Schule des Rades

Arnold Keyserling

Das magische Rad Zentralasiens

III. Yoga

Yogasutra

Gott ist Ursprung und Ziel der Welt. Der Mensch hat über sein Selbst Teil am göttlichen Ursprung und über sein Ich Teil an der Möglichkeit, den Weg der Rückkehr zu beginnen. Diese Rückkehr gehört nicht zur Evolution. Sie ist persönliche Entscheidung und Wahl. Seit altersher hat man sie als geistigen Weg bezeichnet, der frei und ohne Sicherung in eine unbekannte Zukunft führt.

Freiheit bedeutet, dass nichts einem Halt gibt außer der Erinnerung der Kindheit, dass eine Daseinsform möglich ist, wo nicht der Egoismus sondern die Liebe herrscht.

Die natürliche Evolution in ihren Schichten reicht bis zum Menschen, der zwischen rechts und links unterscheidet und dadurch imstande wird, seinen geistigen Traum zu verwirklichen. Ob dieser Traum in die große Gemeinsamkeit mündet, ist nicht vorbestimmt. Mineral, Pflanze und Tier kennen nur ihre Verwurzelung in der Urkraft, also der Selbstorganisation.

Beim Menschen tritt kosmogonisch durch Empfinden und Geist in seiner Teilhabe an der ganzzahligen ersten Dimension die Fähigkeit hinzu, Elemente zu unterscheiden und sich konkrete Ziele zu setzen.

Aber nur, wenn er die nullte Dimension des Gewahrseins anpeilt und weiß, dass sein Wesenskern von Gott stammt, wird er den Weg zurück beginnen und zum Sinn durchstoßen. Dieser Weg wurde philosophisch am klarsten im indischen Yoga beschrieben, wobei der Akzent auf der Praxis lag.

Da für die meisten das Wollen auf das Überleben gerichtet ist, scheint es schwer, aus dem Denken die Anjochung — was das Wort Yoga ursprünglich bedeutet — anzugehen. Aber dennoch können uns die Stufen des Yoga, wie sie Patanjali gelehrt hat, einen Hinweis geben, wie die Umkehr aus dem Wissen anheben könnte.

Ziel des Sonne-Mond, Hathayoga, ist Samadhi, die Einstimmung in das göttliche Gewahrsein. Ich verwende die indischen Begriffe, weil sie weniger falsche Assoziationen erzeugen als die entsprechenden europäischen, griechisch-lateinischen Bezeichnungen.

Ausgangspunkt des Yoga ist das Menschentier der mittleren Evolutionsschicht. Diese wird gekennzeichnet durch die Assoziationen, die einen so lange mitreißen, bis man sich entscheidet sie anzuhalten. Die Eingangsverse des Yogasutra des Patanjali lauten:

  • Jetzt beginnt der Yoga.
  • Yoga bedeutet die Verlangsamung der Assoziationen,
    um sie zum Stillstand zu bringen.
  • Dann ruht das Wesen in seiner Mitte.
  • Alle anderen Zustände sind durch Leiden bestimmt.

Das Wort jetzt, atha, heißt nicht Gegenwart, sondern der Entschluss etwas zu beginnen, was keinen Grund hat in der Vergangenheit und im Karma, sondern auf das künftige Ziel der Rückkehr zu Gott weist. Das eigene Subjekt ist potentiell Teil Gottes, auch wenn dieser dem Übenden vorerst als Ishta-Deva, als persönliche Leitvorstellung im Gegenüber einleuchtet. Das der Evolution entstammende Menschentier hat noch kein Wesen; Wortleib, Kraftleib und Lichtleib erscheinen als diffuser assoziativer Nebel. Die Assoziationen verlaufen zwischen den vier Bewusstseinsschichten des Großhirns:

Schlaf · AufmerksamkeitWachenK r e u zTraumVorstellung

Der Schlaf greift nicht in die Assoziationen ein. Seine Fähigkeit ist die Aufmerksamkeit des Wollens. Sie gleicht dem Fokus des Sehens, ekagrata, sie ist zu erwecken. Dazu bedarf es aber der inneren Leere, dem Erreichen der Mitte des Kreises im Selbst, im Zeugen, der nicht gelebt wird sondern sein Leben führen könnte, wie wir es früher beschrieben.

Gott als Selbst, als Wesenskern ist in der Mitte, Gott als Ich und als Du ist jenseits des Wachens oder besser Erwachens. Die nullte Dimension ist nur in der Leere des Gewahrseins zugänglich.

Das Erwachen bezeichnet die transpersonale Psychologie als Gipfelerfahrung. Bucke nannte sie kosmisches Bewusstsein, das einen zufällig überfällt. Sobald jemand dieses Erlebnis hat, die momentane Erleuchtung, ist er vollständig glücklich im Samadhi. Das Erleben kann durch Zufall kommen, es kann durch Verzweiflung entstehen — das Erleben der Zweiheit von Ich und Selbst, wobei das Ich unter dem unvollkommenen Zustand leidet und sich selbst betrachtet; es kann sich in einer ganzen Reihe von Situationen manifestieren. Wahrscheinlich gibt es niemanden, der diese Erleuchtung nicht erlebt hat. Aber wenn sie vorbei ist, wird sie vergessen; im unglücklichen Bewusstsein des Ichbildes ist sie nur der Schatten einer Erinnerung.

Die Erleuchtung kann aber auch durch Übung erreicht werden, durch einen methodischen Aufstieg, der sich über acht Stufen erstreckt:

  1. Samadhi
  2. Dhyana
  3. Dharana
  4. Pratyahara
  5. Pranayama
  6. Asana
  7. Niyama
  8. Yama

Da der Durchschnittsmensch im Überleben der mittleren Evolutionsstufe des homo faber verharrt, wird er alle persönlichen und kollektiven Erinnerungen an den Samadhi dem sogenannt gesunden Menschenverstand unterordnen. Vom Denken aus scheint es unmöglich, je herauszukommen, weil man von den Assoziationen mitgerissen wird und die Ruhe der Meditation kein Bewusstseinsinhalt ist, sondern das Subjekt. So können Religionen, wie Kierkegaard so treffend gezeigt hat, noch schwerwiegendere Verführungen darstellen als die materiellen Lebensziele, weil der gesicherte Gläubige das gute Gewissen hat und deshalb seltener als ein Sünder im christlichen Sinn einsieht, dass er eigentlich nicht in seinem Wesen steht. Ferner versuchen manche, die diese dumpfe Erinnerung an ein mögliches Heil haben, die Stimme ihres Gewissens zu übertönen und den Strebenden zu überreden, er sei auf einem falschen Weg. Darum heißt Yoga auch der Weg des Einsamen. Ebenso Sufi im Islam. Dennoch hat dieser Weg bestimmte Stufen, die gemeinsam anzugehen sind.

Arnold Keyserling
Das magische Rad Zentralasiens · 1993
Schlüssel der Urreligion
© 1998- Schule des Rades
HOMEDas RAD