Schule des Rades

Hermann Keyserling

Amerika · Der Aufgang einer neuen Welt

Die Vorherrschaft der Frau

Prohibition

Betrachten wir nunmehr den Sinn und den besonderen Tatbestand der Sonderstellung der Frau im amerikanischen Leben ein wenig genauer, und zwar auf dem Hintergrund des wesentlichen Korrelationsverhältnisses der Geschlechter, weshalb jeder abnorme Bedeutungszuwachs des einen Pols unvermeidlich die Schwächung des anderen nach sich zieht. Jeder solche Bedeutungszuwachs ist natürlich in erster Linie Folge äußerer Ursachen. Als Allgemeinerscheinung war alle patriarchalische Unterordnung der Frau Folge gewaltsamer Besiegung. Ebenso war oder wird jene gewaltsam abgeschafft — die Emanzipationsbewegung der Frauen war ein richtiger Krieg- und den Endsieg errangen sie auf genau die gleiche Weise, wie so viele Feldzüge gewonnen wurden, d. h. durch Ausnutzung der Uneinigkeit im feindlichen Lager: allüberall in der Welt sind die einzigen wirklichen Sieger im Weltkriege die Frauen. Ebenso hätte die Amerikanerin nie ihre heutige Vormachtstellung errungen, wären die Frauen drüben nicht ursprünglich in der Minderheit gewesen; hätte die patriarchalische und puritanische Tradition den Frauen nicht verhältnismäßig viel Muße gelassen und dadurch trotz aller Bedrückung in anderen Hinsichten die Entwicklung des Seins gegenüber dem Können gefördert; wären die natürlichen Folgen dieses Zustandes nicht während des Regnums eines der Frauenemanzipation günstigen Zeitgeistes zutage getreten, und wären nicht die meisten Lehrkräfte in den Vereinigten Staaten Frauen, was im Amerikaner einen so ungeheuerlich starken Mutterkomplex entwickelt, dass er zu einer Art Dauerinfantilismus führt. Alles dieses beweist jedoch nichts gegen das Vorhandensein innerer Ursachen für die weibliche Überlegenheit; jede Autokratie ging aus ursprünglicher Gleichheit hervor und das Innerste wird überall im Leben durch äußere Umstände zur Offenbarung veranlasst. Der Oberflächliche könnte meinen, dass das Patriarchat oder Matriarchat in vielen Fällen zum mindesten ökonomischen Gründen seine Entstehung dankte; so wuchs in primitiven Gemeinschaften das Prestige der Frau mit der Bedeutung ihres Anteils an der Erhaltung des Hauswesens, und zwar bestand ihr Anteil in landwirtschaftlicher Arbeit und Viehzucht gegenüber der Jagd. Aber diese Auffassung wird durch das eine Bedenken erledigt, dass Reichtum in jenen frühen Zeiten magische Macht bedeutete, wie übrigens jede andere Art von Macht; hat ein afrikanischer Primitiver auf der Jagd Erfolg, so führt er das noch heute in erster Linie nicht auf sein Geschick im Schießen zurück, sondern auf die Sorgfalt, mit der er vor seinem Auszug magische Riten ausführte. Da nun die heutige amerikanische Seele primitiv ist, so liegt der Sinn vieler Ansichten und Handlungen, welche völlig matter-of-fact scheinen, in Wahrheit im Bereich des Magischen. Nicht nur der Glaube der Christian Science — auch der Glaube an Reichtum gehört hierher. In der Tat, nur wenn Reichtum magische Macht bedeutet, kann er einen Subalternen überlegen machen. Genau so primitiv ist das Verhältnis des Amerikaners zur Frau.

Entwerfen wir nun schnell einen Sinneshintergrund, von dem sich die Tatsachen mit äußerster Deutlichkeit abheben.

Amerikanische Schwurgerichte entscheiden fast immer zugunsten der Frau. Demgegenüber glaubt nicht nur keine europäische Frau, sondern sogar kein europäischer Mann wirklich, dass was einer Frau passierte, nicht letztlich ihre Absicht war. In der Alten Welt wird die Frau instinktiv als die Verführerin beurteilt, wie denn Eva Adam den Apfel gab und nicht umgekehrt. Gleichsinnig begünstigt die öffentliche Meinung in Europa das Schweiferische des Mannes, das unter anderem in seiner Abneigung gegen das Heiraten zum Ausdruck kommt. Das bedeutet, dass in Europa der männliche Standpunkt im Unbewussten sowohl des Mannes wie der Frau vorherrscht. Von den Vereinigten Staaten gilt das Gegenteil. Schlechterdings überall herrscht der weibliche Standpunkt vor; weiblicher Einfluss steht hinter den meisten Betätigungen des Mannes. Im Kapitel Sozialismus sahen wir, dass der Altruismus die typische Einstellung der Frau ist: aus einem Volk äußerst viriler Pioniere wäre nicht eins von Anbetern des Social Service-Ideals geworden, prädominierte die weibliche Auffassung nicht um Unbewussten des Manns. Der Sinn für Besitz ist eine primär weibliche Eigenschaft; sie besitzt, erhält, vererbt; deshalb eignete in vielen primitiven Gemeinwesen der Frau allein das Erbrecht. Der ursprüngliche Trieb des Mannes gilt der Eroberung, nicht aber dem Besitz. Dies beweisen nicht nur das feudale und bolschewistische System — beides Erfindungen rein patriarchalischer Völker-, sondern auch alle amerikanischen Finanzmagnaten: ihnen allen lag und liegt es in Wahrheit nur am Erwerb des Geldes, nicht an seinem Besitz. Dennoch ist es heute gerade die amerikanische Nation, die den Besitz am höchsten wertet, so sehr, dass ihr der Schutz ihrer Kapitalanlagen mit keinem Blutvergießen und keiner Versklavung anderer zu teuer erkauft erscheint. Genau so empfindet jede Mutter, wenn die Interessen ihrer Familie auf dem Spiel stehen. Gleiches gilt von einer anderen Seite des amerikanischen Privatismus: die Interessen der Frau waren von je privater Natur im persönlichen Sinn, im Gegensatz zu den öffentlichen Interessen des Mannes; ist eine ganze Nation privatistisch gesinnt, hält sie wenig von Gesetz und Staatsgewalt, so beweist dies allein schon die psychologische Vorherrschaft der Frau. Nicht anders steht es mit dem, was den lebendigen Halt der Monroedoktrin bildet: vom Standpunkt inneren Erlebens lebt die Frau immerdar in einem geschlossenen Kreis; ihre natürliche Welt ist eine isolierte; jenseits dieser lässt ihr Instinkt weit eher als der des Mannes Herzlosigkeit und grausame Rücksichtslosigkeit als berechtigt gelten. Ein weiterer Beweis für die psychologische Vorherrschaft der Frau ist der Kult des Kindes. Gleiches beweisen auch, wenigstens bis zu einem gewissen Grad, die Ideale, deren Hauptwurzeln in der amerikanischen Primitivität und der Vorherrschaft des Tier-Ideales liegen: die Frau steht der Natur nahe; sie verkörpert den Erdgeist gegenüber dem Geistprinzip. Dementsprechend zieht sie die Routine dem Wechsel vor — ihre Freude am Modewechsel bedeutet nur eine ihren innersten Wunsch nach Stabilität kompensierende Oberflächenreaktion; Wiederholung ist ihr lieber als Einzigartigkeit, was allein schon das Prestige der Ideale der Normalität und des gleichen Denkens erklärt. Die Unzahl von Gesetzen und Verordnungen in Amerika sind ebenfalls weiblichen Ursprungs: die Frau verlangt nach Schutz; ihr Instinkt heischt festgelegte Regeln und Sitten und vor allem ein Minimum von Risiko. Gewiss besteht ein logischer Widerspruch zwischen dieser Tatsache und jener anderen, dass die Frau von Gesetz und objektivierter Ordnung wenig hält — doch das Leben ist nun einmal so. Ein besonders hübsches Beispiel der weiblichen Gesetzessucht. Im Süden der Vereinigten Staaten herrscht die Frau nicht so absolut vor wie im Norden. Des letzteren Töchter beklagen sich nun oft, dass die Männer im Süden unzuverlässig (not safe) sind; dass sie gern schöne Dinge sagen, die sie gar nicht so meinen; insbesondere sind sie entsetzt, weil es im Süden schwer ist, auf Bruch des Eheversprechens hin zu prozessieren: diese Beurteilung des Südens durch die Töchter des Nordens illustriert gar wundersam, wozu die ausschließliche Herrschaft weiblicher Einstellung in einem mechanisierten Zeitalter führen kann.

Dass die ganze neue Moral weiblichen Ursprungs ist, ist klar. Dem Mann liegt freilich mehr an Abwechslung im Geschlechtsleben als der Frau; insoweit bedeutet die neue Flappereinstellung nur eine Umkehrung der Pole. Andererseits aber hat die Frau nie auch nur das mindeste von Jungfernschaft gehalten. Um so mehr jedoch von Ehrbarkeit, Ansehen und gutem Ruf. Und die amerikanische Praxis der Scheidung und Wiederverheiratung, sobald sich eine neue Verliebtheit meldet, ist weiter nichts als ein neuer Ausdruck des weiblichen Wunsches, respectable zu sein um jeden Preis. Eine Ehe mag nur fünf Minuten dauern — aber geheiratet muss sein. Und wie steht es denn mit der Prohibition? In ihrer großen Zeit tranken die Inder und die Mohammedaner nicht, dies hatte aber evidente klimatische Ursachen, welche darin seitens der Religion eine spirituelle Deutung erfuhren. In Amerika fehlt jeder derartige Grund zur Abstinenz. Alles, was über das elektrisierende Klima dieses Kontinents gesagt wird, ist barer Unsinn: es ist nicht anregend, sondern nur aufreizend; daher denn der Amerikaner weniger vital ist als der Europäer, der Araber und der Inder. Lehnt er also geistige Getränke ab, so bedeutet das einfach, dass er ein niederes Leben höherem vorzieht. Wie jeder Organismus braucht der Mensch in jedem Falle Reizmittel. Da er ein wesentlich labiles Gleichgewicht verkörpert; da er sich von Augenblick zu Augenblick verwandelt und die Lebenskraft in ihm immer erneut angeregt werden muss, auf dass sie neuen Anforderungen gewachsen sei, so ist grundsätzlich nichts gegen geistige Getränke und sogar gegen Rauschgifte einzuwenden, solange ihre Wirkung förderlich ist. Es ist sogar nichts gegen sie einzuwenden, wenn sie nur in dem Sinne schädlich sind, dass sie den Organismus langsam beeinträchtigen; denn mit dem Tod endet das Leben ohnehin, und ein beschwingtes Leben ist immer besser als ein ödes. Nun ist der Mann der Träger der Prinzipien der Initiative und der Variation. Demzufolge braucht er desto mehr Reizmittel, je schöpferischer er ist. Darum wurde von Uranfang an der Wein als Geschenk der Götter gepriesen; in der Bibel gilt der dritte überlieferte Fluch dem ersten Prohibitionisten, Ham, der es wagte, Noah zu verhöhnen. Die Frau hingegen trank nie. Ihre Rolle liegt nicht in der Variation, sondern in der Stabilität und Wiederholung. Das einzige Reizmittel, dessen sie bedarf, ist der Mann. Darum kann sie von ihrem Standpunkt aus nicht einsehen, warum der Mann einer anderen bedürfen sollte als ihrer selbst. Gelangt die Frau zur Herrschaft, so ist es nur natürlich, dass sie für Abstinenz eintritt — um so natürlicher, als mit der Macht das Machtverlangen wächst; in einem vollkommenen Matriarchat gelangte die Frau unausbleiblich zur Überzeugung, die Männer hätten nichts anderes zu tun, als brav zu sein und sich anständig zu benehmen; und Männer sind offenbar desto gehorsamer, je weniger die Prinzipien der Variation und Initiative in ihnen vorherrschen, das ist, je weniger männlich sie sind. (Selbst vorherrschende Frauen sind unbedingt für physische Männlichkeit; allein der in dieser Hinsicht männlichste Mann kann als Geist Eunuch sein.)

Aber nach allem Ausgeführten sollte klar sein, dass die Einstellung des Prohibitionisten nur bei der Frau normal ist. Die amerikanischen Prohibitionsfanatiker unter den Männern sind denn auch zumeist in hohem Grad psychologisch feminin. Man vergleiche sie nur mit einem beliebigen Engländer: als ich nach meinem Besuch in den Vereinigten Staaten in England landete, da schien mir, als gehörten alle Engländer dem Geschlecht von Gott Bacchus an. Ich bin der Meinung, dass der Nordamerikaner jenes Schusses Sekt im Blut, den Bismarck für den Norddeutschen für notwendig hielt, weit mehr noch als jener bedarf, um sich von seiner besten Seite zu zeigen. Ist seine Konversation dermaßen armselig, erweist er sich auf allen Gebieten, die nicht sein Geschäft betreffen, als so über alle Maßen geistig passiv, so führt mich das zum Schluss, dass nichts ihm besser täte, als eine Gesetzgebung, die eine Lebensweise zur Norm erhöbe, wie sie der Franzose und Italiener führt. Ich weiß wohl, wie wenig Aussicht zur Zeit dafür besteht. Zuviel gutes Geld ist im Schmugglergeschäfte investiert. Von diesem profitieren zuviel Behörden in Form geheimer Abgaben. Die Weinkulturen tragen so viel mehr, seitdem Trinken nicht mehr erlaubt ist. Endlich bietet die Prohibition den geistigen Bedürfnissen der Amerikaner zuviel Anlass und Nahrung. Hier geht die Skala vom Gesprächsstoff über die Findigkeit bis zum religiösen Kult. Ich ward einmal in eine richtige Kapelle geführt, wo güldene Cocktailapparate die Stelle heiliger Gefäße einnahmen und nur Weinvorräte mit jener Andacht gezeigt wurden, die der Europäer und Asiate nur Heiligen Büchern zollt … Dennoch scheinen mir die Nachteile der Prohibition zu überwiegen. Sogar das Hauptargument der Prohibitionisten, dass Amerika mehr produziere, seitdem es trocken ist, hält nicht Stich. Der Mensch ist keine Produktionsmaschine. Nach allen vom Kulturmenschen anerkannten Maßstäben haben die Vereinigten Staaten mehr Grund, auf Walt Whitman und Edgar Allan Poe, welche beide moralisch eher fragwürdig waren, stolz zu sein, als auf alle Produzenten zusammengenommen, seit den Tagen der Pilgerväter bis hinauf zum Jahr des Heils, in dem ich schreibe.1

1 Die reizendste unbeabsichtigte Persiflage der Prohibition, die mir je vorgekommen ist, war ein Lied, das in Genf von kleinen, zur Jugendliga (Espoir) des Blauen Kreuzes gehörenden Mädchen von 5 bis 12 Jahren gesungen wurde. Zur Melodie Heil dir im Siegerkranz (welcher auch die Nationalhymne der Schweiz ist) sangen sie:
Je vois avec dégout
L’alcool qui rend Ion
Régner partout.
Marchez sans crainte
Contre l’absinthe,
A sa voix sainte
Debout, debout!
Hermann Keyserling
Amerika · Der Aufgang einer neuen Welt · 1930
Der Aufgang einer neuen Welt
© 1998- Schule des Rades
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