Schule des Rades

Arnold Keyserling

Rückkehr des Selbstverständlichen

0. Dimension

  1. Klärung der Systemik

    Alle Subjekthaftigkeit entstammt dem Gewahrsein. Doch Voraussetzung des Gewahrseins ist das Gottesbewusstsein. Dieses Bewusstsein umschließt den ganzen Kreis. Es entsteht aus der Zweiheit von Kraft und Licht, Materie und sinnlicher Vorstellung. (Hier folge ich der Intuition Schopenhauers: Die Welt als Wille und Vorstellung, worin er auch die philosophische Notwendigkeit der vier Wurzeln des zureichenden Grundes beschrieb.) Doch eine genaue Bestimmung erreichen wir mathematisch durch Cusanus und Einstein; phänomenologisch durch die chinesische und existentiell durch die indische Erkenntnis.

    Die Einsteinsche Formel E = mc² zeigt, dass Masse und Energie letztlich identisch sind und auf einer Ureinheit beruhen, der plankschen Konstante h, dem Wirkungsquant. Jeder Ort im unendlichen All ist die Mitte; im Urknall ist keine Raum- und Zeitkomponente vorhanden. Diese haben erst von bestehenden Orten aus einen Sinn. Subjekthaftigkeit ist Zahlenhaftigkeit, denn nur diese ist verbindungsfähig. Das Wirkungsquant ist kein Energiepaket, sondern Teil möglicher Subjektwerdung. Diese Aussage ist vergleichbar mit der der hebräischen Kabbala: der Mensch im All hat sich in unzählige Wesenskerne gespalten, deren Weg es ist, zur großen Einheit zurückzufinden sowie anderen auf diesem Weg zu helfen.

    Das Erreichen dieses Gewahrseins ist im Yoga das Samadhi Erlebnis. Diese indische Lehre ist keine leere These, kein bloßer Glaube; ich selbst habe es existentiell durch Ramana Maharshi erfahren. In der chinesischen Philosophie ist es das Bild von Dunkel und Hell; aus dem Dunkel entspringt die Helle. Im indianischen Glauben ist es die Zweiheit von Wakhan und Skwan. Für die Chinesen ist Raum der rechte Winkel und Zeit der Kreis — Yin und Yang. Physikalisch ist heute erfassbar, dass die Erreichung eines Raumpunktes zur Befreiung unendlicher Energie führen muss. Im Christentum ist Gott das Wort als dauernde Schöpfung aus dem Nichts. Psychologisch ist der Zeitpunkt in der Gegenwart das Nichts zwischen Vergangenheit und Zukunft. Und mathematisch lässt sich beweisen, dass dieses Nichts als mögliche Qualität nur die neun natürlichen Zahlen in der Null als Ursprung aller Information und Invarianz enthält: die Lehre der Kabbala.

  2. Existentielle Erfahrung

    An die Stelle des Glaubens als Fürwahrhalten tritt in der Wassermannzeit das Bemühen um persönliches Erleben der Seinserfahrung. Ist der Weg nach außen kritisch, muss auch jener nach innen erweisbar sein. Gott ist also als Wurzel und Ziel des Daseins zu enthüllen, denn aus dieser Offenbarung entstammt aller möglicher Sinn des Lebens. Wie die Tafel der Entsprechungen zeigt, ist das Gewahrsein überbewusst, oberhalb des Wachens zwischen 32-64 Hz. Um die Offenbarung dieser Bewusstseinsstufe zu erreichen, muss man sich von einem Helfer auf eine Visionsreise führen lassen, die von einem Trommelschlagrhythmus zwischen 2 und 3 Hertz begleitet wird. Dadurch werden die Bewusstseinsassoziationen auf die Deltawellen des Tiefschlafs verlegt. Denn 1 Hertz bestimmt den Wechsel der Aufmerksamkeit zwischen Yin und Yang. Es ist der Wechsel im Sekundenrhythmus zwischen Beobachtung (physikalisch) und Erinnerung (mental), zwischen linker und rechter Großhirnhemisphäre; ist also das Seinserbe aus der nullten Dimension, das hegelsche Für-sich-sein, die Grundlage der Autopoiese.

    Als Vision erlebt dann mancher auf dieser Bewusstseinsstufe, wie aus dem Dunkel das Licht entsteht; ein anderer spürt den Ausbruch der Kraft; ein Dritter hat die Vision des Pleroma, des Paradieses. Ein Vierter fühlt unendliche Dankbarkeit, wie sie Maurice Bucke in Cosmic Consciousness und Abraham Maslow als peak experience beschrieb.

Arnold Keyserling
Rückkehr des Selbstverständlichen · 1984
Studienkreis KRITERION
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