Schule des Rades

Dago Vlasits

Wissenschaft vom Ursprung ist der Ursprung von Wissenschaft

Das kosmische Hologramm

Wie Empedokles nahm auch Anaxagoras von Klazomenai (499 - 428) eine Zweiheit von Kraft und Stoff an. Dabei ging er nicht von 4 Grundstoffen, sondern von unendlich vielen verschiedenen Ursubstanzen aus. Nicht erst aus der Kombination der Grundelemente, wie bei Empedokles, entstehen dann die weiteren Qualitäten und Einzeldinge, sondern alles, was es gibt, ist bereits in Form kleinster Teilchen vorhanden. So würde etwa unsere Nahrung schon Sehnen, Muskeln, Knochen, Fingernägel etc. in Gestalt dieser Teilchen beinhalten. Denn, meint Anaxagoras, wie könnte aus Nichthaar Haar und aus Nichtfleisch Fleisch werden! Wir wissen aber heute, dass Empedokles recht hatte, dass eben aus der Kombination verschiedener Elemente eine neue Qualität entstehen kann. Und vor ihm hatte schon Anaximenes die noch fundamentalere Idee, dass bereits die bloße Veränderung der Menge eines Elements qualitative Veränderungen mit sich bringen kann. Die Stofftheorie des Anaxagoras mutet äußerst bizarr an, und im ersten Augenblick scheint sie in keiner modernen Vorstellung irgendeine Entsprechung zu haben. Doch wir werden unseren Ahnen nicht gerecht, wenn wir ihnen nicht den gleichen Genius zusprechen, wie Vertretern unserer Spezies späterer Zeiten. Die begrifflich noch unbeholfene Bestimmung ihrer Gegenstände soll uns also nicht über die Richtigkeit und den ewigen Sinn hinwegtäuschen, welche sie erkannten und die noch in ihren großzügigen Entwürfen zu finden sind. Betrachten wir also Anaxagoras’ Stofftheorie etwas eingehender.

Von den Teilchen, den Spermata oder Homöomerien sind unendlich viele und unendlich viele Arten vorhanden. Alles ist bereits da, denn aus Nichts kann nichts entstehen. Während die orphisch und mythisch inspirierten Denker wie etwa Pythagoras oder Heraklit alles Neue aus einer Urpotenz entstehen lassen, welche für Denken ein unerkennbares, unbestimmtes Nichts ist, legt Anaxagoras alle möglichen Qualitäten ganz in den bereits aktual vorhandenen Stoff. Unerkennbar wie das Nichts ist auch der Stoff des Anaxagoras, zumindest im Uranfang. Da waren alle Samen so durchmischt, sodass in diesem Chaos nichts unterschieden werden konnte, es war auch keinerlei Farbe zu erkennen. Doch der Stoff des Anaxagoras scheint äußerst unstofflich, und bereits Aristoteles beklagt, Anaxagoras habe über Schwere und Leichtigkeit der Körper keinerlei Äußerung getan. Noch mehr wundern muss man sich, wenn man ein einzelnes Teilchen und seine Eigenschaften betrachtet.

Ein solches Sperma ist unendlich teilbar, und da alles in allem enthalten ist, sind in jedem Teil nicht nur unendlich viele Teile der gleichen Art, sondern auch alle anderen unendlich vielen Substanzen innewohnend. Der unendlichen Teilbarkeit der räumlichen Substanz hat nun bald Leukipp mit dem Atom ein Ende gesetzt. Wo stehen wir aber heute bezüglich der Teilbarkeit von Materie? Sie erscheint uns unteilbar und unendlich teilbar zugleich. Ein subatomares Partikel wie ein Elektron ist eine Grenze der Teilbarkeit, man kann keine halben Elektronen erzeugen. Schicken wir uns aber tatsächlich an, ein Elektron im physikalischen Experiment zu teilen, können wir uns mindestens genauso wundern wie bei der Teilung der Substanzen bei Anaxagoras. Bei der Beschießung von Materiepartikeln mit Materiepartikeln entstehen plötzlich unterschiedlichste andere Teilchen, die eigentlich in den ursprünglichen Partikeln nicht vorhanden sein können. Wo kommen diese Teilchen her? Das Ganze verhält sich ja so, als ob man beim Zerschlagen eines Tellers weitere Teller, Suppenschüsseln und vielleicht auch noch ein Kaffeeservice erhalten würde. Wir wissen natürlich, dass diese Teilchen aus der Energie stammen, welche für den Teilungs- bzw. Beschießungs­vorgang aufgewendet wurde. Dann sind sie aber eben in dieser Energie in irgendeiner Weise gegeben. Wenn die heutige Physik von virtueller Existenz der Teilchen spricht, will sie diese Teilchen genausowenig in einer transzendenten Potentialität ansiedeln wie Anaxagoras seine Spermata. Um ihnen aber eine physikalische Realität zu belassen, muss die moderne Teilchenphysik nicht auf eine logisch problematische Teilbarkeit des Stoffes zurückgreifen, sondern kann sich mit einem ausgefeilten und konsistenten Begriffsgebäude behelfen, welches auf dem Feldbegriff beruht. Der Feldbegriff war für Anaxagoras natürlich noch völlig undenkbar, heute haben wir aber keine Schwierigkeiten, uns in einem Raumpunkt unendlich viele ineinander verwobene Teilchenfelder aller Art zu denken, die energetisch aktiviert werden können und Teilchen zum Vorschein bringen. Auf Grund dieses sonderbaren Verhaltens der Materie bei ihrer Teilung wurde in den Sechzigerjahren eine Teilchentheorie entwickelt, die eine ernstzunehmende Alternative zum baukastenartigen Standardmodell bildet, die bootstrap-theory von Geoffrey Chew. Basierend auf der heisenbergschen S-Matrix-Theorie kommt er zu einer schlüssigen Beschreibung der Teilchenwelt, deren Grundsatz von Anaximander stammen könnte: Jedes Teilchen besteht aus allen Teilchen.

Die Idee, dass alles in allem enthalten ist, hat aber nicht nur auf der Ebene der Elementarteilchen eine moderne Theorie inspiriert. Von einigen Theoretikern wird ein Ansatz verfolgt, in welchem das gesamte Universum als ein gewaltiges Hologramm verstanden wird, eine Theorie, die besagt, dass in jedem Teil die Information des ganzen Universums steckt. Dabei ist natürlich weniger Anaxagoras, sondern vielmehr die Laserphotographie Pate gestanden. Dieses Verfahren ermöglicht die Fertigung von Bildern, bei denen ein Bruchstück des Bildes das ganze Bild, also die ganze Information enthält.

Selbstverständlich sind Bootstrap-Theorie und die Idee vom holographischen Universum durch andere Probleme, Fragestellungen und Erkenntnisse angeregt worden, als Anaxagoras’ Konzept des Alles in allem. Da er nur das Seiende für real hielt, wollte er das Werden der verschiedenen Dinge aus dem Nichts ausschließen und legte alle Qualitäten in die Materie. Diese Intention ist aus heutiger Sicht gar nicht genug zu würdigen, denn wir sind in der misslichen Lage, wo Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften, subjektiver Sinn und objektive Naturbeschreibung weit auseinanderklaffen. Erst in den letzten Jahrzehnten beginnt sich auf Grundlage des Chaosbegriffs ein Weltbild zu entwickeln, bei welchem Geist und Materie, schöpferische Information und materielles Substrat wieder eine Einheit bilden. Doch für die beklagte Spaltung ist auch Anaxagoras mitverantwortlich. Er legte zwar alle Qualitäten in das anfängliche Chaos der Spermata, war aber außerstande, in der Materie die Fähigkeit von Bewegung und unterscheidender Erkenntnis zu sehen und setzte dem Stoff den Geist als Besitzer dieses Vermögens gegenüber.

Dago Vlasits
Wissenschaft vom Ursprung ist der Ursprung von Wissenschaft · 1994
Studienkreis KRITERION
© 1998- Schule des Rades
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