Schule des Rades

Dago Vlasits

Vom Sinn der Zahl - Teil II

Nicht-Linearität, Rückkopplung und Sensitivität gegenüber den Anfangswerten

Das ganze Geheimnis des Chaos, die Unvorhersehbarkeit aller realen Prozesse, wie auch die komplexe Formenvielfalt liegt einerseits in den unergründlichen Anfangswerten, andererseits in der rekursiven Behandlung der Formeln. Mit Rekursion, Rückkopplung oder Iteration ist der Vorgang gemeint, dass man das Ergebnis der Formel wieder als neuen Anfangswert in die Formel einspeist, und mit dem gewonnenen Ergebnis wiederum so verfährt, ad infinitum. Solche Reihen in Bilder übersetzt ergeben jene Formen, die den wirklichen Formen in verblüffender Weise ähnlich sehen. Nach Benoît Mandelbrot werden sie als Fraktale bezeichnet, als Beschreibung zeitlicher Prozesse nennt man sie seltsame Attraktoren. Man hat hier also einerseits das mathematische Bildungsgesetz für die uns umgebenden Formen und Prozesse gefunden, gleichzeitig aber auch die Erkenntnis, dass trotz dieser Gesetzmäßigkeit alles Reale einzigartig, unwiederholbar und unvoraussehbar ist. Dieses singuläre Moment liegt in der Unergründbarkeit der Anfangswerte.

Die Anfangswerte eines realen Systems sind für den Menschen niemals meßbar und erkennbar. So hat etwa Edward Lorenz die Formel gefunden, welche das irdische Wetter abbildet, was als der erste seltsame Attraktor zu Berühmtheit gelangte. Misst man aber alle relevanten Werte eines Tages, wie Luftdruck, Temperatur etc., und gibt diese in die Formel ein, so wird der Computer das tatsächliche Wetter der nächsten Tage simulieren, doch im weiteren Verlauf ein vom wirklichen Wetter völlig abweichendes Muster erzeugen. Denn bei aller Meßgenauigkeit — die gemessenen Werte, welche nachträglich im Computer wirksam sind, sind nicht identisch mit den Werten, welche die reale Situation generiert haben. Es sind aber diese kleinen Abweichungen, welche die großen Unterschiede erzeugen. Kleine Ursachen können große Wirkungen haben, der Flügelschlag eines Schmetterlings kann einen Tornado auslösen. Eine solche kleine Abweichung oder kleine Ursache ist etwa die fünfte Kommastelle eines Anfangswertes, die nicht gemessen wurde. Da aber scheinbar nicht nur die Chaosmathematik, sondern auch die Natur rekursiv verfährt, kann sich dieser kleine Fehler nach mehreren Iterationen zu einer gewaltigen Abweichung auswachsen.

Nichts lässt sich beliebig, also unendlich genau messen. Was wir bei Messungen gewinnen, sind immer gerundete Werte, also Zahlen mit endlich vielen Dezimalstellen, (somit also rationale Zahlen). In der Regel arbeitet die Wissenschaft mit Meßwerten, deren Anzahl von Kommastellen an den Fingern beider Hände abzählbar ist. Es ist aber nicht auszuschließen, dass die realen, die Wirklichkeit bestimmenden Werte (die variablen Größen als auch die Konstanten) eigentlich irrationale Zahlen sind, Zahlen mit unendlich vielen Kommastellen. Ob dem so ist, lässt sich niemals ermessen, mit unendlichen Werten kann nicht Wissenschaft getrieben werden. Wie sollte man auch jemals eine unendlich lange Zahl aufschreiben? Und ob man überhaupt sinnvollerweise von einer realen Existenz der unendlich vielen Kommastellen einer irrationalen Zahl sprechen darf, existiert in der Mathematik als unentscheidbarer Streit. Dass aber ferne Kommastellen wegen der rekursiven Prozesshaftigkeit der natürlichen Welt große und ungeahnte Wirkungen zeitigen können, ist durch die Chaostheorie gesichert. Was jedoch für die heutige Chaostheorie eigentlich das Füllhorn der Komplexität und Überraschung ist, die kleinen, unerfassbaren Größen in den Anfangswerten, behandelten die klassischen Physiker als Meßungenauigkeiten, als sogenannte Schmutzeffekte, welche in den durchgeführten Simulationen der Natur scheinbar vernachlässigbare Wirkungen haben. Doch die Natur folgt nicht ihrer Mathematik, sondern der Mathematik der Chaostheorie, wie wir heute sehen. Dass die klassische Physik trotzdem so erfolgreich war, und auch den zukünftigen Verlauf bestimmter Systeme prognostizieren konnte, liegt daran, dass sie nur eine bestimmte Klasse von Phänomenen untersuchte. Es handelte sich um Systeme, die durch sogenannte lineare Gleichungen erfassbar sind, wobei es sich aber bei diesen Systemen um die Ausnahmen in der Natur handelt. Diese Mathematik ist hinlänglich genau, um etwa die Koordinaten eines Planeten für die nähere Zukunft zu bestimmen oder eine Rakete wohlbehalten auf dessen Oberfläche landen zu lassen. Doch diese Mathematik ist außerstande, etwas über die Entstehung der Streifen eines Tigers, der Verästelung der Bronchien oder der Form eines Gesichtes auszusagen.

Die Chaosmathematik kann dies aber sehr wohl, es liegt an der Nicht-Linearität ihrer Gleichungen. Die newtonsche Dynamik und ihre Gleichungen sind linear, was die Möglichkeit der Zukunftsprognose in dieser Wissenschaft begründet. Kenne ich von einer abgeschossenen Kugel die räumliche Ausrichtung und ihren Impuls, kann ich sagen, wo sich die Kugel in tausend Jahren befinden wird. Dabei brauche ich nicht die Position der Kugel für jede Sekunde bestimmen, die Linearität der Gleichungen ermöglicht durch ein einfaches Rechenverfahren, dass ich sofort die ferne Zukunft erkennen kann. Doch dem wäre nur so, wenn das reale Geschehen linear organisiert wäre. Tatsächlich haben alle realen Systeme einen chaotischen, nicht-linearen Zeitverlauf, die lineare newtonsche Dynamik ist eine Abstraktion bzw. ein kurzfristiger Sonderfall. Auch für unser Sonnensystem gilt sie nur annäherungsweise und für nicht allzulange Zeitspannen, denn auf lange Sicht erweisen sich auch die Planetenbahnen als chaotisch. Und der Kurs einer Rakete ist nicht mit einer einmaligen Berechnung festgelegt, sondern muss während des Fluges dauernd korrigiert werden.

Dago Vlasits
Vom Sinn der Zahl - Teil II · 1995
Studienkreis KRITERION
© 1998- Schule des Rades
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