Schule des Rades

Dago Vlasits

Das stumme Wissen

Wer versteht Information?

Unabhängig davon, welchen Aspekt unserer Wirklichkeit ich betrachte und welches Organisationsniveau oder materielles Substrat einem Gegenstand zugrunde liegt, unabhängig davon, ob es sich um den nächstliegenden Gegenstand auf dem Tisch, die Entstehung und Ausdehnung des Universums, den Werdegang einer Kultur, die Organisation eines Lebewesens, den Gitterbau eines Kristalls, die Rhythmen des Sonnensystems oder um die instabilen Grenzen einer biologischen Nische handelt, immer gibt sich mir das Betrachtete als mit räumlichen und zeitlichen Regelmäßigkeiten und mit räumlichen und zeitlichen Unregelmäßigkeiten ausgestattet.

In jeglichem Wahrnehmen und Denken sind Raum und Zeit immer schon wahrgenommen und mitgedacht. Kants Kritizismus folgend, müssen wir sie als die zwei elementaren, subjektiven Formen der Anschauung anerkennen, als Anschauungsweisen, innerhalb deren sich alles Empfinden und Denken von Dingen, Substanzen oder Objekten abspielt.

Ungeachtet dessen geht aber die Physik — die eben nicht philosophisch nach den subjektiven Bedingungen der Möglichkeit des Erkennens fragt — vom objektiven Sein der Dinge und Substanzen aus. Selbst Raum und Zeit sind ihr Substanz. Nicht erst der Äther des 19. Jahrhunderts, auch schon Newtons Raum, von ihm als Sensorium Dei bezeichnet, besitzt mehr oder weniger physische Substantialität. Doch in der modernen Physik erfuhren Raum und Zeit gleichsam eine Steigerung ihrer Konkretheit und Realität. Sie besitzen in der heutigen Physik nicht nur Substantialität als Bühne, auf welcher sich die objektive Materie zeigt und verhält, sondern Raum und Zeit wurden als die eigentliche Substanz erkannt, aus welcher die materiellen Objekte bestehen. So sind in der Physik Einsteins, bzw. in seiner Vision eines vereinheitlichten Feldes alle Objekte besondere Krümmungsformen der Raumzeit. Und in der Quantentheorie ist der leere Raum, das Vakuum der Ursprung der Materieteilchen. Die neueste Teilchentheorie, die Superstring-Theorie beruht völlig auf einem Verständnis der Geometrie von Raum und Zeit, einer neuentdeckten Geometrie in elf Dimensionen, welche verantwortlich ist für die Entstehung von Fermionen und Bosonen, den zwei Grundkategorien von Materie/Energie-Teilchen.

Raum und Zeit im tiefsten und umfassendsten Sinne sind Urgrund und Ursprung, das Kontinuierliche und Diskontinuierliche, das Weibliche und das Männliche. Sie sind das grenzenlose Kontinuum der Urenergie wie auch die begrenzte Einheit des Quantums. Mythische Bilder wie das indianische von Urmutter Wakhan, dem dunklen, weiblichen Urraum, welcher jeden Augenblick Urvater Skwan, die lichthafte, männliche Schöpfung in der Zeit gebiert, bzw. die dauernd miteinander in Vereinigung liegen, können wir heute als die grenzenlose Vakuumsenergie begreifen, aus welcher die endlichen Quantenwirkungen entstehen, wortspielerisch als Urmutter Vakuum und Urvater Quant.

Wakhan
W a k h a n
Skwan
S k w a n

Der Urraum, die weibliche Potentialität als Urmutter Wakhan ist unermeßlich, ohne Maße. Es ist der Raum aller Räume, ob wir uns metrische, topologische, fraktale, flache oder gekrümmte Räume vorstellen, alle sind sie von Wakhan umfasst. Keine bestimme Anzahl an Dimensionen, und keine bestimmte Größe der Ausdehnung kann Wakhan charakterisieren. Wakhan ist allumfassend, doch nicht als eine Ausdehnung, nicht bestimmbar als irgendeine Art von Lokalität, sondern eigentlich ist sie nur negativ annähernd zu begreifen, als Dunkel, Nichts, Leere oder Vakuum. Darin kann alles werden.

Hingegen ist Raum als Ausdehnung eigentlich Skwan, der Urvater, die lichthafte Schöpfung in der Zeit, die Linien des Lichts, die das Dunkel von Wakhan durchmessen. Dieser gelichtete Raum ist unser kosmischer Raum, unsere physische Raumzeit, in welchem Wirkungen maximal mit Lichtgeschwindigkeit ausgetauscht werden. Wenn der Anfang der Schöpfung der Beginn der Zeit selbst ist, das Nichts des Augenblicks, welcher relativistisch dem Übergang der Singularität in den Urknall, quantenmechanisch der spontanen Aktualisierung eines Quantums Wirkung entspricht, dann ist uns nach und in diesem ersten Schritt eine räumlich ausgedehnte Wirklichkeit gegeben, welcher Zahl und Maß ihre Form geben. In dieser Wirklichkeit finden wir uns wieder, in ihr müssen wir uns orientieren.

In welcher Weise ist nun der Begriff der Information, die in Bits gemessen wird, mit Raum und Zeit verknüpft? Informationstheoretisch könnte man Raum und Zeit einfach als die zwei elementare Weisen der Anordnung von Bits bezeichnen, bzw. als die zwei elementaren Weisen, wie Bitsequenzen gelesen werden. Damit ist dem Raum und der Zeit kein anderer Status zugewiesen, als in der philosophischen Kritik, denn man kann Anordnungsweise mit Anschauungsweise gleichsetzen.

Die Informationstheorie, ursprünglich eine Ingenieurswissenschaft, ist aber nicht Philosophie, sondern eine physikalische Theorie, oder zumindest etwas, was zwischen Natur- und Geisteswissenschaft angesiedelt ist. Den von ihr untersuchten Gegenstand, die Information, versteht sie nämlich nicht als ein Abstraktum, sondern letztlich als eine physische Substanz. Der Rohstoff Information ist ihr eine meßbare Quantität, deren Maßeinheit als 1 Bit bezeichnet wird. Bits zählt man zwar nicht wir Erbsen oder Atome, was und ob etwas zum Bit wird, welche Menge an Information in einer Erscheinung bzw. einem Ereignis steckt, ist immer vom Kontext des Informationsempfänger abhängig. So kann man sagen, dass unser Universum aus rund 10^80 Teilchen besteht, doch eine solche absolute Zahl für die Bits des Universums anzugeben ist unmöglich. Atome sind, Information geschieht — jeden Augenblick neu, an jedem Ort anders. Dennoch sind die aktuellen Bits in letzter Konsequenz physikalische Größen, Signale, die einen energetischen Impuls besitzen, eine Kraft, welche in ihrer Umgebung eine Auswirkung hat. Solcherart sind dann aber Zeichen oder Signale (aus einem oder mehreren Bits bestehend) nichts was seitens eines verstehenden Subjekts verstanden werden muss, sondern ihre physische Kraft allein bewirkt etwas in einem Informationsempfänger — eine Bewegung, ein Verhalten oder eine Neukonfiguration von wiederum anderen Informationseinheiten.

Auf Grundlage dieses Verständnisses von Information ist es möglich in­for­ma­tions­ver­ar­bei­ten­de Maschinen zu bauen, die scheinbar intelligenter Leistungen fähig sind, ohne dass in ihnen ein verstehendes Subjekt sitzt. Der gegenwärtige Streit über die Möglichkeit von künstlicher Intelligenz ist der Streit darüber, ob mit diesem Ansatz das Rätsel des Subjektseins und Bewusstseins — zumindest prinzipiell — gelöst ist oder eben nicht, und die streitenden Forscher lassen sich, grob vereinfacht, im wesentlichen zwei Lagern zuordnen. Auch wenn das materialistisch und funktionalistisch eingestellte Lager die Diskussion so nicht sehen mag — eigentlich stehen sich hier zwei Glaubenshaltungen gegenüber, die immer zwei Glaubenshaltungen bleiben werden, zwischen denen sich der Mensch entscheiden kann und muss. Während die Vertreter des einen Lagers meinen, in Übereinstimmung mit Kant, dass wir die Wirklichkeit des Subjekts nur durch den Glauben erreichen können, dieser Glaube aber praktisch notwendig und unverzichtbar ist, meinen die anderen auf das Subjekt verzichten zu können, ja dass es um der reinen Wahrheit willen notwendig auszuschließen ist, da es nur geglaubt wird und nicht begreifbar und wissbar ist.

Im informationstheoretischen Denken kann man schlüssig zu der Auffassung gelangen, dass Begriffe wie Subjekt oder Bewusstsein in nichts eine Grundlage haben, daher als künstliche, vom Menschen erdachte Substanzen oder als Epiphänomene der Materie durchschaut werden müssen, da letztlich alle natürliche Wirklichkeit als das Wirken bestimmter Algorithmen zu verstehen ist, die durch verschiedene Rechner prozessiert werden. Das Universum wird von Vertretern dieser Auffassung also als eine gewaltige, wenn auch komplizierte und subtile, zu spontaner Selbstorganisation fähige Rechenmaschine verstanden, in welcher manche Untereinheiten bzw. Informationskomplexe wie selbständige Automaten agieren. Diese sind ausgestattet mit einer relativen Autonomie und unbewusst wirkenden Rechenkünsten die eine Art Selbstbespiegelung erlauben, durch welche der Automat sich als bewusstes Ich oder Selbst erkennt, wodurch ihm wiederum Handlungs- und Funktionsweisen eröffnet sind, die einfachere Informationskomplexe wie etwa Steine nicht haben. Prinzipiell lässt sich jedoch gemäß dieser Auffassung jeder dieser Rechenautomaten nachbauen und mit unterschiedlichsten Algorithmen programmieren. Darüber hinaus gibt es keine anderen Substanzen oder Subjekte, weder menschlicher noch göttlicher Art.

Doch die Tatsache, dass wir auf informationstheoretischem Weg kein Subjekt oder Bewusstsein finden, kann man aber auch in einer an Leibniz erinnernden Weise deuten, der sinngemäß etwa meinte, dass selbst wenn wir in unserem Gehirn spazieren gehen könnten wie in einer Mühle und darin seine verschiedenen Funktionsweisen erkennen, wir dennoch nicht die grundlegende Substanz, nämlich das bewusst wahrnehmende Subjekt erfassen könnten. In dieser Sichtweise wird die Informationstheorie nicht als Erweis für die Nichtigkeit von Subjekt und Bewusstsein verstanden, sondern vielmehr als Erweis, dass der rein physikalische Ansatz, selbst wenn er bis zur Informationstheorie verfeinert ist, das Wesen der Wirklichkeit, vor allem der des Menschen, nicht erfassen kann.

Vertreter des funktionalistischen Ansatzes werden dem aber immer entgegenhalten können, dass hier eben von Anfang an die Existenz von etwas geglaubt, und eben nur geglaubt wird, welches Wissenschaft niemals bestätigen kann. Andererseits ist für das andere Lager selbst der eventuelle Bau von Superrechnern, die sich in nichts vom Menschen unterscheiden mögen, kein Beweis dafür, dass der Mensch nur eine Supermaschine ist. Denn mit der eventuellen Erzeugbarkeit von intelligenten Wesen würde sich höchstens eine zur altvertrauten, biologischen Weise der Erzeugung von intelligenten Wesen eine neue, noch nie dagewesene hinzugesellen. Was aber das tiefste Wesen des natürlich oder künstlich hergestellten Menschen ist, würde auch in einer solchen Zukunft eine brennende Frage bleiben, unabhängig davon, ob wir aus heutiger, beschränkter Sicht das auf neuen Wegen Erzeugte als andere Art der Geburt oder als Ausgeburt bewerten mögen.

Wenn man auch anerkennen muss, dass menschliche Subjekthaftigkeit und Bewusstsein evolutionär entstanden sind, schließt dies doch nicht die Überzeugung aus, dass dabei etwas aktualisiert wurde, was potentiell schon im Anfang bzw. schon in der primitivsten Materie angelegt ist. In solcher Weise von der nicht hintergehbaren Wirklichkeit des Subjekts ausgehend, erkennen wir im informationstheoretischen Ansatz somit einen anderen Wert. Ohne den kybernetischen Seitenweg frankensteinscher Spekulationen zu betreten, erachten wir diese Denkweise als Einstieg in eine objektive philosophische Sprache, die dem Menschen und dem Kosmos nichts von seiner Würde, seinem Sinn und seiner Liebe nehmen muss. Dazu bedarf es allerdings eines weiteren Schrittes. Durch diesen erkennt man, dass das informationstheoretische Denken im pythagoräischen Denken seine Vollendung hat, insbesondere in der Gestalt des Rades, welches das von A. Keyserling auf der Höhe des heutigen wissenschaftlichen Zeitgeistes neu artikulierte pythagoräische Wissen ist. Dadurch gelangen wir zu einem informationstheoretischen Denken, dem der Kosmos nicht bloß ein Summen und Flirren unzähliger Algorithmen ist, sondern Stimme und Gesicht des göttlichen Subjekts.

Was bedeutet also der Schritt zum Raddenken, wenn es eine Fortsetzung des informationstheoretischen Denkens sein soll? Formal bedeutet es eine Erweiterung des Informationsbegriffs, indem bei der Information nicht nur ein syntaktischer, semantischer und pragmatischer Aspekt unterschieden wird, wie in der wissenschaftlichen Informationstheorie, sondern auch ein Aspekt, den wir als den divinatorischen bezeichnen und als die eigentliche Quelle des Sinnes einer Information verstehen wollen. Dieser divinatorischer Aspekt einer Information, also ihr Sinn, ist nicht vom jeweiligen semantischen Kontext abhängig, sondern vom Kontext, den die Strukturen von Raum und Zeit selbst konstellieren. Diese leeren Strukturen von Raum und Zeit, die der Zahl entspringen, und im Rad flächig dargestellt sind, sind die Generatoren des einen Sinnes und der vielen Bedeutungen, die Information haben kann.

Das Rad ist also kein künstlich konstruiertes Ordnungssystem, um Information zu schubladisieren, sondern der Gliederbau unserer Vernunft. Es ist unser eigentliches Organ der Konzeption von Information, auf dessen Basis das Wesen Mensch alle den Organismus affizierende Informationen verarbeitet, die dann zu Wahrnehmung, Erkenntnis, Beweggrund und/oder ausgeführte Handlung werden. Bedient man sich einer informationstechnologischen bzw. linguistischen Metapher, so ist das Rad der semiotische Zeichenschatz für die Software als auch für die Hardware des Gehirns und dessen weitere körperliche Peripherie. Bezeichnet man das Rad als ein Wissen, so ist es das (implizite) Wissen hinter dem (expliziten) Wissen, das immer schon vorausgesetzte und wirkende Wissen, durch welches dem Menschen Selbstsein, Erkenntnis und Kosmos wird.

Das Rad, das implizite Wissen, ist als ein expliziter, erlernbarer Wissensgegenstand darzustellen und zu entwickeln. Dem wollen wir uns hier aber nicht mit der notwendigen Ausführlichkeit widmen, sondern verweisen auf das Werk von A. Keyserling. Wir wollen hier vielmehr einige grundlegende informationstheoretische Begriffe und Vorstellungen untersuchen, um entlang dieser an den Punkt zu gelangen, wo sich das Rad als Vollendung eines informationstheoretischen Denkens erweist, welches der philosophischen und spirituellen Dimension des Menschen gerecht werden möchte.

Dago Vlasits
Das stumme Wissen · 1998
Studienkreis KRITERION
© 1998- Schule des Rades
HOMEDas RAD