Schule des Rades

Arnold Keyserling

Das magische Rad Zentralasiens

I. Semiotik

Entfaltung zum sprechenden Wesen

Betrachten wir nun die Sprache aus der Sicht der Dreiheit Ich — Selbst — Wesen. Das Selbst zeigt die Bedeutung. Man kann sagen ein Mensch ist bedeutend, nicht aber er ist sinnvoll. Bedeutend ist er dann, wenn man ihm Bewusstseinsinhalte, die zum Können geworden sind, zurechnet. Das Ich schafft den Sinn, die Verbindung zur Welt; es ist inhaltlich leer, Null. Das Wesen vereint Ich und Selbst; es wird von der Stimme getragen, die aus dem Sinn die Bedeutung schafft. Wenn sie einmal geschaffen ist, dann wird sie zur Erinnerung, kann abgerufen werden als Teil der Ichstrategie.

Die Entfaltung zum sprechenden Wesen vollzieht sich über sieben Stufen. Die Fähigkeit zum kommunizierenden Wort beginnt mit dem ersten Schrei. Die Sprachentwicklung kennt sieben Schichten: sie führen zur Unterscheidung der zeithaften Funktionen und raumhaften Bereiche, die den Raster des Rades ausmachen. Betrachten wir nun diese Stufen im Einzelnen.

7.
6.
5.
4.
3.
2.
1.
Dichtung
Kommunikation
Wortschatz
Grammatik
Lateralisation
Erkundung des akust. Milieus
Gebärde
Geist
Seele
Körper
wollen
fühlen
denken
empfinden

1. Die erste Stufe sind die Gebärden: schreien, lachen, weinen, gähnen. Das Gähnen, als die Öffnung des ganzen Organismus, woraus auch der Seufzer der Erleichterung entsteht, hat der Mensch mit den Tieren gemeinsam. Schreien, lachen und weinen hat er für sich allein. Der Schrei ist die Äußerung des Selbstes; es kündet: Ich bin da.

Das Lachen, gleichsam als Wiederholung des ersten Atemzuges, des Ausatmens, führt in die Heiterkeit.

Das Weinen, dem Einatmen verwandt, führt in die Trauer. Die Stimme erlebt sich als Name. Mit dem Namen wird das Kind angesprochen, er ist fortan sein Ich, seine Identität. In der Neuzeit ist es der Vorname, während der Familienname die Eingliederung in die Generationenfolge verdeutlicht.

Die Gebärde sieht der andere, sie ist kommunikativ. So ist die Grundlage des Sprechens das Äußern der Empfindungen. Gesichtsausdruck und Gebärde lassen die Eltern spüren, wie sich das Ich des Kindes regt. Doch dieses Ich hat bereits eine bestimmte Veranlagung, ein Selbst, das teils auf das Erbe der Eltern zurückzuführen ist, teils auf die Geschichte der früheren Inkarnationen. Der Mensch kommt nicht als tabula rasa auf die Welt, wie es der Rationalismus behauptete.

2. Das Empfinden ist wach; der Name wird vom Kind als Laut oder Zeichen vernommen; es weiß, dass es gemeint ist. Mit der zweiten Stufe beginnt die Erkundung des akustischen Milieus. Wie der Fisch im Wasser, ist der Mensch in der Luft, im Schall zu Hause. Das Kind hört, wie die Eltern Laute von sich geben, an die sich bestimmte Verhaltensweisen anschließen, und will diese Laute erkunden. So beginnt es mit dem Brabbeln; es spielt mit den Lauten, findet immer neue Variationen, wobei diese zum Teil von seiner Umwelt bedingt sind; ein Kind, das nie Umlaute vernahm wie in England, wird es später schwer haben diese zu artikulieren.

Die Laute haben zwei Ursprünge: Vokale und Konsonanten, Selbstlaute und Mitlaute. Alle Selbstlaute entstammen Schwerpunkten, die sich aus der körperlichen Resonanzfähigkeit ergeben, wie Helmholtz nachgewiesen hat:

i
e
a
o
u
erklingt im Kopf
im Nacken
im Herzen
im Nabel
im Unterbauch

Zwischen diesen fünf Selbstlauten, die Resonanzträger sind, also eine Ordnung schaffen, gibt es unzählige Zwischenlaute wie die Umlaute ö und ü, eine Vielfalt von Abstufungen. I und e gelten als hell, o und u als dunkel, a ist die Mitte, offen und lässt alle Obertöne mitklingen.

Die Selbstlaute zeigen die ichhafte Beziehung zu anderen. So heißt englisch ich I, ai gesprochen, russisch ja und italienisch io. Deutsch mit Ich, französisch mit je ist eine Verbindung mit einem Mitlaut gegeben, Ich und Selbst sind verquickt.

Das Singen der Selbstlaute in Bewegung bringt jeden Menschen in die Ichheiterkeit, weil er dadurch kommunikativ wird. Doch das Selbst äußert sich in den Mitlauten, denen die Bedeutung entstammt. Daher wurde auch in manchen Sprachen wie arabisch und hebräisch die Schrift auf die Mitlaute beschränkt, und die Vokalisierungen zeigen etymologische Verwandtschaft, was im Islam zu vielen Geheimsprachen führte. So konnten sich Anhänger unterdrückter esoterischer Schulen verständigen, ohne dass die Hüter der Orthodoxie es merkten, wenn etwa kadr, kidr und kudr austauschbar sind. Die Mitlaute entstammen dem Sprechwerkzeug. Das Gehör unterscheidet stimmlose, stimmhafte, aspirierte, dazu harte und weiche Mitlaute. Nach ihrer Stellung im Sprechwerkzeug haben sie eine bestimmte Bedeutung, die aber unterschwellig bleibt. Das Sprechwerkzeug ist neunfältig gegliedert; so ergeben sich als akustisches Milieu vierundfünfzig Mitlaute:


1
2
3
4
5
6
7
8
9

Kehle
Kehle-Gurgel
Gurgel
Gurgel-Zunge
Gaumen
Zunge-Zähne
Zähne
Zähne-Lippen
Lippen
stimmlos
Schrei
ch
k
r
tl
d
ss
v
p
stimmhaft
Ton
ng
?
j
l
n
s
w
m
aspiriert
Hauch
ch
g
j
sch
th
hs
f
b
(hart oder weich)

In jedem Landstrich der Erde werden andere Laute bevorzugt oder ausgelassen. Doch der Mensch könnte jede Sprache lernen. Versuche, eine numerologische Ordnung der Laute durchzuführen, sind gefährlich, da sie eine falsche Verschmelzung von Zahlenwelt und Lautwelt schaffen und damit eine falsche Esoterik.

Das Brabbeln wird vom Kritzelalter begleitet. Wenn man in einer Lautsprache fixiert ist, kann das Denken durch Erlernen anderer Lautformen erweitert werden. Hindert man ein Kind daran die Lautwelt voll auszukosten, dann leidet die Intelligenz, die Assoziations­fähigkeit, weil sich auf diesem Lautschatz im Unterschied zum Wortschatz später das Gedächtnis aufbauen wird.

Jeder ist imstande, alle vierundfünfzig Schattierungen zu unterscheiden, vielleicht noch mehr, die aus Verbindungen entstehen. Das Brabbeln ist die Wahrnehmung des bedeutungslosen Chaos, woraus der sinnvolle Kosmos entstehen könnte. So ist das Denken einerseits aus den Lauten gespeist, andererseits aus der Beziehung zur Bedeutung, die in der dritten Stufe auftaucht.

Die dichterische Sprache verwendet die Laute wie der Maler die Farben oder der Musiker die Töne. Bei einer Seminarübung des Brabbelns lassen sich in Europa verschiedene Lautstile unterscheiden: der nordgermanische, der slavische, der türkische und der hebräische. Aber entscheidend beim Denken ist, dass es instrumental verwendet werden kann. Hier bereitet sich die wesentliche Unterscheidung von Sinn und Bedeutung vor. Ein Laut ist nach Saussure ein Bezeichnendes, ein signifiant; was er bezeichnet ist ein signifié. Das durch ein Wort Bezeichnete entstammt nicht den Lauten, sondern kommt entweder aus einer Erfahrung des Empfindens oder einem Wunsch und Trieb des Fühlens.

3. In der dritten Sprachstufe erscheint die Lateralisation. Das Kind entscheidet sich Rechtshänder oder Linkshänder zu werden. Die Voraussetzung der Lateralisation liegt darin, dass Stimmwerkzeug und Ohr, rechts und links verschieden lang verknüpft sind, woraus sich eine Verzögerung zwischen beiden Ohren um eine Zehntel Sekunde ergibt.

Die Doppellaute — Mama, Papa, Miammiam, Kaka, Pipi — bedeuten den Beginn des Fühlens. Das Kind versucht nicht nur das akustische Milieu zu artikulieren, sondern mittels der gefundenen Laute seine Wünsche und Motive anderen, vor allem der Mutter verständlich zu machen.

Diese Verständigung ist keine Klärung, sondern folgt den Wünschen und der Sehnsucht nach gefühlsmäßiger Kommunion. Ihre Sprache ist der Dialekt; oft versuchen Kinder auch in der Gruppe eine eigene Sprache zu entwickeln, die Zugehörigkeit ausdrückt und die niemand fremder verstehen soll.

Der Schritt vom Brabbeln zur Lateralisation ist nicht leicht. Er verlangt das Überschreiten einer Schwelle, die von der indischen Tradition als Vishnugranthi, als Knoten des Vishnu bezeichnet wurde. Das erhaltende göttliche Prinzip, Vishnu — im Unterschied zum kreativen und zerstörenden, Brahma und Shiva — ist Träger der inneren Signale, die den Mangel eines Organismus aufzeigen. Der Mensch teilt die vier großen Triebe, Nahrung, Sicherung, Aggression und Reproduktion mit den Tieren. Diese gilt es ursächlich in ihrer Reinheit zu erkennen. Das Fühlen ist sprachlich nicht nur der Ort des Wünschens, sondern auch des Meinens, was man sich selbst zurechnet. Mit Beginn der Sozialisierung wurde es in vielen Kulturen unterdrückt. Erst die Psychologie der Gegenwart begann zu begreifen, dass die Triebe die Grundlage späterer Kreativität sind.

Fühlen beruht auf dem kosmischen Stoffwechsel, dem Fressen und Gefressenwerden. Es schließt den Tod ein. Daher hat es auch die Vorstellung der Schuld, die positiv von den Indianern formuliert wurde: ich kann andere Lebewesen nur dann mit gutem Gewissen verzehren, wenn ich auch selbst anderen zur Nahrung im übertragenen Sinn diene, wenn ich für sie nützlich bin.

Die Logik des Fühlens ist Auftauchen des Bedürfnisses, Befriedigung und Versinken des Wunsches ins Unbewusste, woher es später wieder auftaucht. So kann man sich die Triebmelodien wie ein Rad aus vielen Drähten vorstellen, die sich nicht schließen, sondern wo der Schwerpunkt beim Ende eines Drahtes auf einen anderen übergeht.

Spiele und Reime, Reigen machen die Eigenmächtigkeit des Fühlens bewusst, denn es lässt sich auch stellvertretend einsetzen, wie der REM-Traum fähig ist das mentale Gleichgewicht durch die Vorstellung zu ergänzen, wenn es praktisch nicht gelingt. Das Fühlen ist der Traumwelt verschwistert; seine Triebe sind kein Haben, wie die falsche deutsche Formulierung nahelegt: nicht ich habe Hunger, sondern Hunger hat mich. Ich kann ihn entweder verneinen und bewusst fasten, ihn meinem Willen unterwerfen oder aber ihn befriedigen, wodurch ich für ein neues Motiv frei werde.

4. Der Mensch ist kein unbeschriebenes Blatt wie im Ideal der Aufklärung, sondern ein beschreibbares Triebbündel, eine Motivation, von der aus der Schritt in die Intentionen des Wollens geschieht. Doderer beschrieb diesen Schritt als Überschreiten der Dialektgrenze, als Durchbruch zur Aussage, die nicht mehr aus der Meinung kommt sondern für sich allein steht.

Betrachten wir die Sprache von den Bewusstseinsschichten aus, dann ist das Empfinden die Funktion des Wachens, das Fühlen die des Traumes, das Denken die der Vorstellung — Laut wird Bild und Bild wird Laut — und das Wollen, die Inhaltsleere des Schlafes in der Kraft der Aufmerksamkeit die Fähigkeit von Wahl, Entscheidung und Entschluss. Das Wollen beruht auf der Grammatik. Betrachten wir das linguistische Schema:

Schlaf
wollen
Grammatik

Wachen
empfinden
Hinweis
Traum
fühlen
Etymologie

Vorstellung
denken
Information

Der Hinweis wird aus Lauten oder Zeichen gebildet. In seinem Bereich lassen sich die Worte in jede andere Sprache übersetzen, wie etwa Bleistift, pencil, crayon. Die Etymologie ist dem entgegengesetzt und unbewusst. Man kann nicht gleichzeitig auf Hinweis und Wortwurzel achten, etwa dass crayon von Kreide, pencil von der Feder und Bleistift von Blei kommt. Die Information ist der Satzkreis, der richtig oder falsch gebildet sein kann, etwa: Das Buch liegt auf dem Tisch; der andere nimmt im Denken die Information analytisch auf und bildet die entsprechende Vorstellung. Doch ob die Vorstellung entscheidbar wird, also wahr oder falsch ist, bestimmt die Grammatik.

Traditionell wurde Grammatik in Europa als Teil der Sprache betrachtet, wie etwa auf deutsch die Unterscheidung von regelmäßigen und unregelmäßigen Zeitworten dazu gerechnet wird; philosophisch gehört sie zur Etymologie. Grammatik beruht nicht auf dem Wort sondern der Zahl. Ihre Grundlage ist die Vereinigung von Quantität und Qualität in den Wortarten durch die natürlichen Zahlen.

Arnold Keyserling
Das magische Rad Zentralasiens · 1993
Schlüssel der Urreligion
© 1998- Schule des Rades
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