik sind semantisch zu begreifen. Wenn sie nicht klar bestimmt werden, kann man sie nicht kommunikativ verwenden.

Nicht alle Sprachen erreichen diese Ebene und überschreiten die Dialektgrenze. Manche drücken nur Überlebens­ziele aus, sie werden noch nicht vom Bewusstsein gelenkt. Der Körper lässt sich als Kraftleib, die Seele als Wortleib und der Geist als Lichtleib betrachten. Die Sprache vereint alle drei: der Körper ist semantisch, die Seele syntaktisch und der Geist im Sinn von Peirce pragmatisch zu verstehen.

Die Auferstehung zum Wesen bezieht sich auf den Wortleib. In ihm verschiebt sich der Akzent vom Gelebtwerden, der heteronomen Vernunft, zum Leben führen, zur autonomen Vernunft. Man kennt die Grammatik nicht wirklich, wenn man sich nicht in mehrerem Sprachen ausdrücken kann. Ebenso kann man die Sprache nicht kommunikativ gebrauchen, solange man seinen Wortschatz nicht als Gegenstand, als Objekt beherrscht in allen vier Aspekten, die wir anfangs erwähnten:

  • die Grammatik des Wollens und der reinen Aufmerksamkeit,
  • die Etymologie des Fühlens,
  • die Information des Denkens in Analyse und Synthese und schließlich
  • der Hinweis des Empfindens, Übereinstimmung zwischen Bedeutung und Beobachtung, Wahrnehmung und Gegenstand.

Wir stehen heute im Übergang von den Reichen zur Menschheit. Immer mehr wird englisch zum allgemeinen Wortschatz, da die meisten öffentlich tätigen Menschen es zusätzlich zu ihrer Sprache beherrschen müssen. Daher sind die Arbeiten von Ivan de Hemptine und von Anthony Judge für die Zukunft wichtig. Der erste hat für die Vereinten Nationen im englischen Sprachschatz demokratisch festgelegt, welche Synonyme zu bevorzugen sind. Der zweite hat in seinem Dictionary of World Problems and Human Potentiality einerseits aufgelistet, welche Probleme der Öffentlichkeit bewusst geworden sind, andererseits aber auch die Bestrebungen und Institutionen erfasst die neue Wege bahnen, wie dies die Pionierleistung des amerikanischen Human Potential Movement gewesen ist.

So gilt es eine Askese zu üben: nicht übertragbare und erklärbare Worte stören den Sprachschatz und führen nicht in die Verständigung. Was man nicht erklären kann, das weiß man nicht. So ist der Schwerpunkt des Wortschatzes das wache Empfinden. Erst wenn sich ein Wort hier legitimiert und gleichsam vorgestellt hat, wird echte Kommunikation möglich.

In der Semiotik ist Kommunikation die syntaktische Beziehungsvielfalt eines Wortes, also seine Wechselverhältnisse. Zum Beispiel werden Tische, Stühle, Betten und Schränke zu Einrichtungsgegenständen vereint und damit als Beziehung beschreibbar.

Doch die wirkliche Kommunikation meint mehr; sie postuliert die seelische Unterscheidung von Ich und Selbst. Was ein Mensch nicht versteht, das kann er nicht mitteilen. So gilt es einerseits über die Grammatik und Logik die Leere zu erreichen, indem bloße Meinungen vom verstandenen Wissen getrennt werden, andererseits aber im Sprechen der Stimme sich nicht Sprachgewohnheiten und Zwängen unterzuordnen, sondern autonom zu bleiben, den Monolog zum Dialog zu überwinden. Dies ist erst heute in der Wassermannzeit mit ihren Forderungen der Menschenrechte, der Demokratie und der Selbstbestimmung möglich. Im Bereich der prophetischen Religionen, die in der Schrift das Kriterium suchten und damit in einer irrationalen Dichtung, blieb dieser Zusammenhang unzugänglich.

So gehören viele Psychotechnologien zum Bereich der semiotischen Syntax, die man früher der Therapie zurechnete wie NLP. Der innere Bereich des Sprachschatzes ist die Wissenschaft, um die sich die Meinungen kristallisieren, aber nur Mathematik und Naturwissenschaft; die Human- und Geisteswissenschaften sind zufällig und historisch geprägt, eine Mischung zwischen Wissen und Dichtung.

Der Sprachschatz ist immer durch die Geschichte und Landschaft geprägt. Die Kommunikation, das kommunikative Handeln ist nicht in der Vergangenheit sondern in der Gegenwart. Als einziges Gebiet ist es uns unmittelbar zugänglich, wobei entscheidend ist, ob ein Mensch seine Behauptungen in verifizierbare Aussagen überführen kann.

Die Vernunft klärt; das Rationale, das Übertragbare ist die Grundlage einer freien Gesellschaft. Aber was ist der Sinn des Lebens, in Kants Worten:

  • Was kann ich wissen?
  • Was soll ich glauben?
  • Was darf ich hoffen?
  • Was soll ich tun?

Der Vielfalt des Sprachschatzes und der Kommunikationsmöglichkeiten liegen bestimmte Konstanten zugrunde, deren Kombinatorik den Reichtum des Daseins bildet. Damit kommen wir zur Welt des Geistes und der Dichtung. Wahre Dichtung ist oberhalb der Grammatik, der Kommunikation und des Sprachschatzes. Sie ist freie Kombination der Grundkomponenten der Selbsterfahrung und Welterfahrung.

Geist bedeutet, dass die dichterische Leistung als Ausdruck des Stils eines Menschen mit anderen harmonisch im Ursinn der Liebe in Beziehung tritt. Harmonie ist Zahl als Konsonanz und Dissonanz. Die Zahl vereint Raum und Zeit. Raum ist rechtwinklig, Zeit ist kreisförmig. Daher gilt es die Urbegriffe jenseits aller Wissenschaft herauszuschälen, die eine sprachliche Integration von Wirklichkeit und Möglichkeit eröffnen. Diese bilden die geistige Struktur des Rades als die sieben Komponenten des Gemüts: empfinden, denken, fühlen, wollen, Körper, Seele und Geist, die in der achten und nullten, dem Gewahrsein durch die Systemik der Zahlen vereint werden.
Sie gilt es im Nacheinander zu integrieren, wie die Sprachentfaltung gezeigt hat.

Aber darüber hinaus gibt es die zwölf Inbegriffspaare. Eine zeitliche Funktion kann sich nur in einem räumlichen Bereich vollziehen. Ich kann im körperlichen Bereich denken, dann erzeugt mein Bewusstsein Geräte und Maschinen. Im seelischen Bereich entstehen Recht und Sitte, Verkehr und Kommunikation. Im geistigen erkenne und bestimme ich Informationen, Wissenschaften und mathematische Zusammenhänge.

Arnold Keyserling
Das magische Rad Zentralasiens · 1993
Schlüssel der Urreligion
© 1998- Schule des Rades
HOMEDas RAD