Schule des Rades

Arnold Keyserling

Die neue Schule der Weisheit

Die vierte Schule der Weisheit

Darmstadt, 1920 bis 1933

Die Gründung dieser Schule war nicht beabsichtigt, sondern sie ergab sich einerseits aus äußeren Umständen, andererseits aus der Biographie meines Vaters. Sein Großvater, Alexander Keyserling, war einer der ersten Vertreter der Idee der natürlichen Evolution; Darwin zitierte ihn in seinem Werk als Anreger seines Denkens. Mein Vater studierte gleich ihm Geologie und Kristallographie. Aus diesem Ansatz erwuchs ihm die Vorstellung, dass die ganze Welt auf Zahlen und Rhythmen aufgebaut ist. Sie führte ihn durch sieben Stufen zu einem weiteren Schritt in der historischen Entwicklung der Schule der Weisheit. Wir wollen diese Stufen nun im einzelnen beschreiben.

  1. Die Grundlage der Welt sind Zahl und Harmonie, aus denen alles erwachst (Das Gefüge der Welt)
  2. Erkenntniskritik ist keine geistige Abstraktion, sondern muss als Teil der Biologie betrachtet werden. Die Teilhabe am Leben, die persönliche Existenz versteht sich eher als eine Welle im Meer denn als ein atomares Individuum (Prolegomena zur Naturphilosophie, Unsterblichkeit)
  3. Der Ansatz der abendländischen Philosophie ist zu klein, um zu einem adäquaten Verständnis der Rolle des Menschen im Kosmos zu führen. Als biologisches Wesen als Leitfossil unserer Epoche muss zu einer Bestimmung seiner Rolle die westliche Überlieferung durch andere Traditionen ergänzt werden.

Der kürzeste Weg zu sich selbst führt um die Welt herum: Dieser Ausspruch des Apostels Paulus wurde zum Motto des Reisetagebuch eines Philosophen, das seinen Autor weltberühmt machte. Es suchte zum ersten Mal fremde Kulturen nicht vom eurozentrischen Gesichtspunkt aus zu beurteilen sondern deren Weltverständnis zu erhellen.

  1. 1920 kam die Enteignung des Grundbesitzes und damit die Notwendigkeit, die philosophische Tätigkeit zum Angelpunkt der Existenz zu erheben. Eine Einladung des Großherzogs von Hessen brachte Hermann Keyserling die Möglichkeit, ein eigenes Institut zu schaffen. Nach vielen Überlegungen formulierte er die Ziele der neuen Schule der Weisheit: Es gelte den Sinn all dessen zu bestimmen, was dem Leben zu seinem Heil bisher Halt bot, doch durch vorläufige Kritik der Aufklärungsepoche zerstört wurde. Den Sinn der Metaphysik, der Religionen und Mythen, der Initiationen und Riten.

Die vierte Schule der Weisheit suchte nach dem Gesetz der Korrelation von Sinn und Ausdruck. Sinn ist der subjektive Weg, der allemal richtig, aber schwer zu erkennen ist; der Ausdruck ist gleichsam handwerklich zu meistern.

Das Ziel der Schule der Weisheit, bei der ersten Tagung von Rabindranath Tagore formuliert, sei der universale Mensch, dessen Koordinaten durch Weltüberlegenheit, Leben in Form des Wissens und Philosophie als Kunst umrissen sind.

Hermann Keyserling lehnte einen Ruf als ordentlicher Professor der Philosophie nach Wien ab, da Weisheit mit akademischer Wissenschaft nichts gemein habe. Sie ist notwendig oberhalb der Diskussionsebene, kann also nicht analytisch gelehrt werden. Echte Denkstile sind nicht wahr oder falsch, sondern persönliche Schöpfungen im gleichem Sinn wie Religionen, Dichtungen oder Bildwerk. Sie lassen sich nicht aus einer logischen Voraussetzung ableiten. Ihr Zusammenhang liegt im Stil im Sinne von Buffon: Le style c’est l’homme. Sie haben keine formulierte Mitte, sondern die Leere hält sie zusammen. Daher verstellt Diskussion den Weg zum wahren Verständnis als Mehrwerden. Man muss sich jedem echten Menschen ebenso vorurteilslos, ohne kritische Brille öffnen, wie einem Gestein, einem Baum oder einem Tier.

Viele Persönlichkeiten der 20er Jahre — Hans Driesch, C. G. Jung, Richard Wilhelm, Leo Frobenius, Heinrich Zimmer, Paul Dahlke, Paul Tillich, Leo Baeck, Berdjajew u. a. nahmen an den orchestrierten Tagungen in Darmstadt teil. Auch im öffentlichen Leben wirkte Hermann Keyserling richtunggebend mit seinen Büchern: Die Neuentstehende Welt, Deutschlands wahre politische Mission, Politik, Wirtschaft, Weisheit, Menschen als Sinnbilder u. v. a.

Wesentlich am Stil der Tagungen war, dass dem Zuhörer und Teilnehmer bei verschiedenster Einstellung ein gemeinsamer, geistiger Grund aufscheinen sollte. Jene Bewusstseinsstufe des künftigen Menschen der Weltzivilisation nach dem Ende aller Hegemonien und Imperien, wie wir es heute am Anbruch der Wassermannzeit erleben.

Doch seine Zeit war nicht reif zum Verständnis. Die kosmopolitische Öffnung der 20erjahre wich dem Nationalismus. An die Stelle der starren Kastenordnung der Vorkriegszeit traten mythische Gebilde wie Blut und Boden, Rasse und Volkstum. Mit Hitlers Machtergreifung war daher die öffentliche Wirksamkeit der Schule der Weisheit beendet.

  1. Dies führte zur fünften Etappe des Werkes mit den Büchern: Spektrum Europas, Amerika, set free und Südamerikanischen Meditationen. Völker, Sprachgemeinschaften und Nationen sind keine Substanzen als säkularisierte Nachfolger der mittelalterlichen Engelhierarchien. Sie bilden das Gestaltungsmaterial, die Matrix persönlicher Entwicklung. Wie auch Goethe sagte: Nur auf dem Weg lokaler Literatur kann Weltliteratur entstehen und diese allein ist Menschheitsbedeutsam.
  2. Tiefer als die nationalen und völkischen Probleme sind die seelischen die für viele seiner Zeitgenossen die letzte Wirklichkeit bedeuteten. Ihre vermeintlich unlösbare Spannung — die Produktivität des Unzulänglichen (Goethe) — ist die Voraussetzung jedes kreativen Weges. Nur eine gespannte Saite einer Violine kann Musik zum Erklingen bringen. Es gibt eine Ebene seelischer Existenz oberhalb der psychologischen Problematik, die in manchen alten Kulturen — wie in Indien und China ein echtes Lebensniveau geschaffen hat.

    Seelische Probleme sind nicht zu lösen, sie sind zu erledigen oder zu überwachsen. Dieses Anliegen wurde zum Gegenstand des Buch vom persönlichen Leben, der Betrachtungen der Stille und Besinnlichkeit und schließlich seiner Reise durch die Zeit, worin er sich mit anderen Zeitgenossen zu polarisieren suchte.

  3. Den Abschluss seines Werkes bildete Das Buch vom Ursprung. Der Mensch hat eine geistige und eine körperliche Wurzel, in unserer Formulierung Urlicht und Urkraft. Doch sein Leben vollzieht sich weder in der einen noch in der anderen, sondern dazwischen in einer Welt der Künstlichkeit im Zwischenreich. Es ist jene Welt, die seit den Sechzigerjahren von der Semiotik als die Ebene der kulturellen Einheiten, der Texte definiert wurde.

Nach dem Tode meines Vaters 1946 übernahm ich die Leitung der Schule der Weisheit und bemühte mich um die Erkenntnis der gemeinsamen Nenner der Kulturen und Wege. Ich hatte geglaubt, diese aus dem Werk entschlüsseln zu können. Doch mein Vater blieb gemäß seiner Anlage bei der ganzheitlichen Schau und ihrer Darstellung stehen. Mir ging es um einen weiteren Schritt: Die Kriterien, das Wissen hinter dem Wissen zu entschlüsseln, und so begann ich meine Forschung mit dem Versuch einer Richtigstellung der Begriffe im konfuzianischen Sinn, die mich über 40 Jahre in Anspruch nahm und mich schließlich zu einem neuen Ansatz führte.

Arnold Keyserling
Die neue Schule der Weisheit · 1991
Studienkreis KRITERION
© 1998- Schule des Rades
HOMEDas RAD