Schule des Rades

Hermann Keyserling

Betrachtungen der Stille und Besinnlichkeit

Leidenschaft und Tat

Michelangelo

Historische Datierungen stimmen selten wirklich. Bei den meisten handelt es sich um ähnlich künstliche Grenzziehungen, wie solche die anerkannten Zeitwenden darstellen; wir wissen nicht genau, wann Jesus geboren ward, sicher aber scheint, dass es nicht in dem Jahre war, mit dem unsere Zeitrechnung anhebt. Aber es gehört zu den Notwendigkeiten der Gedanken-Kartographie, feste Grenzen von Epoche zu Epoche zu ziehen; entsprechen sie keiner historischen Wirklichkeit, so sind sie doch zur Orientierung — pour fixer les idées, wie die französische Sprache das hier Gemeinte genauer ausdrückt — unerlässlich. Der erste Mensch, der einen Berg bestieg, um die Aussicht zu genießen, die sich von seinem Gipfel aus bot, soll Petrarca gewesen sein. So sei es denn. Sicher war er der erste Bergsteiger, von dem in der großen Öffentlichkeit gesprochen worden ist. Gleichsinnig nun habe ich das Recht, Michelangelo den ersten großen Tatmenschen unter künstlerisch Schaffenden zu heißen.

Ihm fehlte alles Beschauliche, Abwartende, in sich Lauschende, alle Freude am geruhsamen Feilen, schon gar alles Spielerische. Wie vom Teufel geritten erschien er seinen Zeitgenossen, wenn er frenetisch-rastlos, alles vergessend, was das Leben an Freuden bietet, sogar Gesundheit und Schlaf, dem göttlichen Thronfolger eines gestürzten Göttervaters gleich, welcher die Schöpfung dieses pietätlos als bloßes Material nutzt, gegen den Marmor wütete, darauf los haute, selten vollendete, immer wieder neu anfing und sogar persönlich in den Steinbrüchen mit Hand anlegte. Michelangelo war kein Arbeiter im Sinne aller Meister der Kunst, von denen beinahe jeder das Wort Buffons, le génie, ce n’est qu’une longue patience, obgleich es falsch ist, unterschrieben hätte. Er war von grenzenloser Ungeduld. Er konnte einfach nicht stillhalten. Es trieb ihn unaufhaltsam vorwärts, bis dass er schließlich starb. Soweit er Arbeiter war, war Michelangelo recht eigentlich Zwangsarbeiter. Das sind nun die meisten modernen Fanatiker der Arbeit auch. Aber gerade der Vergleich mit ihnen erweist den grundlegenden Unterschied zwischen schöpferischem und unschöpferischem Tätertum. Die modernen Arbeiter, die ich hier meine, schuften aus innerer Leere heraus, um diese zu füllen; sind sie nicht ununterbrochen beschäftigt, so fühlen sie sich nicht leben. Michelangelo nun schuf nicht nur, er schuftete rastlos aus überschwänglicher Lebensfülle. Darin glich er allen großen Tatmenschen der Geschichte, welche alle auch beinahe übermenschlich unermüdliche Arbeiter waren. Ihre Unermüdlichkeit glich der des Herzens, und sie kam aus dem Herzen. Von hier aus können wir aber den Schlusssatz des ersten Absatzes dahin umkehren, dass alle großen Tatmenschen, was immer ihr Betätigungsfeld war, künstlerisch Schaffende waren.

Das mit der Evokation der gewaltigen Gestalt Michelangelos sichtbar gemachte Problem, welches so oder anders jeden persönlich angeht, hat viele Aspekte. Ich gedenke hier nur einen zu behandeln, welcher ungefähr (nicht ganz) mit der althergebrachten Unterscheidung zwischen vita contemplativa und vita activa zusammenfällt. Die Arbeiter, auf deren Arbeitertum man berechtigterweise den Nachdruck legt, sind, richtig beurteilt, bloß Beschäftigte. Und die innere Notwendigkeit, ununterbrochen beschäftigt zu sein, beweist allemal Minderwertigkeit gegenüber dem, der an seinem Sein Genüge findet. Aber es gibt Menschen, deren Tätigkeit dasselbe bedeutet, wie dem Seher die Stille, in welcher ihn seine Gesichte heimsuchen. Sie und sie allein sind die eigentlichen Männer der Tat.

Auf die Bedeutungsgleichheit von Schau und Tat im Falle echten Seher- und echten Tätertums ist der Akzent zu legen, wenn man das Problem richtig stellen und dank dem lösen will. Auf allen Gebieten des geistbestimmten Lebens gelten die zwei Grundgesetze, dass Sinn sich auf Erden nur verwirklicht, indem er sich ausdrückt, und dass Sinn und Ausdruck sich genau entsprechen, in einem Korrelationsverhältnis zueinander stehen müssen, wenn die Verwirklichung Erfüllung bedeuten soll. Aller Ausdruck ist vom Sinne her beurteilt Bild, und jedes Bild bedeutet nicht nur eine Verkörperung, sondern eine Herausstellung des Sinnes; denn der Geist an sich west jenseits von Name und Form. Aber dem Schauenden kommen seine Bilder von selbst, und nur wenn er ganz stillhält, kommen sie ihm unverbildet. Diese seine Bilder sind ein anderes als die Einfälle, aus denen heraus jeder geistig lebt. Einfälle sind Anfänge, welche der Weiterführung durch Ausgestaltung und Verarbeitung bedürfen. Demgegenüber entsprechen die Gesichte des Schauenden der schon ausgearbeiteten Gestalt des Schaffenden. Eben darum muss der Schauende möglichst wenig tun; er muss sich rein hingebend verhalten. Tritt er in die Fußstapfen des Schaffenden, d. h. stellt er von sich aus heraus, dann ist sein Werk nicht Original, sondern Kopie; daher der schlechte Stil und die ungenaue Ausdrucksweise der meisten Mystiker und das letztlich Unzulängliche der Bilder von Visionären, wie William Blake und in unseren Tagen Nicholas Roerich. Ganz anders liegen die Dinge beim echten Mann der Tat. Dieser muss bewusst arbeitend herausstellen, um dessen innezuwerden, was er meint. Den Extremfall solcher Anlage verkörperte Michelangelo. Von ihm galt nicht einmal, wie von den meisten Schöpfern, dass stille Betrachtung sie befruchtete und stärkte, wie das Gebet den Cromwell und regelmäßiges Meditieren Rabindranath Tagore. Darum darf Michelangelo, zumal er Bild-Hauer war, als Prototyp des Täters überhaupt gelten. Mehr als das Schaffen irgendeines Menschen glich das seinige demjenigen eines jungen Gottes, als welcher der Weltschöpfer, da er das Siebentagewerk vollbrachte, offenbar vorgestellt werden muss: kam die Schöpfung ungefähr so zustande, wie dies die Bibel überliefert, dann schuf Gott unbedacht, ohne Planung noch Vorarbeit, in mehr als Blitzesgeschwindigkeit blind darauf los, und zu seiner eigenen Überraschung war dann die Schöpfung nicht nur überhaupt so, wie sie sich später den Geschöpfen darstellte, sondern auch, von des Schöpfers unbewusster Absicht her geurteilt, sehr gut.

Glich damit Michelangelo einerseits dem Schöpfer-Gott, so glich er andererseits Napoleon und Bismarck. Von hier aus sieht man ohne weiteres, wie sich der Künstler im engeren Sinne zum Seher einerseits, zum Täter im engeren Sinne andererseits verhält. Dem Seher gleicht er in seiner Einstellung des Empfangenwollens und der Empfänglichkeit. Aber was er da empfängt, sind keine fertigen Bilder, sondern Keime, die er persönlich ausgestalten muss, und zwar liegt dabei auf dem letzteren so sehr aller Nachdruck, dass wenige große Künstler je vor sich gesehen haben, was sie darstellen wollten, bevor sie es dargestellt hatten; gleichsinnig wissen künstlerisch veranlagte Philosophen selten, was genau sie denken, bevor sie es zu Papier gebracht haben. Insofern gehört der schaffende Künstler dem Typus des Aktiven und nicht des Kontemplativen an. Ja, er ist sogar der Prototyp des Täters, insofern bei ihm die Einbildungskraft vorherrscht, und eben darum leitete ich diese Betrachtung mit einer Evokation der Gestalt Michelangelos ein. Alle Phantasie trägt, in Goethes Worten, eine Welt zur Welt; sie nimmt nicht auf, was ist, sie überschichtet es mit neuen Gestaltungen. Demgegenüber haben reine Seher wenig Phantasie und hat die Glaubwürdigkeit dessen, was solche von ihren Erlebnissen berichten, ihren Gradmesser geradezu an ihrem Mangel an Einbildungskraft. So habe ich in den Jahren, da ich mich mit parapsychologischen Phänomenen beschäftigte, verstandesmäßig unbegabten Gewährsmännern, sofern sie echt schienen, nicht zerdachte und nicht erklärte Schilderungen als Wiedergaben von wirklich Erlebtem meist geglaubt, was immer sie bedeuten mochten, während ich den Offenbarungen Kluger und Phantasievoller und gar für Verstandeskonstruktion Begabter grundsätzlich skeptisch gegenüberstand. Die Phantasie des Dichters und Bildners scheint nun sehr viel größer als die des Staatsmanns, denn zweifellos trägt jener mehr neue Welten zur Welt als dieser. Doch der Schein trügt: der Dichter gestaltet mittels des flüssigen und verwandelbaren Materials der Bilderwelt der Psyche, der Staatsmann hingegen mittels eigenwilliger Menschen und festgefahrener, zunächst nicht zu ändernder Situationen. Um der Welt des realen historischen Geschehens die eigene Vision aufzuprägen, bedarf es darum zwar keiner so reichen und vielseitigen, dafür aber einer viel intensiveren Phantasie, als sie der Künstler benötigt. Und vom Standpunkt des Strebens nach Selbstverwirklichung aus beurteilt, erscheint die Leistung des Staatsmanns, falls sie ganz gelingt, viel großartiger als die des Künstlers: der große Staatsmann kann sich nämlich selber nur realisieren, indem er sich mittels der ganzen gegebenen, von ihm von oben her beherrschten Menschenwelt ausdrückt. Braucht der Maler zum Schaffen nur Stimmung, Leinwand und Farben, so ist jener hilflos ohne Macht und ihm entgegenkommende Konjunktur. Von sich aus schaffen kann er diese nur in sehr geringem Grad. In diesem Sinne sagte Bismarck einmal über historische Größe: Der Mann ist gerade nur so groß wie die Welle, die unter ihm brandet. Um so schwere und gewichtige Materie zu bewältigen, bedarf der Staatsmann unter allen Umständen einer ganz anderen Naturanlage als der Künstler.

Damit wäre das eigentliche Thema dieser Betrachtung erreicht und bestimmt. Doch vor dessen Behandlung sei noch das folgende über die Entsprechungen bei Täter und Künstler gesagt, woraus sich einerseits die Verschiedenheit, andererseits aber die Ähnlichkeit der Lagen beider ergeben wird. Was der eine als schöpferischen Impuls in die Welt setzt, begegnet dem anderen als Atmosphäre der Empfänglichkeit; was dem einen ein-fällt, fällt dem anderen zu. Ist die Stunde eines Staatsmannes um, muss er abtreten von der Bühne der Geschichte, so bedeutet das Gleiches, wie wenn der Künstler keine Einfälle mehr hat, denn das Genie des Staatsmannes ist so verwoben in das kollektive Werden, dass es aus diesem herausgelöst nicht mehr das bleibt, was es war. Napoleon vor der Machtergreifung und nach der Verbannung nach St. Helena war ein ganz anderer als in seiner Kaiserzeit. Im Idealfalle möglicher Beziehung zwischen Mensch und Welt besteht Synchronizität zwischen Innen und Außen, zwischen Initiative und Einfall einerseits und Empfänglichkeit der Welt andererseits. Einen erfolgreichen großen Staatsmann kann es ohne solche Synchronizität aus den schon angeführten Gründen gar nicht geben. Für ihn ist die reale Macht von ausschlaggebender Bedeutung. Der geistige Schöpfer bedarf dieser grundsätzlich nicht. Bei ihm erweist sich sogar Verkannt- und Missverstandensein auf die Dauer als größtes Machtmittel und schneller Erfolg als Hindernis. Dies liegt zutiefst daran, dass der erkennende Geist dem aufnehmenden und verwirklichenden typischerweise um Jahre voraus ist. Geistige Initiatoren sind ihrer Anlage nach immer, auch wenn sie zu so guter Stunde geboren wurden, dass sie Gegenwart gestalten können, Vorläufer, Propheten, und darum ist ihre eigentliche Zeit nicht die selbsterlebte, sondern diejenige nachgeborener Geschlechter. Dies gilt zumal von den Befruchtern, den spermatischen Geistern, über deren Problem der Leser Näheres in der Betrachtung Inspiration und Erziehung finden wird. Waren diese Träger rein geistiger Impulse, dann verlief und endete ihr persönliches Leben freilich häufig tragisch, aber sie fühlten sich nichtsdestoweniger, indem sie im Sinne ihrer Bestimmung ausstrahlten und Samen säten, erfüllt. Anders steht es mit den Spermatikern, welche irdische Verwirklichung meinten. Die blieben, auch von ihrem Standpunkt, zeitlebens Vorläufer und Wegbereiter. Mich hat die Gestalt und das Schicksal Johannes des Täufers immer besonders ergriffen. Der Höhepunkt seines Lebens war der Augenblick, da er einen Anderen, Größeren, welchen er selber nur halb verstand, weihen durfte, und seinen Märtyrertod umstrahlte nicht die Glorie von Golgatha. Aber sind nicht die meisten strebenden Menschen die Johannesse ihrer eigenen geahnten Endgestalt gewesen? Da alles Menschenstreben ins Unendliche hinausweist, kann keiner je in einer vollendeten Gestalt sein wahres Endziel sehen. Darum sind nicht nur die meisten Menschenleben, sondern auch so viele Meisterwerke Torsos geblieben. Auch hierfür bietet Michelangelo das gewaltigste Sinnbild.

Wo nun ein geborener Täter nicht oder nicht mehr handeln kann, dort wird er zum Visionär; er schaut, schreibt, redet, meist freilich schlecht und recht; sterbend verwandelt sich wahrscheinlich alles Menschenleben zur Vision. Doch wie dem auch sei: von hier aus erkennen wir jedenfalls genau, inwiefern der Schauende und der Täter in der Wurzel eins sind. Nun aber können wir auch verstehen, inwiefern sie sich nach verschiedenen Richtungen entwickeln müssen und welches der Sinn ihres Auseinanderwachsens ist. Diesen können wir, bei einer scheinbar äußerlichen Seite des Problems ansetzend, am tiefsten fassen. Jeder rein Kontemplative hat es auf dem Wege zu seinem Ziel als förderlich empfunden, seine erdgeborenen Lebenskräfte zu schwächen, durch Fasten, Wachen, Verzichten auf Lebensgenuss in jeder Form, durch Askese und Abtötung des Fleisches. Umgekehrt ist der Prototyp des reinen Täters der nicht nur mächtige, sondern auch großartige, prachtliebende und genussfreudige König. Das bedeutet, dass zum Tätertum Erd-Kräfte gehören, welcher der Beschauliche zur Erfüllung seiner Bestimmung nicht bedarf.

Hermann Keyserling
Betrachtungen der Stille und Besinnlichkeit · 1941
Leidenschaft und Tat
© 1998- Schule des Rades
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