Schule des Rades

Arnold Keyserling

Das magische Rad Zentralasiens

II. Kosmogonie

Aufstieg

Im ersten Kapitel haben wir gesehen, dass das sprachliche Verständnis des Sinnes auf den natürlichen Zahlen beruht; den neun Wortarten mit ihren 45 Kategorien. Die natürlichen Zahlen sind im Enneagramm des Rades als Sinnträger veranschaulicht. Zählen wir sie nun im System der ganzen Zahlen fortlaufend, dann ergibt sich folgende Reihung:

1 Bindewort, Identität 1
2 Hauptwort, Fraktalität, Oktave 2, 3
3 Zeitwort, Quintenzirkel 4, 5, 6
4 Verhältniswort, Dimensionen 7, 8, 9, 10
5 Eigenschaftswort, Qualität 11, 12, 13, 14, 15
6 Zeitwortpersonen, Subjekt 16, 17, 18, 19, 20, 21
7 Fürwort, Frage 22, 23, 24, 25, 26, 27, 28
8 Umstandswort, Raum 29, 30, 31, 32, 33, 34, 35, 36
9 Zeitwortformen, Spiel 37, 38, 39, 40, 41, 42, 43, 44, 45
10 Satz, Periodik 46, 47, 48, 49, 50, 51, 52, 53, 54, 55

Hier zeigt sich nun wie im Satz in der Zählung und Rückführung auf die 0. Dimension wiederum die Ziffern auftreten:

46 = 10 = 1
47 = 11 = 2
48 = 12 = 3
49 = 13 = 4
50 = 5
51 = 6
52 = 7
53 = 8
54 = 9
55 = 10,  also 1 + 0

In der Musik sind das neunte und zehnte Intervall beide die große Sekund. Ihr Unterschied als Schwingung ist das diatonische Komma 81/80 als Toleranz der Resonanzfähigkeit. Damit sind die Intervalle wie die Ziffern auf 9 begrenzt.

Im Satz werden die Wortarten zu syntaktischen Gliedern. Der Satzkreis wird als Ganzes erinnert und zum unterbewussten abrufbaren Gedächtnis.

Durch die vier Attraktoren wird die Bedeutung des Zahlenkreuzes offensichtlich. Siehe das Zahlenkreuz von 0 bis 10 im Rad.

Die Achse 0 bis 10 nach unten, die im Stier endet, ist der Torus-Attraktor der Materie. Die Achse nach rechts, zum Wassermann, die die Zahl 9 und 0 vereint, nämlich im Gipfel des Enneagramm mündet, ist der Grenzzyklus-Attraktor des Bewusstseins. Die Achse in Fortsetzung zu jener der Materie, also nach oben, ist die Reihe der Energie, deren Struktur das periodische System der Elemente erläutert, der Fixpunkt-Attraktor. Die Achse von 0 nach links ist der seltsame Attraktor der Selbstorganisation.

So ist das Ziel des Aufstiegs letztlich im Urkreuz veranschaulicht. Die Zahlen des Gamma, des Multiplikationsfeldes haben am Ostpunkt des Rades als höchste Zahl 100. In vielen Traditionen hat Gott als Schöpfer 100 Namen, so im Islam Allah, 1, und 99 weitere. Zeus verlangte als Opfer eine Hekatombe, hundert Ochsen, damit er sich manifestiere.

Die Evolution vollzieht sich über fünf Stufen: Mineral, Pflanze, Tier, Mensch und Gott. In jeder der Schichten wird eine der möglichen Symmetrieachsen des Raumes aufgegeben, bis wir in der nullten bei der Großen Singularität Gottes angelangt sind.

  • Das Mineral als Kristall ist vollständig symmetrisch. Niemand kann bestimmen, wo oben und unten, rechts und links, hinten und vorn sich befinden.
  • Die Pflanze verliert eine Symmetrieachse; oben und unten sind verschieden, beim Baum Krone und Wurzel. Hinten und vorne, rechts und links sind nicht zu unterscheiden.
  • Beim Tier sind außer oben und unten auch vorne und hinten verschieden; vorne ist die Nahrungsaufnahme, hinten die Ausscheidung.
  • Beim Menschen werden zusätzlich rechts und links unterschieden: durch die linke Großhirnhemisphäre wird das Wachen erlebt, durch die rechte der Traum, links die Zeit und rechts der Raum.
  • In der nullten Dimension, die nur zur Zeit, nicht mehr zum Raum gehört, ist Gott die Große Singularität. Er ist reines Subjekt, momenthaftes Gewahrsein, ewige Dauer und Synchronizität.

Die darwinsche Evolutionstheorie ist metaphysisch falsch. Sie überträgt animalische Strategien auf die Welt. Das Überleben der Tüchtigsten und die natürliche Selektion mögen als heuristische Beschreibung im Gegensatz zum kirchlichen Glauben der Unveränderlichkeit der Arten nützlich gewesen sein; sie entsprechen aber nicht der mathematischen Logik des Rades. Nur wenn wir den Sinn der Welt als Aufstieg des Sinneswesens, also des Feuerwesens vom Mineral zu Gott als Gegenbewegung zur Emanation der bereits von Gott geschaffenen Schöpfung begreifen, können wir das Gewahrsein, die ganzheitliche Einstimmung erreichen. Betrachten wir nun die Schichten einzeln.

Das Mineral befindet sich in den drei Zuständen fest, flüssig und gasförmig. Sie lassen sich durch das Feuer ineinander verwandeln. Ihre unterste Grenze ist der absolute Nullpunkt als Ruhe, — 273° Celsius. Die oberste Grenze im Plasmazustand ist der Hitzepunkt. Hier geht die Materie in Energie über.

Die Wissenschaft oder die Gesetze liegen nicht im newtonschen Sinn der subjekthaften Welt zugrunde, sondern die Singularität Gottes ist Ursprung und Ziel der Evolution. Doch das Kleid der Gottheit ist sinnlich. Die Materie wird über die Körpersinne erfahren: tasten für fest, schmecken für flüssig und riechen für gasförmig. Das verwandelnde Feuer erleben wir durch den Lichtsinn des Auges, und die Urkraft durch den Schweresinn des Ohres, das Gleichgewichtszentrum. Die Körpersinne erleben die Bewegung; die Feuersinne erfassen ihren Ursprung im Rad, im Kreis der Töne und Intervalle, der Farben und geometrischen Formen.

Auge und Ohr stehen senkrecht zueinander; ihre Mitte bildet die Stimme als Ausdruck des Subjekts. Bei den Sinnen ist die Unterscheidung von Qualitäten — Tonwerte, Farben, Geschmäcker, Gerüche, Härte usw. — letzte unmittelbare Gegebenheit. In der Sprache können wir die Zahl als vereinigendes Symbol aller Schichten und Qualitäten nehmen, wobei sie ebenfalls Urqualität ist, die neun heiligen Zahlen sind kabbalistisch und metaphysisch die einzigen wahren Namen des nullhaften lebendigen Gottes. Diese Namen finden wir auch in der Materie in der Mitte des Hyperkubus, W u r z e l - a u s - 3 h o c h 4. Wohl deswegen hat der Islam die Kaaba auf den geographischen Ostpunkt der Erde am 10. Längengrad gesetzt.

Heilsgeschichte und profane Geschichte sind metaphysisch Teil der Evolution, da Traum und Wachen zwei Aspekte einer einzigen Welt offenbaren. In der Nacht des Stieres, des Körper-empfindens mit der Signatur der Venus, wollen wir uns mit der materiellen Schichtung der Information beschäftigen.

Information bedeutet die binärische Entscheidung von Ja und Nein, Null und Eins. Diese Entscheidung als Quant der Information, das Bit, führt zu immer weiteren Verzweigungen, dem porphyrischen Baum. Das Wesensfünklein in der Emanation von Gott über das Photon des Lichts, das Elektron der Spannung, das Atom mit der Spontaneität der Energieaufnahme führt im Molekül zu der Möglichkeit, ein sprachliches Wesen in der Wirklichkeit zu schaffen.

Metall ist leitend, Nichtmetall isolierend, Kristall ist wachsend. Hängt man einen Faden in eine Mutterlauge und lässt diese verdunsten, so bilden sich alsbald kristalline Formen nach sechs möglichen Strukturen. So ist das Kristall negentropisch, verwendet die Moleküle der Lauge um seinen Körper aufzubauen.

K r i s t a l l e

Doch diese Wirkung ist von außen induziert. Erst im genetischen Code, einem flüssigen Kristall, wird das aus Gott stammende Quant zum aufstiegsfähigen Selbst.

Das Ja und Nein äußert sich im genetischen Code als Wachstum und Vermehrung. Das Selbst gleicht dem Atomkern, der Protonen und Neutronen zusammenfügt, worum sich die Elektronen scharen.

Das Proton ist aus drei Bestandteilen, drei Farben zusammengefügt. Die Fähigkeit des Zusammenfügens des Informationsbildes — in der Materie die starken Wechselwirkungen, im Bewusstsein das Selbst — ist inhaltsleer als reine Aufmerksamkeit. Die Aufmerksamkeit hat einen Quell, die innere oder schwarze Sonne. In der äußeren Sonne wandelt sich dauernd Wasserstoff in Helium und erzeugt über die Strahlung das Leben auf der Erde. Diese Strahlung wird durch den Mond abgewandelt, der die vier Elemente — Feuer, Erde, Luft, Wasser — in Wechselwirkung hält.

Die drei Aggregatzustände fest, flüssig, gasförmig zeigen eine verschiedene Geschwindigkeit der Moleküle. Im festen Zustand schwingen sie an den Ecken der kristallinen Struktur; im flüssigen unterliegen sie der brownschen statistischen Bewegung, und im luftigen dehnen sie sich nach Maßgabe der Schallgeschwindigkeit des Elements oder des Moleküls im Raum aus.

Arnold Keyserling
Das magische Rad Zentralasiens · 1993
Schlüssel der Urreligion
© 1998- Schule des Rades
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