Schule des Rades

Arnold Keyserling

Vernünftige Hermetik

1. Dynamismus

Für die Hermetik, den Taoismus oder die Lehre der Aborigines ist der Weltengrund, das Göttliche nicht statisch, auch kein Herr, sondern eine Potentialität. Letzteres Wort bedeutet, dass etwas aktualisiert werden soll. Der stärkste Gegensatz hierzu ist das islamische Kismet: es steht geschrieben, das Schicksal ist von Gott prädestiniert.

Hermetik ist nach Liedtke europäischer Taoismus. In China ist die Wurzel von allem, das Tao oder das Göttliche, in Richard Wilhelms Übersetzung der Sinn, durch zwei Begriffe bestimmt: Wu Chi und Tai Chi, innere Leere und offenbarte Fülle. Innere Leere ist existentiell das Ziel der Meditation. Sobald ich die Leere erreiche, also die Abwesenheit aller Bewusstseinsinhalte, aller Assoziationen, dann nehme ich die Fülle, das Pleroma in seiner Ganzheit wahr.

  • Hierbei wird die Leere durch Yoga und Meditation erreicht,
  • die Fülle für bestimmte Zeitspannen durch rituelles Handeln vermittelt wie in den chinesischen Kriegskünsten und den astrologischen Raumzeitriten.

Gott ist im Werden. Poimandres, der Sprecher der hermetischen Asklepiosschriften, meint letztlich das Subjekt der Menschheit, den Menschen im All, den werdenden Gott, nicht den aristotelischen actus purus, Herr des Himmels und der Erde, den Ich bin der Ich bin. Wenn man ihn konkret bestimmen will, so ist der erfahrbare Begriff als Kraft CHI, das sich am Uranfang in die große Dualität von Yin und Yang teilt —

  • im Himmel von dunkel und licht,
  • auf der Erde weich und fest,
  • bei den Menschen Liebe und Gerechtigkeit.

Dies gilt auch für den Buddha, der in seiner letzten historischen Predigt vor dem Tod verkündete:

Nichts ist in den sichtbaren und unsichtbaren Welten außer einer einzigen Macht, die ohne Anfang und Ende ist und nur ihrem eigenen Gesetz untertan. Versucht nicht, ihre Unermeßlichkeit mit Worten zu fassen. Wer fragt, irrt schon, wer antwortet irrt ebenfalls. Erhofft euch keine Hilfe von den Göttern. Sie sind wie ihr dem Karma unterworfen, werden geboren und müssen sterben, um wiedergeboren zu werden. Sie können ihr eigenes Schicksal nicht wandeln. Erwartet alles nur von euch selbst. Vergesst nicht: jeder kann jene höhere Macht erlangen.
Arnold Keyserling
Vernünftige Hermetik · 1999
Studienkreis KRITERION
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HOMEDas RAD