Schule des Rades

Arnold Keyserling

Wassermannzeit

VI. Mystik

Esoterik - Exoterik

Der Mensch lebt im Wachen zwischen Tag und Nacht. Das Ende des Tages ist der Sonnenuntergang im Westen. Während des Traumes und des Tiefschlafs hat er keine Macht über sich, er wird sozusagen gelebt. Folgt er einem Mythos, dann weiß er nie, wohin dieser ihn führt, es sei denn, er betrachtet Vorbilder wie bei den griechischen Dramen. Meistens endeten diese in Katastrophen wie die Tragödien der Atriden. Lebt er im Einklang mit der magischen Religion, dann kann er nie wissen, ob die Schamanen nicht ihre Macht für eigene Ziele missbrauchen. Er hat also in beiden Fällen keine Entscheidungsmöglichkeit für sein eigenes Schicksal. Diese Macht muss nach mythischer Vorstellung im fernen Westen liegen, dem Land der Toten hinter dem Sonnenuntergang. Nur wenn diese Schwelle durchschritten wird, könnte das Bewusstsein seine Sehnsucht nach ewigem Leben erfüllen: der Westen ist das Tor zur Neuen Erde.

Der Nil verläuft in Ägypten von Süden nach Norden. Oberägypten war das Land der Jäger und Viehzüchter, Unterägypten im fruchtbaren Nildelta das Land der Ackerbauer. Beide wurden zu Beginn der ägyptischen Geschichte in der Mitte, in Memphis durch das Reich verbunden, wo der Pharao als Verkörperung des Arterhaltungstriebes der Gattung galt und der einzelne Bewohner sein Leben in Bezug auf ihn vollzog.
Das einzige, was vom Menschen auf der Erde übrig bleibt, ist seine Gestaltung in Stein, in der mineralischen Welt. Diese wird dann auf den Menschen bezogen und damit kosmisiert, wenn sie mathematisch gegliedert ist.
Betrachten wir das Rad. Die Bedeutung der Farben und Töne ist leicht einzusehen. Im Tonkreis bedeutet die Opposition der Töne, der Tritonintervall mit dem Zahlenwert W u r z e l - 1 die Temperierung des Quintenzirkels. Trigon, Große Terz, bedeutet empfinden, Quadrat, kleine Terz, bedeutet fühlen; große Sekund den Tonschritt als empfinden; Quinte, Quarte und Halbtonschritt, Halbsextil und Quincunx zeigen eine Denkbeziehung.

Diese Verhältnisse lassen sich musikalisch auf dem Divisionsfeld des Denkens ablesen. Um nun die Erde so harmonisch zu gestalten, dass der Mensch sich immer wieder auf seine Urstimmung, die Heiterkeit und Verständigkeit besinnen kann, muss der Raum entsprechend gegliedert sein.
Die Quinte hat als Intervall das Verhältnis 3/2 : 1. In der Multiplikationstafel zeigt also 3 × 2 = 6 den Raum, der das Denken anregt; etwa ein Raum mit sechs Säulen. 6/5 : 4 ist die kleine Terz, das Quadrat: daher kann ein Tempel mit dreißig Säulen eine Gefühlsvertiefung erzeugen. Die Pyramide mit ihrer vierfältigen Basis und den drei nach den Hauptrichtungen gerichteten Dreiecken war kein Grabmal, sondern Maß der Orientierung. Es hieß: solange die Pyramiden stehen, wird das ägyptische Wissen nicht verloren gehen.

Im exoterischen Lernen kommt zuerst die schulische Ausbildung, dann die Kompetenz im Beruf. Im esoterischen Wissen ist es umgekehrt; erst wenn etwas durchgeführt wurde, kann man es verstehen — oft sogar nur dann, wenn die verkörperte Struktur zerstört wurde.
Alle Heiligtümer in Ägypten, die nach den immer gleichen musikalischen Proportionen gebaut wurden, so dass man sie oft schwer archäologisch datieren kann, hatten eine spezifische Bedeutung. Medinet Habu war der Tempel der Götterachtheit vor der Schöpfung, mit vier Schlangengöttern und vier Froschgöttern in den Haupt- und Nebenrichtungen. In Karnak war die Dreieinigkeit verkörpert. Heliopolis barg die Götterneunheit der Planeten, Dendera die Götterzwölfheit des Tierkreises. Jeder Ort hatte seine besondere Bedeutung für den Pilger. Durch Teilnahme am Ritus der heiligen Stadt konnte der einzelne sich auf die nachtodliche Existenz vorbereiten.
Abydos war der Tempel des Osiris und das Tor zur Unterwelt. Dort befanden sich sieben Kapellen, die den Chakras entsprechen und musikalisch konzipiert sind; wenn man in ihnen singt, kommt jede Tonfolge harmonisch zu Gehör, wie auch im sogenannten Grab des Agamemnon in Mykene.
All diese Tempel und Heiligtümer waren die Grundlage eines Weges des Lernens im Einklang mit der Bedeutung des III. Hauses. Nur der Stiermensch kann den Tod überwinden, wenn er sich im Westen dem Jüngsten Gericht stellt.

Arnold Keyserling
Wassermannzeit · 1988
Visionen der Hoffnung
© 1998- Schule des Rades
HOMEDas RAD